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Roman

Shalom Auslander – Eine Vorhaut klagt an

Solewasserbehälter BadHall

Ich blickte auf Avrumis leeren Stuhl. Avrumi war ein pummeliger Junge mit schwerer Kieferfehlstellung und üblem Mundgeruch, aber jetzt hatte ich plötzlich großen Respekt vor ihm. Ich überlegte, was er wohl getan hatte, um den Tod seines Vaters zu verursachen. Was es auch war, es musste ziemlich schlimm gewesen sein.

Schon nach den ersten Seiten drängt sich die Frage auf: warum betrachten vom Glauben (im strengen Sinn verstanden) abgefallene Juden ihre Religion mit soviel mehr Humor als „Abtrünnige“ anderer Religionen? Ist der schwarze Humor genauso tief verwurzelt wie die strengen Traditionen, oder entwickelt er sich durch die koschere Ernährung? Oder muss ich mich wirklich mal mit diesem David Safier (Jesus liebt mich) beschäftigen, der ja angelich ganz lustig schreiben soll? Und hat das überhaupt etwas mit Religion zu tun?

Der Autor betrachtet seine Kindheit und seine Entwicklung zu einem eigenverantwortlichen Menschen, der sich tagtäglich mit seiner Religion auseinandersetzt, aus einem äußerst amüsanten und schonungslosen Blickwinkel. Allein die Beschreibung kreativer Streitvermeidungstechniken wie spontaner Comedy-Einlagen oder das routinierte Umstoßen von Gläsern, die er sich angewöhnt hat, um den Vater von irgendeinem Ärger abzulenken, unterhält bestens.

Bin ich der Nächste? Meine Lehrer sagten mir, es sei eine Sünde – zu bestrafen mit dem Tod von oben –, wenn ein Jude das jüdische Volk beschäme, was, wie ich fürchte, diese Geschichten tun. Doch ich atme tief durch und rufe mir in Erinnerung, dass es Aaron Spelling ganz gut geht, und wenn er das jüdische Volk nicht beschämt, dann weiß ich auch nicht.

Von Eltern und Lehrern aufgestellte Regeln werden von Jugendlichen immer in Frage gestellt, welcher Religion sie sich nun auch (mehr oder weniger) zugehörig fühlen. Doch unser Autor/der Ich-Erzähler stellt sich auch ständig die Frage, wie Gott ihn für die begangenen Regelverletzungen und Missetaten bestrafen wird. Typisch Gott. Wer wird sterben müssen, um diese Sünde zu sühnen? Eine gute Woche ist vergangen, welche ausgleichenden Negativereignisse sind nun zu erwarten? Doch schließlich scheint eine Befreiung aus der Denkspirale nicht nur möglich sondern lebensnotwendig.

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Roman

Leon de Winter – Hoffmans Hunger

Handymast im Ernstbrunner Wald, NÖ / made with Cam+

Der echte Schlaf erlöste einen auch von der eigenen Identität und vom eigenen Charakter. Nur Rudimente blieben übrig, während man schlief, ein vages Bewusstsein von einer kreatürlichen Existenz, ohne die unmöglichen Paradoxe des menschlichen Geistes. Zwanzig Jahre war er nun schon ununterbrochen bei sich selbst zu Gast, und er hatte angefangen, den Gastgeber zu hassen.

21 Jahre nach der Erstveröffentlichung in den Niederlanden wirkt dieser Roman aktueller denn je. In die Spionagewirren zur Zeit des Mauerfalls fällt die Geschichte eines Mannes, dessen Leben zu einem verstümmelten Gerüst verkommen ist, das jeden Moment zusammenbrechen kann. Er selbst kann jeden Moment zusammenbrechen. Seine Psyche hat mit dem Tod seiner Töchter unwiderruflichen Schaden genommen. Dass er mit seinem Geist und seinen Erinnerungen nicht mehr klarkommt, äußert sich zusehends auch in körperlichen Problemen. Seit Jahren kann Felix Hoffman nicht mehr schlafen. Seine Nächte verbringt er mit Spinoza und Fressattacken.

