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Memoir

Sasha Martin – Life from Scratch: A Memoir of Food, Family, and Forgiveness

I’d been waiting to taste it for more than a decade. It wasn’t just a botched dessert. For the first time, that pie showed me who Mom really was, not who I wanted her to be. That pie was her. No matter how much I needed her to be the perfect mother, she could only be human. And though her choices had always been made with the best of intentions, the results spoke for themselves.

Eigentlich wollte ich ja für 2016 keine Reading Challenge machen, mal etwas entspannter lesen, mich Literatur-Geocaches widmen und so weiter. Eigentlich. Dann flog mir über Lithub zu, dass die von mir sehr geschätzte Autorin Ann Patchett nicht nur ihr eigenes Buchgeschäft betreibt, sondern auch einen dazugehörigen Blog. Und darüber fand ich dann die Book Riot Challenge für 2016. Nach einem kurzen Durchscrollen der Aufgaben hatte ich zwei gestrichen und mit den bisher gelesenen Büchern des Jahres auch schon einige Punkte abgedeckt. Und dann fiel mein Auge auf den Punkt Food Memoir.

Erst nach einer Goodreads-Recherche war mir klar, dass dieses Genre für mich bisher nicht existent war. In der Bücherei konnte ich leider nichts Passendes finden. In den USA scheint diese Kombination jedoch deutlich populärer zu sein als im deutschsprachigen Raum.

Sasha Martin beschreibt in ihrem Buch einerseits ihre komplexe Familiengeschichte (Vater nicht präsent, alleinerziehende Mutter mit zwei Kindern jahrelang an der Armutsgrenze, Umzug zu Freunden der Familie, wiederholtes Entwurzelt-werden, Selbstmord des Bruders, Herumirren im Leben bis zum letztendlichen Finden eines Platzes in der Welt und einer eigenen Familie), andererseits die Umsetzung ihrer Idee, Gerichte aus jedem Land der Welt zu kochen. Während des Lesens habe ich selbst Lust bekommen, von der Alltagsküche mal wieder etwas abzukommen und neue Wege zu beschreiten. Auch meine Alltagsküche ist von den Wurzeln meiner Familie durchzogen (Linsen, Spinat, Erdäpfelpüree), hat sich phasenweise sehr in Richtung unterschiedlicher Nudelvarianten bewegt und schließlich mit dem Umstieg auf großteils vegetarische Ernährung eine neue Richtung erfahren. Food Blogs können hier wichtige Impulsgeber sein (Green Kitchen Stories, Esskultur, Die Küchenschabe).

Then I watch as Mom teaches Ava to feel the warm sunshine on the carpet, to teat sheets of paper, to throw balled-up socks into a laundry basket. Mom’s ability to transform everyday objects into toys reminds me that it was her creativity that kept me from realizing we were poor all those years ago.

Die Beschäftigung mit Nahrungsmitteln und ihrer Herkunft möchte ich in meinem Alltag nicht missen, die Entdeckung des Genres Food Memoir ebenso wenig. Darauf beruht nun auch die Entscheidung, das letzte Viertel des Jahres mit der Vollendung dieser Reading Challenge zu verbringen. Es ist wieder an der Zeit, Grenzen zu überschreiten und Neues kennenzulernen.

„You can’t fix it, Sash, any of it. You just have to let this thing happen however it’s going to happen.“

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Roman

Cory Doctorow – For the win

“What’s the sense in giving up so much if it won’t make any difference?”

In diesem Artikel beschäftigt sich Raph Koster mit dem Erfolg von Pokémon Go und den Auswirkungen, die diese virtuelle Realität als Teil der echten Realität auf eben diese echte Realität haben könnte. Der Artikel ist sehr lesenswert, als Beispiel sei hier genannt, dass etwa die Erreichbarkeit eines Pokéstops von einem Café aus diesem Café möglicherweise einen deutlichen Vorteil verschafft gegenüber dem Café, dass nicht mit einem Pokéstop aufwarten kann. Er erklärt auch kurz die Mechaniken der In-Game-Währung, und empfiehlt unter anderem For the win als Gedankenexperiment zum Thema crossover of virtual and real world behavior.

