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Roman

Monika Held – Der Schrecken verliert sich vor Ort

Es war schwer, dieses Buch zu lesen und es ist schwer, darüber zu schreiben. Gleichzeitig ist es wichtig, sich daran zu erinnern. Gerade in diesen Zeiten, in denen Trump-Anhänger den Judenhass neu aufflammen lassen, ist es wichtig, sich daran zu erinnern, welche Greueltaten in der NS-Zeit in Konzentrationslagern verübt wurden. Von Menschen. Von Menschen, die ein Leben hatten, die Kinder hatten, die genausogut auf der anderen Seite hätten landen können.

An dieser Stelle sei verwiesen auf die Frage, ob man intolerante Menschen und deren Einstellungen tolerant behandeln sollte.

Die Autorin erzählt in diesem Buch von den Überlebenden. Wie sie es schaffen, mit den Schuldgefühlen zu leben, weil sie überlebt haben. Wie es ihnen gelingt, weiter zu kämpfen, obwohl sie ihre Kräfte in der Zeit im Konzentrationslager aufgebraucht haben könnten. Von Menschen, die verbittert sind, aber auch von Menschen, die immer noch an das Gute glauben.

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Roman

Bernard Cornwell – Der Flammenträger

Wenn wir jung sind, sehnen wir uns nach dem Kampf. Wir sitzen im Palas um das Feuer und lauschen den Heldenliedern; wie sie ihre Widersacher zu Fall brachten, den Schildwall aufbrachen und ihre Schwerter im Feindesblut badeten. Als Jünglinge lauschen wir dem Geprahle der Krieger, hören ihr Lachen, wenn sie sich die Schlacht ins Gedächtnis rufen, und ihr stolzes Gebrüll, wenn ihr Herr sie an einen schwer errungenen Sieg erinnert.

Sommerzeit, Urlaubszeit und keine Zeit zum Lesen. Zwischen sich in den Juli hinein verlängerndem Arbeitswahnsinn, umfangreichen Urlaubsvorbereitungen und den klausurrelevanten Leseinhalten konnte ich gerade so stückchenweise den neuesten Band der Uthred-Reihe dazwischen quetschen. Auch wenn sich darin wenig Neues findet, enthält dieser Band ein Highlight, auf das die Leser seit Jahren warten. Mehr wird nicht gespoilert.

Das Denken löst sich auf, die Angst regiert, und dann wird der Befehl gerufen, den Schritt zu beschleunigen, und du rennst, stolpernd vielleicht, aber du bleibst in deiner Reihe, denn dies ist der Augenblick, auf den du dich dein Leben lang vorbereitet hast, und dann, zum ersten Mal, hörst du das Donnern, mit dem zwei Schildwälle aufeinandertreffen, das Klirren von Kampfschwertern, und das Schreien beginnt. Um niemals zu enden.

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Kurzgeschichten

Etgar Keret – Die sieben guten Jahre

Wenn ich versuche, die Gutenachtgeschichten zu rekonstruieren, die mir mein Vater vor Jahren erzählt hat, wird mir klar, dass sie mir über ihre faszinierenden Handlungsverläufe hinaus etwas haben beibringen sollen. Etwas über das fast schon verzweifelte menschliche Bedürfnis, das Gute auch noch an den unwahrscheinlichsten Orten zu finden. Etwas über die Sehnsucht, nicht etwa die Wirklichkeit schöner zu machen, sondern nicht darin nachzulassen, nach einer Perspektive zu suchen, die die Hässlichkeit in besserem Licht erscheinen lässt und Zuneigung und Mitleid weckt für jede Warze und Falte auf ihrem vernarbten Gesicht.