Mit Hoffmans Geschichte ist das Leben zweier weiterer Männer verknüpft. Freddie Mancini, ein übergewichtiger Amerikaner auf Europaurlaub, beobachtet durch Zufall die Entführung eines amerikanischen Agenten und wird dadurch zum Ziel des amerikanischen Geheimdienstes. Als ihn nach vielen gemeinsamen Ehejahren seine Frau verlässt, verlangt er eine überraschende Gegenleistung für seine Dienste fürs Vaterland. Sein Gegenüber ist der Agent John Marks. Er hatte vor Jahren eine Affäre mit Hoffmans Frau Marian und trauert ihr noch immer hinterher. So schließt sich ein fantastisches Dreieck an Verbindungen, das sich dem Leser erst nach und nach erschließt und so von Seite zu Seite die Geschichte verwickelter werden lässt.

Beinahe mit Genuss beschreibt Leon de Winter die Einzelheiten der Ess- und Verdauungsstörungen von Hoffman und Mancini. Mancini wird in Prag überfallen, als er spätnachts nach Essen sucht. Seine Gier und sein schwacher Körper machen ihn zum leichten Opfer sowohl für die Räuber als später auch für den gewitzten Agenten John Marks. Hoffman selbst gleicht die Leere in seinem Leben mit seinem nächtlichen Ritual aus. Der Tod seiner Tochter Esther – sie starb im Kindesalter an Leukämie – hat die Familie auseinander gerissen. Ihre Schwester Miriam kommt Jahre später um – drogensüchtig und prostituiert. Felix und seine Frau Marian sind über die Jahre zusammen geblieben, haben jedoch keinerlei Gemeinsamkeiten mehr. Sie wahren die Fassade, um den lukrativen Botschafterposten nicht zu gefährden.

Er tauchte ab unter den Platz und nahm auf einem blitzsauberen Bahnsteig die U-Bahn zum Praterstern, jenseits des Donaukanals, und wartete dort ein paar Minuten, bis sich die Tore zum Volksprater öffneten.

Es gelingt mir in diesem Fall nicht, die Genialität der Geschichte zu erläutern, ohne zuviel zu verraten. Die Lektüre lohnt sich in jedem Fall, auch wenn es zeitweise erschreckend scheint, was der menschliche Geist ertragen kann (oder manchmal auch nicht). Es entfaltet sich nicht nur ein Zeitdokument des Aufbruchs zur Zeit des Mauerfalls sondern auch ein Psychogramm, das eindrucksvoll schildert, wie Tragödien Menschen und ihre persönlichen Lebensumstände verändern.

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Roman

Evelyn Grill – Das Antwerpener Testament

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Ein paar Tage später, zu Ulrichs Geburtstag, tranken sie zusammen Sekt, und Onkel Ferdinand las ihm und Tante Nelli ein Kapitel aus Gogols Tote Seelen vor. Das Buch liebte er besonders, weil die in ihm enthaltene Philosophie sich mit der seinen in vielen Punkten berührte. Er liebte es überhaupt, den jeweils im Häschen Versammelten vorzulesen, mit besonderer Vorliebe aus den Abenteuern des braven Soldaten Schwejk, dessen Humor er so kongenial wiederzugeben verstand.

Eine Familiengeschichte über mehrere Generationen und Familien aus drei Ländern. Nahezu unaufgeregt erzählt die Autorin, wie die Protagonisten vor dem Naziregime aus Deutschland fliehen, wie manche von ihnen es bis nach Amerika schaffen, andere in Amsterdam hängen bleiben, und schließlich wie das titelgebende Antwerpener Testament das Famlienglück nachhaltig torpediert.