Cory Doctorow demonstriert in diesem Roman eindrucksvoll, wie viel in der digitalen „Welt“ bereits möglich ist. World of Warcraft-Spieler oder Second Life-Benutzer werden jetzt zweifellos milde lächeln. Mein Spiel der Wahl ist bekanntlich Geocaching und auch wenn es auf den ersten Blick nicht so erscheint, hat natürlich auch das Geocaching-Spiel eine finanzielle Seite. Da gibt es einerseits die von Groundspeak vertriebene Premium-Mitgliedschaft, die die Finanzierung der Server, die Weiterentwicklung der Webseite und der dazugehörigen Apps ermöglicht. Andererseits hat sich jedoch auch ein Parallelmarkt entwickelt, auf dem Drittanbieter Zubehör zum Platzieren von Geocaches (Petlinge, Logbücher, etc.), Geocoins und andere Devotionalien verkaufen.

“But people like us get hurt every single day. We get caught in machines, we inhale poison vapors, we are beaten or drugged or raped. Don’t forget that. Don’t forget what we go through, what we’ve been through. We’re going to fight this battle with everything we have, and we will probably lose. But then we will fight it again, and we will lose a little less, for this battle will win us many supporters. And then we’ll lose again. And again. And we will fight on. Because as hard as it is to win by fighting, it’s impossible to win by doing nothing.”

In diesem Roman wird die virtuelle Welt aus vielen unterschiedlichen Blickwinkeln betrachtet. Mala und Yasmin leben im indischen Dharavi, einem Vorort-Slum. Sie spielen in ihrer Freizeit in einem Internet-Café, werden von einem Mann angeworben, für ihn zu arbeiten. Er erteilt ihnen Aufträge, die sie im Spiel ausführen und bezahlt sie dafür. Zuerst freuen sich die Mädchen und ihre sich bald vergrößernde Anhängerschaft an dem überraschenden Reichtum. Doch Yasmin wird bald klar, in welche Abhängigkeit von ihrem Boss sie sich begeben und dass die Charaktere, die sie in game bekämpfen, genauso arme Kinder und Jugendliche sind wie sie selbst.

Dann kommt ins Spiel, dass die Bosse natürlich die Jugendlichen ausnutzen, ihnen einen Hungerlohn bezahlen und die Gewinne selbst einstecken, es gibt keine Krankenversicherung, ein Aussteigen aus dem Team, um sich selbstständig zu machen, wird mit realer körperlicher Gewalt geahndet. Big Sister Nor und ihre Gefährten versuchen daher, die Arbeiter in den Spielen in einer weltweiten Gewerkschaft zu vernetzen. Da die Arbeit in den Spielen weltweit stattfindet, nutzt ein Streik der Game Worker in China nichts, da die Arbeit jederzeit in ein anderes Land ausgelagert werden kann. Ihre Anhängerschaft und ihre Popularität auch außerhalb der Spiele wachsen enorm, sodass es schließlich zu Streiks und den damit verbundenen Repressionen der Polizei kommt.

Zwischendurch lässt der Autor zwei örtlich und gesinnungsmäßig weit voneinander entfernte Ökonomen die Mechaniken der Game-Währung und der damit verbundenen Futures (ganz grob gesagt: Wetten auf Preisentwicklungen) erklären. Für mich war der Finanzmarkt und alle seine Fantasieinstrumente schon lange ein Spiel mit unverständlichen Regeln. Die Erklärungen in diesem Roman haben mir ein ums andere Mal bestätigt, dass es sich um ein Spiel handelt, bei dem reiche Menschen mit und um Geld spielen, auf Kosten derer, die eigentlich die Arbeit leisten.