Etgar Keret wurde mir damals empfohlen und seine absurden Geschichten haben mir großen Spaß gemacht. In seinem aktuellen Buch sind die Geschichten (teilweise) weniger absurd, aber dafür umso persönlicher. Er schreibt über seine Beziehungen zu seiner Frau, zu seinem Vater, zu seinem Sohn, zu anderen Familienmitgliedern. Auch Taxifahrer spielen immer wieder eine Rolle. Er lässt seine durchwegs positive Lebenseinstellung durchblicken und gibt zwischen den Zeilen Tipps, wie man im Leben besser (oder schlechter) zurecht kommt, wie man Menschen begegnen kann, die anders sind als man selbst, wie man tolerant durchs Leben gehen kann, ohne sich selbst zu verleugnen. Lebenshilfe in einer Form, wie wir sie alle brauchen können.

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Erfahrungsbericht

Heike Geißler – Saisonarbeit

Es gibt alles, falls das noch Ihre Frage sein sollte. Es gibt wirklich alles, und man kann es kaufen.

Die Autorin beschreibt eine Episode ihres Lebens, in der sie für einige Wochen als Saisonarbeiterin bei Amazon im Warenlager arbeitete. Vom seelenlosen Vorstellungsgespräch über ständige Erkältungen wegen eines schlecht schließenden Tors, das im tiefsten Winter nicht repariert wurde, bis zu ihrem freiwilligen Abbruch des Dienstverhältnisses beschreibt sie die unfairen Arbeitsbedingungen und die schlechte Behandlung durch die Vorgesetzten.

Als ich diese Empfehlung von Lithub auf die Liste setzte, hatte ich mir irgendwie etwas anderes vorgestellt.

Why translate it? Are you kidding? When did you last read political writing as playful and at the same time serious as this?

Es ist tatsächlich eine sehr geschickte Taktik, den Leser selbst in ihre Position zu holen und ihn in die langweilige Arbeit hineinzuversetzen. So flüssig, dass ich es an einem langen lauen Sommerabend in einem durchgelesen habe. Und ja, auch gesellschaftskritisch. Die Autorin beschreibt auch umfangreich das soziale Stigma, das einerseits mit Hilfsarbeiterjobs wie diesem verbunden ist, aber noch viel mehr mit der Arbeitsagentur (in Österreich das Arbeitsamt).

Was kann einer tun, der immerzu arbeiten oder bei der Agentur vorsprechen muss, was kann einer, in Anbetracht dessen, dass man nun einmal Geld braucht, eigentlich tun.

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Roman

Neal Stephenson – Cryptonomicon

Fast 1.200 Seiten und jetzt weiß ich nicht, was ich darüber schreiben soll. Eine unglaublich ausführliche Geschichte über mehrere Jahrzehnte, die Kapitel springen zwischen unterschiedlichen Perspektiven in unterschiedlichen Zeitzonen herum, zu Beginn ist es schwierig, den Überblick zu bewahren. Mit der Zeit findet sich die Leserin einfacher zurecht, der Autor verwendet auch leicht unterschiedliche Schreibstile für die unterschiedlichen Personen in ihren vollständig verschiedenen Lebenslagen. Richtige Sympathien haben sich bei mir beim Lesen nicht eingestellt, zu weit weg erschienen mir die abgehobenen Probleme sowohl der Techniker, die zuerst nur mit einer neuartigen Idee schnell reich werden wollen, als auch der Soldaten und Generäle im Krieg, die stets nur die Zerstörung und/oder das Gold im Blick haben.

Auch wenn ich inzwischen der ganzen E-Book-Technologie spektisch gegenüberstehe (wegen der Datenschutz-Probleme), zeigt sich hier ganz deutlich, warum der E-Book-Reader doch eine gute Erfindung war. Einen Papier-Wälzer von 1.200 Seiten kann man beinahe nur in liegender Position lesen.

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Biografie

Erni Mangold – Lassen Sie mich in Ruhe

Das Selbstbewusstsein ist trügerisch. Es macht uns vor, es ist da, aber es ist ein Leben lang ein wackliges Gerüst. Das Wackeln finde ich gar nicht schlecht, denn nur daraus lernt man, weiß, wer man ist, und was man kann.