Im Zentrum stehen Ann und Ulrich. Die Engländerin Ann verliebt sich in den Deutschen Ulrich. Anns dominante Mutter will es nicht ertragen, dass ihre Kinder ihr eigenes Leben führen und sabotiert die keimende Beziehung zwischen Ann und Ulrich nachhaltig. In Rückblenden erzählt die Autorin, wie die verschiedenen Zweige der Familie sich in unterschiedliche Richtungen entwickeln: Ulrichs Cousine ist mit ihrem Mann nach Amerika ausgewandert, die Inkarnation der sprichwörtlichen bösen Schwiegermutter – Anns Mutter Henriette Stanley – wurde in jungen Jahren von ihrem Bruder mit dem englischen Reeder Stanley verheiratet und hat diesem nicht verziehen, dass er sie in seinem Testament nicht ausreichend bedacht hat. Dieses Testament beschäftigt sie für den Rest ihres Lebens, erst lange nach ihrem Tod kann der inzwischen vereinsamte und gebrochene Ulrich die Familiengeschichte aufdecken.

Immer wieder überrascht der ruhige Erzählstil, mit dem die Autorin Evelyn Grill in ihren Rückblenden selbst dramatischen Szenen wie tödlichen Unfällen die Dynamik nimmt. Sie erzählt die Geschichte nicht im Entstehen sondern in Erinnerungen. Alles ist bereits passiert, nichts lässt sich mehr ändern, der Leser kann nur zur Kenntnis nehmen, was den Protagonisten geschieht, man nimmt keinen Anteil. Teils scheint dies eine geeignete Erzählform für eine Geschichte aus dieser Zeit, die für heutige Generationen gefühlsmäßig ebensoweit zurückliegt wie die Antike. Aber in gewissen Momenten wünscht man sich schon eine Spur mehr Emotion, vielleicht sogar etwas Mitgefühl für die Protagonisten. Die Autorin bleibt erbarmungslos und lässt die Familiengeschichte letztendlich über die Menschen triumphieren.

NOTE: Bei den Bildern handelt es sich um einen Belichtungstest, den ich mit meiner neuen Kamera durchgeführt hab. Spontan entdeckte ich beim Spätheimkommen von der Arbeit ein spannendes Mond-Schatten-Spiel, das ich abzulichten versuchte. Die Bilder sind vom GorillaPod-Stativ aus gemacht, mit Belichtungszeit 1,2,3,4,5,6 und 8 Sekunden. Das letzte Bild ist schon zu verschwommen, weil sich die Wolken schneller bewegten als der Auslöser. Bei 6 Sekunden zeigt sich schon in etwa das Bild, das sich tatsächlich den Augen bot. Leider trotzdem nicht ganz so spektakulär wie die Realität.

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Klassiker Novelle

Jeremias Gotthelf – Die schwarze Spinne

Blick auf die U4-Strecke bei der Station Meidling Hauptstrasse, Wien, Sonnenuntergang, HDR made with Pro HDR

Keiner konnte es wehren; einer nach dem andern schrie auf, von Glut verzehrt, und von des Pfaffen Glatze nieder glotzte sie in den Greuel hinein, und mit dem Becher, der nicht aus seiner Hand wollte, wollte er Pfaffe den Brand löschen, der loderte vom Kopfe herab durch Mark und Bein.

Da mir schon die Einleitung zu dieser Rezension schwerfällt, ein kurzer Blick auf Wikipedia: Jeremias Gotthelf. Ah, ein Pfarrer. Welch Überraschung. Kann man diese Novelle nämlich als Aufruf eines Pfarrers an seine Gemeinde sehen, sich an die Gesetze Gottes zu halten, so erklärt dies einiges und man kann sich entspannt zurücklehnen. Gleich mehrere Generationen müssen der schwarzen Spinne zum Opfer fallen, da sich jeweils nur ein oder zwei Gerechte in einem Meer von schlechten und sündigen Menschen finden. Gerade diese Gerechten sind es wie so oft, denen es zufällt, das Böse in ein Loch zu stopfen und mit einem Zapfen einzusperren, wobei sie leider selbst ihr Leben lassen.