Wenn man jetzt unbedingt herumkritisieren wollte, dann würde ich sagen, dass ich das Ende nicht sehr befriedigend fand. Irgendwie passt es natürlich dazu, aber ein etwas fahler Nachgeschmack ist mit dabei. Ansonsten fand ich diesen Roman ausgesprochen unterhaltsam, viele interessante Einblicke in unbekannte Welten, soweit ich es beurteilen kann ausgezeichnet recherchiert. Für mich ein Highlight dieses Jahres, absolute Empfehlung.

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Krimi

Wolf Haas – Brennerova

„So ist das Leben.“
„Sellerie!“ Der Tätowierer hat das so pseudofranzösisch auf der letzten Silbe betont, dass sein Lachen in einen kleinen Hustenanfall übergegangen ist.

Tja, wie war das nochmal mit dem Lesen rein zum Vergnügen? Ja, ein Vergnügen ist es natürlich, dem pensionierten Brenner zu folgen, wie er sich wieder mal ungewollt einen Fall eintritt, der eigentlich kein Fall ist oder der sich zumindest nicht auf klassische Weise lösen lässt. Irgendwie bin ich erst ab der Hälfte so richtig reingekommen, aber das ist ja bei Krimis oft so, dass es erst dann interessant wird, wenn der Fall so weit aufgebaut ist, dass sich die ersten interessanten Wendungen ergeben. Die zweite Hälfte hält jedenfalls ausreichend Überraschungen bereit, dass man sich gut unterhalten fühlen darf. Mehr ist es halt dann aber auch nicht.

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Sachbuch

Christian Rudder – Dataclysm

Auf Twitter flog vor ein paar Wochen dieser Link zu einem Artikel von Andrea Diener in der FAZ vorbei. Den Titel finde ich nach wie vor übertrieben reißerisch, das Buch hat mich jedoch sofort interessiert. Zum Glück hatten die Büchereien Wien auch die englische Ausgabe (bereits 2014 erschienen!) auf Lager.

Der Autor Christian Rudder ist einer der Gründer der im englischsprachigen Raum sehr populären Dating-Plattform OKCupid. In diesem Buch zeigt er äußerst detailreich und unterhaltsam, wie man Daten analysiert und daraus Schlüsse zieht.

Schon das erste Kapitel hält für Single-Frauen nur schlechte Nachrichten bereit. Die Kurzfassung: mit steigendem Alter sinkt das Interesse des anderen Geschlechts deutlich. Christian Rudder vergleicht hier eindrucksvoll, was Männer und Frauen sagen mit dem, was sie tatsächlich tun (ein Prinzip, das immer wieder interessante Kontraste aufzeigt). Ein Beispiel: Beim Anlegen des eigenen Profils gibt jeder User an, welches Alter der gesuchte Partner in etwa haben soll. Bei (heterosexuellen) Männern zeigt sich ein eindeutiges Profil (die entsprechenden Grafiken im Buch zeigen das wesentlich besser, als ich es hier beschreiben kann). Die meisten Männer (Alter von 20 bis 50) geben an, eine Frau im Alter von 20-25 zu suchen. Für Frauen ab 40 gibt es ein interessantes Interessensfeld bei jungen Männern im Alter bis etwa 30. Wenn Frauen jedoch die 35 erreicht haben, sind sie nach diesen Angaben für alle Männer ab 30 uninteressant. Autsch. Zum Vergleich zieht der Autor heran, welche Frauen von Männern tatsächlich mittels Nachricht kontaktiert werden. Hier zeigt sich in der Grafik, dass zumeist Frauen in einem Altersbereich von –5 bis +5 Jahren des Alters des Mannes angeschrieben werden, wobei dieser Bereich sich mit zunehmendem Alter des Mannes ausdehnt. Was Männer also tatsächlich suchen, stimmt kaum damit überein, was sie angeben, dass sie suchen.