Etwa in der Zeit, als ich die Susi-Nicoletti-Biografie gelesen hatte, spülte mir die Twitter-Timeline dieses Interview mit Erni Mangold in die Timeline. Ich hatte sie schon vorher als interessante Persönlichkeit wahrgenommen gehabt, dieses Interview machte mich dann aber endgültig neugierig auf ihre Lebensgeschichte.

Im Buch spiegelt sich dann – wie im Interview – sehr gekonnt ihre Persönlichkeit und ihre allgemeine Einstellung zum Leben wider. Nicht zu viel nachdenken, einfach machen. Das Leben nehmen, wie es kommt, und dann das Beste daraus machen. Nicht zu oft fragen, was andere denken, sondern danach handeln, was man selbst für richtig hält. Nach den Sternen greifen und trotzdem am Boden bleiben. Natürlich ist das hier verkürzt dargestellt, aber die Langversion findet sich eben im Buch. Der Leser erlebt eine gereifte Persönlichkeit, die Krisen durchgestanden und daraus gelernt hat. Nicht das schlechteste Vorbild, das ich mir ausdenken könnte.

Oberflächlichkeit spielt in dem Zusammenhang übrigens eine wichtige Rolle. Eine gewisse Oberflächlichkeit in dem Sinn, nicht alles an sich heranzulassen, sondern einmal gekonnt zu ignorieren, nicht wahrzunehmen, hilft durch schwierige Zeiten.

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Memoir

Ariel Levy – The Rules Do Not Apply

Every so often, I like to break up my stack of fiction and throw in a memoir by a real person reflecting on real life — preferably by a fantastic, unflinching writer, which Ariel Levy is.

Parnassus-Empfehlung

Seit ich im Rahmen der letzten Reading Challenge das Genre Memoir entdeckt habe, interessieren mich echte Lebensgeschichten beinahe mehr als erfundene. Es hat vielleicht mit einer Suche nach Vorbildern zu tun, nach Menschen, die in irgendeiner Form aus der Normalität herausfallen, trotzdem etwas aus ihrem Leben machen und dann darüber berichten. Die gesellschaftlichen Normen haben sich in den letzten Jahrzehnten sehr verändert (Risikogesellschaft). Natürlich gibt es noch das vorherrschende Bild der normalen Familie, auf immer mehr Menschen trifft es jedoch nicht mehr zu. Neue Lebensformen entwickeln sich täglich und vermutlich orientiert sich jeder Mensch bis zu einem gewissen Grad an den Vorbildern anderer. Es braucht also auch Vorbilder für nicht mehrheitsfähige Lebensformen.

Daring to think that the rules do not apply is the mark of a visionary. It’s also a symptom of narcissism.

Dass es bei solchen echten Lebensgeschichten kein Happy End gibt, kann gleichzeitig eine gute wie auch eine schlechte Sache sein. Bei diesem Buch hatte ich das untrügliche Gefühl, dass es nur ein Lebensabschnitt war, der hier beschrieben wird und dass die Autorin noch viel mehr vor sich hat, als sie beschreibt. Ein Gefühl, dass sich bei keiner Autobiografie – oder eben amerikanisch Memoir – vermeiden lässt. Erst wenn die Person tatsächlich tot wäre, ließe sich ein ganzes Leben beschreiben, dann kann die Person aber nicht mehr selbst davon erzählen. Catch-22.

We want intimacy and autonomy, safety and stimulation, reassurance and novelty, coziness and thrills. But we can’t have it all.

Die Autorin beschreibt ihr Leben bis zu einem großen Einschnitt, durch den alles, was sie sich aufgebaut hatte, mit einem Schlag vernichtet wird. Sie erzählt selbst von den (vermutlich) schlimmsten Momenten ihres Lebens in einer Klarheit, einer Art emotionalen Distanz, die dem Geschehen scheinbar die Schwere nimmt. Das zeugt entweder von einer intensiven therapeutischen Auseinandersetzung mit den Ereignissen oder von großem literarischen Können. Oder beidem.

And it had certainly never crossed my mind that my reaction – my suffering – was mine: something I had come up with, not something I needed to blame on anyone else.