Hier hält sich leider sowohl der Unterhaltungswert als auch der Erkenntnisgewinn in Grenzen. Wenigstens war es kurz.

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Sachbuch

Carol De Giere – Defying Gravity

Sibelius Monument Helsinki

“The problem with musicals”, Stephen Schwartz suggests, “is that you are only as strong as your weakest element. You can have a good show that gets sunk by one performance or an intrusive design element.“ Every artist faces form issues: a painter laments when a painting is poorly framed; an author worries that an unsuitable cover will misrepresent his or her book. For musicals, any number of things can obscure what the writers were trying to communicate: bad casting, distasteful costumes or sets, in appropriate orchestrations, or unappealing choreography.

Schon oft habe ich erlebt, dass Musicals nicht so richtig berühren, wenn man sie nicht auf der Bühne sieht, sondern nur (oder zuerst) auf CD erlebt. Manchmal berühren sie nicht mal von der Bühne aus (wie es mir beispielsweise bei The Woman in White erging). Bei Wicked aber war es für mich Liebe auf den ersten Ton, wenn man so will. Es war das erste Musical, dessen Aufnahme ich aus dem iTunes Store kaufte, wenn ich mich richtig erinnere, hatte ich zuvor Defying Gravity bei einem Soloabend von Maya Hakvoort gehört. So richtig erfassen konnte ich Wicked dann erst im Londoner Apollo Victoria Theatre, ein herrlicher Nachmittag (es war eine 14:30 Vorstellung).

Carol de Gieres Biographie beschäftigt sich nicht nur, aber schwerpunktmäßig mit der Entstehung von Wicked, gleichzeitig ein positiver wie negativer Effekt des Buches. Einerseits freut sich der Wicked-Fan, die verschiedenen Entwicklungsstadien des Musicals nachvollziehen zu können, andererseits kann man von einer ausgewogenen Berichterstattung eben nicht sprechen. Es fasziniert, wo Stephen Schwartz noch überall mitgewirkt hat, ich wusste beispielsweise nicht, dass unterem anderem die Songs zu The Prince of Egypt inklusive dem großartigen When You Believe auch von Stephen Schwartz stammen.

Beim Lesen stellt man fest, dass hier eine großartige Kombination aus Fan-Tum und dokumentarischen Fähigkeiten der Autorin vorliegt. Dass sie Stephen Schwartz offensichtlich zugeneigt ist, tut der Biographie keinen Abbruch, eine kritische Auseinandersetzung will der Wicked-Fan ohnehin nicht lesen und wer sollte sonst zu diesem Buch greifen? Es gelingt der Autorin, zu vermitteln, wie tief Stephen Schwartz im kreativen Arbeiten verwurzelt ist, sie zeigt manche Tricks seiner Arbeit auf, sie hat extra das Element Creativity Notes entwickelt, um seinen Arbeitsprozess zu erläutern und anderen Kreativschaffenden seine Tipps zu übermitteln.

Das Buch bietet einen guten Überblick über das Musicalschaffen von Stephen Schwartz, seine Beiträge auf dem Gebiet der Filmmusik werden ebenfalls erwähnt, allerdings im Vergleich zur detaillierten Analyse der Musicals eher nur gestreift. Gerade die Entwicklung von Wicked, dessen scheinbar endlose Folge von Revisionen wird detailliert erläutert. Ein (ent-)spannend zu lesendes Werk, von dem andere Kreativschaffende zweifellos ebenfalls profitieren können.

There were things that I knew right away. I knew how it was going to begin, I knew how it was going to end, I knew who Elphaba was, and I knew why – on some strange level – this was autobiographical even though it was about a green girl in Oz. Stephen Schwartz

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Roman

T. C. Boyle – Drop City

21 Kahlenberg Straßenbahnmuseum Wien / made with Cam+

There was a murmur from the crowd. All her senses were alive. She didn’t feel faint or nervous or sag, but just eager – eager and vigorous, ready to get on with the rest of her life. She’d waited twenty-seven years and there was no going back now.