Der Autor schreckt auch nicht davor zurück, heikle Themen wie etwa Rassismus anzusprechen und zu analysieren. OkCupid bietet unter anderem die Möglichkeit, die Optik anderer Teilnehmer anhand eines Sternsystems zu bewerten. Das tabellarische Ergebnis der nach asian/black/Latina/white gestaffelten Daten zeigt unter anderem, dass Männer durchgängig Frauen bevorzugen, die ihrer eigenen Kategorie entstammen. Bei Frauen ist der Trend ähnlich, jedoch zeigen sie zweitens eine eindeutige Präferenz für weiße Männer. Als Conclusio erläutert Christian Rudder relativ ausführlich, dass selbst die modernen, aufgeschlossenen Internet-User von heute von rassistischen Vorurteilen nicht frei sind. Wir denken (und sagen) von uns, dass für uns jeder Mensch (vom richtigen Geschlecht) als Partner in Frage kommt, aber tatsächlich handeln wir dann doch nach erlernten oder vielleicht sogar genetisch vorgegebenen Vorurteilen.

It is no longer acceptable to be openly racist. In response to that pressure, there s some portion of the public who have therefore slunk away: if I can’t shout hate at some schoolchildren anymore, well, fine, I’ll just shout it at the TV. This is not the typical American. Most of us – almost all, in fact – recognize that racism is wrong. But it is still implicit in many of the decisions we make.

Anderes Thema, aber ähnliches Ergebnis: Bisexualität. OkCupid-Nutzer können beim Erstellen ihres Profils angeben, welches Geschlecht der potentielle Partner haben soll, dabei steht auch die Option bisexuell zur Verfügung. Die Auswertung, welches Geschlecht die Nutzer kontaktieren, zeigt ein völlig anderes Bild. Von allen Männern, die sich in die Kategorie bisexuell einordnen, kontaktieren 44% nur Männer, 41% nur Frauen und nur 15% kontaktieren andere Nutzer beiderlei Geschlechts. (Bei bisexuellen Frauen ist die Richtung ähnlich, jedoch nicht ganz so eindeutig.) Daraus lässt sich schließen, dass nur ein sehr kleiner Prozentsatz an Menschen Partner beider Geschlechter akzeptiert, tatsächlich zeigen 85% der Männer eine deutliche Präferenz für das eine oder das andere Geschlecht.

That said, who we say we are and how we behave are two separate things, and the latter shouldn’t automatically disqualify the former.

Neben den vielen optisch ansprechenden und gut erklärten Grafiken hat mir auch das Layout dieses Buches extrem gut gefallen. Gerade im Vergleich zu einem extrem scheußlich gestalteten Lehrbuch, das ich mir letzte Woche ausgeliehen habe, zeigt sich, wie man auch bei einem Buch das hauptsächlich aus Text besteht, mit der Auswahl der Fonts und der Gestaltung der Headlines und anderen Elemente einen komplett anderen Eindruck erwecken kann. Das Thema des Lehrbuchs interessiert mich auch, aber ich nehme es wesentlich weniger gerne zur Hand, weil es diesen altmodischen und angestaubten Look hat. Sollte für mich als Grafikerin keine Überraschung sein, fand ich aber in diesem extremen Kontrast doch bemerkenswert. Im Ganzen also ein sehr schönes und spannendes Buch mit vielen interessanten Einblicken in Statistik und Datenanalyse. Für mich bisher das Sachbuch des Jahres! Obwohl ein weiteres Buch von Oliver Sacks jetzt auch auf meiner Leseliste steht …

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Kurzgeschichten

Ursula März – Für eine Nacht oder fürs ganze Leben

Einsamkeit spaltet das Zeitempfinden: Die Stunden und die Tage dehnen sich zu lang, die verbleibenden Jahre erscheinen zu kurz, um doch noch einen Umsturz herbeizuführen.