Auf den ersten Blick entfaltet sich hier ein Kontrastprogramm. In Kalifornien im Drop City Camp praktiziert eine Hippie-Gruppe freie Liebe, distanziert sich von den Autoritäten, sucht Freiheit durch ein „Zurück zur Natur“. Im Gegensatz dazu sucht Pamela in Alaska einen Mann, mit dem sie abseits von der Zivilisation leben will. In ihren Augen geht die Gesellschaft in die falsche Richtung, sie macht sich Sorgen, um die sittenlose Gesellschaft in den Städten und sieht einen Untergang der Zivilisation in der Zukunft. Star in ihrer Hippie-Einstellung und Pamela in ihrer Suche nach Natur und Einsamkeit – ihre Denkmuster ähneln sich, aber sie leben ihre Vorstellungen vollkommen unterschiedlich aus.

He wasn’t thinking of the meat or even the hide as he eased back on the throttle and reached for the rifle. It was the claws he wanted.

Die Autoritäten holen Drop City ein, Leader Norm Sender entwirft für seine Schäfchen eine traumhafte Zukunft im fernen Alaska, wo ihm sein Onkel eine Hütte vermacht hat. Zufällig die Hütte in direkter Nachbarschaft von Pamela und ihrem frisch gebackenen Ehemann Sess. Während die beiden ihr Eheleben zelebrieren, machen sich die hartgesottenen Drop-City-Anhänger auf den Weg ins ferne Alaska. Ihre Naivität droht ihnen zum Verhängnis zu werden, für den harten Winter sind die sonnenverwöhnten Hippies nicht gerüstet. Stars Freund Ronnie – die beiden kennen sich seit ihrer Jugend und sind gemeinsam in Drop City eingetroffen, doch Star hat mittlerweile in Marco ihre verwandte Seele gefunden – entdeckt nicht nur seinen Jagdinstinkt. Er kann auch dem Kommunenleben zunehmend wenig abgewinnen. Als er erstmals auf einen Bären schießt, diesen aber nur am Ohr streift, sieht man ihn bereits wie Anthony Hopkins in Legenden der Leidenschaft im tiefsten Alaska-Winter in den Armen des Grizzly-Bärs sterben. Doch es kommt anders …

And then she was going to say, And what kind are you? but in that moment it dawned on her that Pamela was just like them. She wasn’t buying into the plastic society, she wasn’t going to live the nine-to-five life in a little pink house in the suburbs and find her meat all wrapped up in plastic for her at the supermarket. She’d done that – worked in an office in downtown Anchorage – and she’d dropped out just as surely as anybody at Drop City had.

In der unwirtlichen Kälte des Alaska-Winters muss die Hippie-Kommune eine neue Art von Zusammenhalt lernen, wohingegen Pamela es schätzen lernt, mit ihrem Mann nicht völlig allein in der Wildnis zu leben und eine Freundin in Kanunähe zu wissen.

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Roman

Salvatore Niffoi – Die barfüßige Witwe

Endstation made with Cam+

„Aber wenn wir alt sind, haben wir uns dann immer noch so lieb wie jetzt?“
„Wir haben uns auch noch lieb, wenn wir gestorben sind, Mintò!“