Via Lithub schaffte es dieses Buch auf meine Leseliste. Der clever gewählte Titel wiederum schaffte es, mir etwas vorzugaukeln, was das Buch eigentlich nicht einlöst. Große Dramen, große Liebesgeschichten hatte ich mir vorgestellt. Tatsächlich sind Ursula März’ Geschichten so nahe an der Realität, dass sie dann doch mehr berühren, als es die großen Dramen vielleicht gekonnt hätten. Gerade heute hatte ich den Gedanken, dass Rose und Jack, die Protagonisten aus Titanic, wohl kaum so ein berühmtes Liebespaar geworden wären, wäre er nicht beim Untergang ertrunken. Sie hätten sich vermutlich auch darüber gestritten, wer den Müll hinunterbringt oder wären am Unterschied zwischen ihren Gesellschaftsklassen gescheitert.

Ähnliche Themen finden sich auch in diesem Buch. Die Autorin erzählt in fünf Geschichten von fünf Charakteren, lässt jedoch auch viele eigene Erlebnisse einfließen. Wieviel wahrer Kern darin steckt, lässt sich natürlich trefflich spekulieren, doch die Geschichten lesen sich so lebensnah, dass jeder sofort selbst an seine Jugendliebe denken muss. Die erste Geschichte über einen Mann, der sich via Seitensprung-Agentur auf eine Frau einlässt, die auf anderem Wege niemals sein Typ geworden wäre, hat mich nicht besonders mitgerissen, die zweite Geschichte über eine pensionierte Postbeamtin, die sich noch bis zum 70er Zeit gibt, um einen Mann zu finden, jedoch umso mehr. Sie kämpft damit, sich auf das Unbekannte einzulassen und aus ihrem persönlichen einsamen Trott zu entkommen. Sie ist überzeugt, es zu wollen und tut doch eher das Gegenteil, verschenkt ihre Chancen und fürchtet sich vor dem Blick über den Tellerrand. Das Ende der Geschichte zeigt eine neue Frau anhand des Symbols einer Zuckerdose – ein überzeugendes Bild der Veränderung.

Die zweite Geschichte, die mich besonders ansprach, hat ebenfalls eine Frau zur Protagonistin. Eine Lebenskünstlerin, die niemals zögert, eine Frau, die weiß, was sie will und auch weiß, wie sie es bekommt und wenn es damit mal nicht klappen sollte, einfach aufsteht und weitermacht. Eine Frau, wie wir alle gern mal sein möchten. Sie entscheidet sich jedoch für den unkonventionellen Weg, ihre kubanische Urlaubsliebe heiraten und in Deutschland gemeinsam leben zu wollen und sieht sich mit allen möglichen Schwierigkeiten konfrontiert. Die Einreiseformalitäten und Beweise, dass es sich nicht um eine Scheinehe handelt, machen hiervon nur einen kleinen Teil aus. Noch viel mehr kämpft sie mit dem Misstrauen ihres Umfelds, dem ständigen Warten auf ihr Scheitern, dem Zweifeln an ihrer Liebe, das sie schließlich selbst zum Zweifeln bringt. Kann selbst die größte Liebe diese Umstände aushalten? Oder wie es die Autorin an einer Stelle formuliert: war es das wert?

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Roman

Paulus Hochgatterer – Wildwasser

Weißt du, sagte ich zu ihr, was mein Vater einmal zu mir gesagt hat, als wir vom Fußweg aus die Lammeröfen besichtigten? Manche springen da hinunter, hat er gesagt, und sind tot, und manche springen nicht hinunter und sind auch tot.

Dieses (für mich) dritte Werk von Paulus Hochgatterer beschäftigt sich wiederum mit einem Jungen, der mit seiner Gesamtsituation unzufrieden ist. Der Verlust des Vaters lässt ihm keine Ruhe, Mutter und Schwester sind ihm fremd. Zurückgeblieben ist nur ein Paddel, das Jakob nun an sein Fahrrad schnallt, um sich auf die Suche nach dem vermissten Vater zu begeben. Auf seiner Tour landet er schließlich im Pfarrhaus eines Kaplans, bei dessen griesgrämiger Mutter und einem Mädchen, das selbst einiges durchgemacht zu haben scheint. Auf diesem verwinkelten Pfad kommt Jakob der Lösung des Rätsels schließlich näher.

Irgendwie hatte ich bei diesem Buch echt das Gefühl, ich würde mal gerne wieder etwas nur zum Spaß lesen. Die psychischen Abgründe sind spannend und es schadet sicher nicht, sich mit Ängsten und Gefühlen auseinanderzusetzen, aber irgendwann ist es dann auch wieder mal genug.

Wenn man sich für Hochgatterers abgründige Ausflüge ins dunkle Land der Seele (aus dem Klappentext) interessiert, würde ich am ehesten Caretta Caretta empfehlen. Trotz der scheinbaren Abgebrühtheit des Protagonisten spürt man eine emotionale Fallhöhe, die sich am Ende in einem stimmigen Finale auflöst. Eigentlich ist ihm das auch bei Wildwasser gelungen. Aber für meinen Geschmack bleiben zu viele Fragen offen.

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Kurzgeschichten

H. C. Artmann – How much, Schatzi?

Ein kuß in ehren konzipiert wird zum blindwütigen geilbiß, veranlaßt den schrei einer bislang makellos gebliebenen Jungfrau, schnellt einen ruhenden jäger aus haferlschuh und hose, verursacht den waidwidrigen tod eines sonnenhungrigen hasen, überflort die frühlingsfreude einer freundlichen witterung, verstummt das wimmerrohr eines fröhlichen waldfreaks, verkehrt ein idyll aus warmem licht und heitrem junglaub in eine garstige gehenna, in ein scheol aus wohlstandsmüll und zähneklappern, ja gar nicht zu denken an die malträtierten mannen eines längstdahingehuschten grottenklausners aus hehrer zeit!

Wie letztens schon dieses Artmann-Werk diente dann auch diese Geschichtensammlung zur Lösung eines Mystery-Caches. Truth be told: Aus anderen Gründen hätte ich dieses Buch wohl kaum gelesen. Mit diesen Geschichten, die jede Realität Lügen strafen, um der Wahrheit näherzukommen (Klappentext), konnte ich auch nicht mehr anfangen als mit den Mythen aus Lappland. Hier beschäftigt sich Artmann hauptsächlich mit den Abgründen der Menschheit, Gier, Lust, Macht, Betrug, … Seine Protagonisten haben kaum je eine gute Eigenschaft, Spritzer von Höflichkeit gegenüber Höhengestellten sind da schon das Höchste der Gefühle. Horizonterweiterung.

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Roman

Douglas Coupland – Miss Wyoming

“I never thought of it that way. Yes. No. You mean, there’s some other way to live?”

Dieses Buch weckt wieder meine Neigung, mehr über die Geschichte zu schreiben, wie es dazu gekommen ist, dass ich es gekauft habe, anstatt über das Buch selbst. In diesem Fall liegt es an der Unmöglichkeit, den Inhalt zu beschreiben, der komplex und komplex erzählt ist.

Auf den ersten Seiten treffen sich Susan und John in einem Restaurant irgendwo in Kalifornien. Das erste Kapitel erzählt ihre Begegnung und ihr erstes Gespräch, das unter anderem das Zitat ganz oben enthält. Die weiteren Kapitel sind jeweils Rückblenden in die Vergangenheit der beiden Protagonisten und erzählen unter anderem von Susans Kindheit als von ihrer ehrgeizigen Mutter auf Erfolg gedrillte Schönheitskönigin, Johns Ausstieg aus dem Filmbusiness und seine anschließende Zeit auf der Straße und eine Episode aus Johns Kindheit, die beispielhaft einen Blick auf die Entwicklung seiner Persönlichkeit werfen lässt:

The year he spent in bed was certainly the longest of his life. When he was older and met other people who had accomplished great things during their stints on earth, he found that invariably, somewhere in their early youth, they had felt the experience of death or incapacity burned into them so deeply that ever afterward they gambled with all their chips, said fuck it, went for broke in the sound knowledge that wasting life is probably the biggest sin of all.