Es erscheint als bemerkenswerte Ironie, dass es Salvatore Niffoi einerseits gelingt, dieses Versprechen sterben zu lassen und andererseits in der Erfüllung dieses Versprechens andere sterben zu lassen. Es entspinnt sich eine Liebesgeschichte zwischen Mintonia und Micheddu, der im trostlosen Sardinien der Zwischenkriegszeit vom Kleinkriminellen schließlich zum gesuchten Banditen wird. Gegen die Widerstände der Familien heiraten die beiden, versuchen sich in der kargen Landschaft ein Leben aufzubauen. Doch eine Intrige reißt sie auseinander: das Buch beginnt mit dem Tod Micheddus, er wurde ermordet, angeblich in Notwehr. Seine Frau will dies natürlich nicht glauben. In ihrer Lebensbeichte erzählt sie die Entstehung dieser unmöglich scheinenden Liebe, angefangen von ihrer Kindheit über die Heirat und die trostlose Zeit ihrer Ehe, die sie zumeist getrennt verbringen, Micheddus schließlich unleugbar werdende Affären, bis zur Zeit nach Micheddus Tod. Sein zweites Kind trägt Mintonia noch im Bauch.

Nur Blut sag ich in meinen Augen, bitteres Blut, das mir glühend in den Kopf stieg. Tziu Imbeces Ratschläge, das Beispiel von Mannai Gantina, die in ihrem Leben keine einzige Fliege getötet hatte, die Bücher, die ich wie Brot unter den Eichen konsumiert hatte, der Unterricht bei Mastru Ramiro liefen an mir herunter wie Wasser auf den wächsernen Blättern der Steineiche. In mir kochte ein ursprünglicher Hass, der sich von nichts und niemandem bändigen ließ.

Letztendlich lässt sich der Hass nur durch Rache beruhigen. Auge um Auge, so hält es die Familienjustiz in diesen dunklen Tagen in einsamen Dörfern, wo es kaum eine Zukunft gibt, schon gar nicht für Mintonia, die Frau des ermordeten Banditen Micheddu. Ihre Rache erschüttert und berührt zugleich. Eine einfühlsame Geschichte über eine unmögliche Liebe.

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Klassiker Roman

Nikolaj Gogol – Die toten Seelen

Verschiebebahnhof Wien made with CAM+

Überall kreuzt die strahlende Freude lustig all die Leiden, aus denen sich unser Leben zusammenflicht, so wie manchmal eine glänzende Equipage mit goldenem Geschirr, bildschönen Pferden und blitzendem Fensterglas plötzlich unerwartet an einem entlegenen armen Dörfchen vorüberjagt, das nichts kennt außer dem Bauernwagen: lange noch stehen die Bauern mit offenen Mündern da, die Mützen in den Händen, obwohl die wunderbare Equipage längst davongefahren und den Blicken entschwunden ist.

Ein russischer Klassiker. Meine Begegnung mit Anna Karenina ist schon ein paar Jahre her und fand auch unter denkbar ungünstigen Bedingungen statt (aber immerhin weiß ich jetzt, dass ich zwei Wochen herumliegen an einem Strand nichtmal mit Anna Karenina ertrage), aber der Gogol kann da so ganz und gar nicht mithalten. Epische Breite haben sie durchaus gemeinsam und wenn man nach dem Punkt sucht, muss man ganz schön lange suchen.

„Was heißt hier Unschuld! Ich habe sie solche Dinge reden hören, dass ich es, ehrlich gesagt, nicht einmal über mich bringe, sie zu wiederholen.“

Ganz am Ende, wenn man den Punkt gefunden hat, dann ist es natürlich eine klare Kritik am Kapitalismus und am Streben nach Reichtum, der „Held“ Tschitschikow muss erkennen, dass all sein eisernes Sparen, seine dunklen Machenschaften ihm nicht das erhoffte Ergebnis bringen. In epischer Breite beschreibt Gogol auch die herrschende Korruption im russischen Beamtenstaat, man kann bloß den Kopf schütteln, wenn man sich die Beamtenschaft an ihren Schreibtischen vorstellt, wie sie auf das Flattern von Geldscheinen lauschen.

Wie aus einem Rausch erwachten sie und sahen voller Entsetzen, was sie angerichtet hatten. Der Staatsrat ergab sich nach russischer Gewohnheit aus Verzweiflung dem Trunk, der Kollegienrat aber ließ sich nicht unterkriegen.

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Roman

Linda Stift – Kein einziger Tag

Kirnu Linnanmaki Helsinki

Irgendetwas tauchte in meinem Gedächtnis auf wie ein altes Wrackteil, das sich plötzlich aus dem Meer erhebt. Eine Leerstelle. Etwas, das nicht stattgefunden hatte, etwas, das versäumt worden war. Jenny! … Das hatte ich nicht getan. Ich hatte sie praktisch versetzt. Ich hatte sie noch nie versetzt. Mir lief es kalt über den Rücken.

Linda Stift hat nicht davor zurückgescheut, tief in die Psyche ihrer Protagonisten einzutauchen. Jede Menge Konfliktstoff bietet die Beziehung zwischen den Brüdern Paco und Paul. Als siamesische Zwillinge geboren würden sie erst nach mehreren gemeinsamen Lebensjahren getrennt. Zur Freude von Paul, zum Ärger von Paco. Genau wie die Eltern empfinden auch die beiden Buben komplett konträr über die Trennung. Für Paul ist die körperliche Trennung von seinem Bruder die Befreiung und der wichtige Schritt in ein eigenes Leben. Paco hingegen sucht sein Leben lang Bestätigung und die Nähe zu seinem Bruder.

Paco schleicht sich in Pauls Leben ein. Da die Geschichte aus Pauls Sicht erzählt wird, empfindet der Leser den dominanten Paco als Eindringling, jeder würde sich wohl gestört und genervt fühlen, wenn ein Familienmitglied von einem Tag auf den anderen in die eigene Wohnung eindringt und den Lebensraum Stück für Stück annektiert. Und auch Pauls Freundin Jenny scheint in Paco schließlich den besseren Bruder zu sehen, wenn auch der Schein der intakten Beziehung stets gewahrt bleibt.

Als Nebenschauplatz existiert das „Tier“, das Paul im Keller seines Geschäfts hält. Ein verzweifelter Versuch, da er sein eigenes Leben nicht unter Kontrolle hat, irgendetwas zu kontrollieren. Seine Überlegungen, was dem „Tier“ geschehen könnte, sollte ihm etwas zustoßen und er nicht mehr in den Keller gehen können, zeigen einerseits eine gewisse Verbundenheit, andererseits muss der Leser zusehends an Pauls geistiger Gesundheit zweifeln. Vielleicht ist nicht Paco der gestörte Bruder?

Der abschließende Knalleffekt kommt überraschend und ist so undenkbar, dass einem die Vorstellung kalte Schauer über den Rücken jagt und man beim Zuklappen des Buches einen verstörten Gesichtsausdruck trägt. Empfehlung.

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Sachbuch

Holm Friebe, Sascha Lobo – Wir nennen es Arbeit

Stromkugel im Technischen Museum Wien, made with Cam+

Ihre Sprache und ihre E-Mails orientierten sich am Stil des Beat-Poeten Jack Kerouac. Wie nachhaltig der Eindruck der Hippie-Revolte sogar auf die Welt der Hochfinanzen durchgeschlagen hat, zeigt auch ein aktuelles und anekdotisches Beispiel aus England, wo rund 4.000 Investmentbanker und Manager von Hedgefonds sich alljährlich auf einer Wiese bei Knebworth zum „Hedgestock“-Festival treffen. Unter dem Motto „Make money, not war“ feiern sie dort drei Tage lang in Batikgewändern und Blumenkostümen zu Original-Woodstock-Musik.

Ich bin nicht up-to-date. Dieses Buch, diese Hommage an die Internetgesellschaft des neuen Jahrtausends, erschien erstmals 2006, hat also bereits 5 Jahre auf dem Buckel. Im Netz entspricht das wohl eher Jahrzehnten. Heute würde so ein Werk seine Verbreitung vermutlich nur mehr werbefinanziert als eBook finden.