Die Rückblenden sind kompliziert verwoben und gehen an einem Punkt in die Gegenwart über. John versucht Susan zu erreichen, doch sie scheint verschollen, worauf er sich mit Hilfe des Videoverleih-Angestellten Ryan und dessen Nerd-Freundin Vanessa (ein Charakter, der zugleich übertrieben klischeebehaftet und liebenswert ist) auf die Suche nach ihr macht. Susan selbst ist auf der Suche nach jemand anderem.

“Randy, look at me, okay? It’s all lies, Randy. All of it. Not just me. Chris. Them. Whoever. Everybody. Everything you read. It’s all just crap and distortions. All of it. Lies. That’s what makes the lies you spread so funny, Randy. They’re honest lies.”

Zwischen den Zeilen versteckt sich jede Menge geschickt formulierte Kritik an der Unterhaltungsgesellschaft und der Industrie, die sie füttert. Susans Karriere als Schönheitskönigin, ihr anschließender kurzfristiger Erfolg im TV-Business, Johns frustrierter Ausstieg aus eben dieser Branche sind deutliche Wegweiser aus der (Fernseh-)Welt der Lügen hinein ins wirkliche Leben.

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Roman

Alexandra Tobor – Minigolf Paradiso

Wer Kobolde heraufbeschwört, darf sich nicht wundern, wenn ein kleiner Metal-Troll dabei rausspringt.

Einer meiner liebsten Unterhaltungspodcasts ist Die Wrintheit von Holger Klein und Alexandra Tobor. Sehr gut unterhalten hat mich dann auch Alexandra Tobors zweiter Roman Minigolf Paradiso. Seit Langem habe ich mal wieder ein Buch gekauft, nur um der Autorin mal extra etwas zurückzugeben für die vielen unterhaltsamen Stunden.

Die Geschichte ist ein wilder Road Trip mit allerlei Irrungen und Wirrungen. Die jugendliche Malina hadert mit ihrer Mutter, die die polnische Herkunft verleugnet und die Familiengeschichte unter den Teppich kehrt. Als die Eltern auf Urlaub fahren, entdeckt Malina auf einer alten Videokassette einen Hinweis auf den möglichen Aufenthaltsort des totgeglaubten Großvaters. Mangels anderer Verpflichtungen macht sie sich auf, die Familiengeschichte selbst aufzudecken und etwas über ihre Herkunft herauszufinden. Auf der Reise trifft sie Elvis, riesige Plüschbären, Metal-Trolle, verständnisvolle Nonnen und zuletzt auch den Cousin, mit dem sie als Kind vor dem Auswandern gespielt haben soll.

Truth be told: Am meisten Spaß dürften diejenigen mit diesem Buch haben, die jetzt Mitte 30 sind und ihre Jugend in den 90er-Jahren verlebt haben. Das Buch ist gespickt mit Trivia aus der Zeit, die im Betreuten Lesen noch zusätzlich mit weiteren Details ergänzt werden. Bei mir hat der Nostalgiefaktor voll eingeschlagen und in Kombination mit dem flüssigen, originellen Schreibstil liest sich das Buch wie eine Tafel Trauben-Nuss-Schokolade. Empfehlung!