Gerade die deutsche Bloglandschaft spiegelt diese digitale Bohème, die Friebe und Lobo portraitieren, ausführlich wieder. Obwohl nur die wenigsten Mitglieder dieser Gesellschaft tatsächlich von ihren Internetaktivitäten leben können, sympathisieren große Gruppen von Angestellten (speziell in technikaffinen Branchen) mit dem Freiberuflerdasein der Bohèmians. Damals wie heute. Somit findet sich eine ausreichend große Zielgruppe, die sich dieser neuen (?) Subkultur zugehörig oder zumindest verbunden fühlen.

In den ersten Kapiteln erörtern die Autoren die Merkmale dieser Gesellschaft bzw. ihrer Mitglieder und beschreiben mitreißend, wie Lebensmodelle abseits der Norm aussehen können. Im Internet kann jeder seine 15 Minuten Ruhm finden und manchmal entsteht daraus sogar eine erfolgreiche Karriere, von der die Protagonisten sogar leben können. Dazu muss man sagen, dass die Möglichkeiten in diesem Bereich sich in den fünf Jahren, die seit dem Erscheinen vergangen sind, die Vorzeichen doch gravierend geändert haben. Die Geschäftsmodelle ändern sich, die Finanzierung durch Werbung hat signifikant den sauren Beigeschmack verloren. Gerade der iTunes App Store trägt weiter dazu bei, die Gratiskultur zu fördern. Wo sich User manchmal über Spiele beschweren, die für 99 Cents oder 0,79 Euro ohnehin beinahe geschenkt sind, und lieber auf werbefinanzierte Gratisangebote zurückgreifen.

Machen wir uns keine Illusionen über die maximale Reichweite der digitalen Bohème. Es könnten vielleicht ein paar Leute mehr nach ihren Regeln leben und arbeiten, als sich derzeit trauen, aber nicht alle. Wie die alte Bohéme nicht ohne das Bürgertum und seine Mäzene denkbar war, so braucht auch die digitale Bohème ein prosperierendes wirtschaftliches Hinterland, sonst kann sie einpacken.

Beruhigenderweise verkünden die Autoren kein Evangelium (wäre auch sehr unpassend in der zunehmend religionsfeindlichen Zielgruppe der digitalen Bohèmians). Der Müllmann wird niemals freiberuflich tätig sein und frei entscheiden können, ob er den Müll im Stadtteil am Montag oder Donnerstag abholt (oder mal eine Woche gar nicht, wenn er keine Lust hat). Die Prinzipien, die Lebenswelten, die Möglichkeiten, die sich den Angehörigen der Internetkultur bieten, lassen sich nicht auf alle Lebens- und Arbeitsbereiche übertragen, eine funktionierende Infrastruktur wird weiterhin von Firmen- und öffentlichen Strukturen gewährleistet werden müssen. Greifen Sie zu, es sind nur wenige Plätze frei in diesem Boot …

Was Ansätze wie der von Bergmann demonstrieren, ist aber vor allem, dass die Landkarte der zukünftigen Arbeit noch viele weiße Flecken aufweist und mehr Dinge zwischen Himmel, Erde und Internet machbar sind, als sich Politiker trauen, ins Parteiprogramm zu schreiben. Das Wechselspiel aus Technologie, Stadtentwicklung, Kultur, sozialem Wandel und Politik wird Lebens- und Arbeitsformen ermöglichen und hervorbringen, die uns heute noch utopisch erscheinen.

Nach fünf Jahren wäre bereits ein Update, nein, sogar ein völlig neues Werk möglich, das beispielsweise die technischen Aspekte der Cloud-Technologie, politischer Themen wie Datenschutz und Vorratsdatenspeicherung oder wirtschaftlichen Faktoren wie die Weltwirtschaftskrise im Internetkontext behandelt. Aufruf an die Autoren der digitalen Bohème: Es gibt noch viel zu tun.