„Dann weißt du ja, dass es manchmal besser ist, irgendwas zu wissen, als gar nichts. Ganz egal, ob es stimmt oder nicht. Das Leben ist zufällig und chaotisch. So etwas wie einen Sinn gibt es nicht. Aber das ist eine sehr grausame Erkenntnis. Sie kann uns in den Wahnsinn treiben. Wenn ich den Leuten Sagen erzähle, die sie mir ihren Ahnen verbinden, gebe ich ihnen ein kleines Stück Kontrolle über ihr Leben zurück.“

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Biografie

Malte Prietzel – Jeanne D’Arc

Ursprünglich hatte ich mir dieses Buch als Material für ein potentielles Projekt ausgeliehen. Als es dann vier Wochen unangetastet herumgelegen war, wurde mir klar, dass es für dieses Projekt wohl doch nicht genug Interesse und Energie in mir gibt. Lesen wollte ich es aber trotzdem noch.

Verständlicherweise würde Gott nur zu solchen Menschen sprechen, die seine Gebote befolgten und ein vorbildliches Leben führten. Echte Propheten fluchten also nicht, sie waren fromm und bekannten sich zu ihrem Glauben in Wort und Tat, sie waren sexuell allenfalls mit ihrem Ehepartner aktiv oder, besser noch, sie lebten enthaltsam. All das traf auf Jeanne zu.

Diese Biografie zeichnet ein ausführliches Sittenbild des Frankreich des fünfzehnten Jahrhunderts. Der Autor erklärt verständlich, wie es dazu kommen konnte, dass ein Bauernmädchen als Kriegsherrin und Prophetin verehrt wurde. Entscheidend dafür war die damalige Religionsauffassung. Jeanne hatte Visionen, sie hörte Stimmen, die sie für die Stimmen von Heiligen hielt. Diese befohlen ihr, die Engländer aus dem teilweise eroberten Frankreich zu vertreiben und Karl VII. zur Königsweihe zu führen. Der oben zitierte Absatz erklärt, warum Jeannes Prophezeiungen schließlich Glauben geschenkt wurde. Hätte irgendjemand Zweifel an ihrer Jungfräulichkeit beweisen können, wäre ihr Leben sicherlich anders verlaufen. Sie glaubte unerschütterlich daran, dass sie auserwählt war, auf Erden Gottes Recht durchzusetzen.

An ihrer Rolle bei der Beendigung der Belagerung von Orléans zeigt sich auch, welche Wirkung sie auf die Bevölkerung hatte. Jeanne war keine Kriegerin, sie verstand nichts von taktischer Kriegsführung, jedoch war sie für die Menschen ein Symbol. Sie trug furchtlos ihre Standarte heran und machte damit den Soldaten und der belagerten Bevölkerung Mut.

Es ist durchaus möglich, dass die französischen Truppen die Belagerung auch ohne Jeanne hätten beenden können. … Aber ohne Jeannes Drängen und ihr Vorbild im Kampf wäre Orléans wohl später befreit worden. Womöglich hätten die französischen Hauptleute so lange gezögert, dass die Stadt kapituliert hätte.

Bei einer so lange zurückliegenden Lebensgeschichte widersprechen sich natürlich viele Quellen. Der Autor versäumt es jedoch nicht, die Aussagen der Zeitzeugen auch anhand ihrer eigenen Interessen zu bewerten und einzuordnen.

Nach Jeannes Gefangennahme wird sie von der gegnerischen Partei als Ketzerin angeklagt. Dieser Prozess wird sehr genau beschrieben, die damaligen Rechtsgelehrten scheinen sich große Mühe gegeben haben, Jeanne auf einer angemessenen Rechtsbasis auf den Scheiterhaufen zu bringen (…). Der Rehabilitationsprozess 25 Jahre nach ihrem Tod diente hingegen nur dazu, den inzwischen über ganz Frankreich herrschenden König vom Verdacht freizusprechen, mit einer Ketzerin im Bunde zu sein. Für ihre Gegner und Nutznießer war Jeanne also nur eine Figur auf dem politischen Schachbrett. An ihren eigenen Ziele und Überzeugungen hielt sie jedoch bis zum letzten Moment fest.