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Sachbuch

Ulrich Beck, Elisabeth Beck-Gernsheim – Fernliebe

Die Beiträge zur Gesellschaftstheorie, die heute international die größte Aufmerksamkeit finden, folgen einem anderen Muster. Ihr Ziel ist es, angesichts eines Chaos sozialer Ereignisse und Phänomene, die uns überrollen, einen konzeptionellen Orientierungsrahmen zu schaffen mit den Mitteln einer generalisierten Diagnose der sich rapide verändernden gesellschaftlichen Verhältnisse.

Im Rahmen der Auseinandersetzung mit Ulrich Becks Risikogesellschaft ist mir dann auch dieses Buch in die Hände gesprungen, das zum Glück deutlich einfacher zu lesen war. Die Autoren entwerfen hier das soziologische Konzept der Weltfamilien und erläutern in unzähligen Variationen, wie solche Weltfamilien entstehen, was sie von traditionellen Familien unterscheidet und mit welchen Schwierigkeiten sie zu kämpfen haben. Dabei werden auch viele gesellschaftliche Entwicklungen der vergangenen Jahrzehnte gestreift, deren Zusammenhänge für den Nicht-Soziologen oft nicht auf der Hand liegen.

…, den verschiedenen Varianten von Weltfamilien ist eines gemeinsam, eine Irritation: Sie passen nicht zusammen mit unseren bisherigen Vorstellungen von dem, was den Charakter der Familie ausmacht, was zur „Natur der Familie“ gehört, immer und überall. Sie stellen einige unserer vertrauten, als selbstverständlich vorausgesetzten Grundannahmen von Familie in Frage.

Die Themen sind fast ausschließlich solche, die sehr polarisierende Gefühle hervorrufen. Zum Beispiel Heiratsmigration gibt es etwa sehr reißerische Medienberichte, die das schlimme Schicksal von Frauen ausschlachten, die in der Hoffnung auf ein besseres Leben als Katalogbräute in ein westliches Land verschachert werden. Selten wird jedoch hinterfragt, welches Leben diese Frauen führen würden, wären sie in ihrem Herkunftsland geblieben.

Eine andere Art der Weltfamilie bilden Familien, in denen ein oder sogar beide Elternteile im (reicheren) Ausland arbeiten, um die zurück gelassenen Kinder zu ernähren. Ihren eigenen Kindern entfremdete Mütter kümmern sich als Kindermädchen um die Kinder reicher Eltern, damit diese ihrem Beruf nachgehen können. Diese reichen Familien können sich dabei noch der Illusion hingeben, einen Beitrag zur Entwicklungshilfe zu leisten.

„Appetit wird geweckt von der Möglichkeit“, hat der Technikphilosoph Hans Jonas schon vor Jahrzehnten gesagt. Dies belegt die gegenwärtige Expansion des Kinderwunsches. Mit der Pluralisierung der Lebensformen erweitert sich die Klientel der Reproduktionsmedizin.

Die Möglichkeiten und Folgen der Reproduktionsmedizin hat Ulrich Beck schon in Risikogesellschaft besprochen. Hier werden noch detaillierter die Entwicklungen im Bereich Familie beleuchtet. Die Tatsache, dass Menschen heutzutage auch noch in höherem Alter Kinder bekommen können, verändert die Gesellschaft auf vielfältige Weise. Die Entscheidung für eine Familie wird oft verschoben bis zu dem Zeitpunkt, an dem es auf natürlichem Wege nicht mehr klappt.

Anders betrachtet entspringen aus den Möglichkeiten der Samenspender und Leihmütter Kinder, die sich später nach den Grundlagen ihrer Identität fragen. Die genetischen Anlagen können nicht außer Acht gelassen werden. Auch wenn ein Kind zwei vollwertige „soziale“ Elternteile hat, wird irgendwann die Frage nach den biologischen Eltern ein Thema. Die Reproduktionsmedizin wird kritisch beleuchtet: Unterschiedliche gesetzliche Regelungen erlauben ein beinahe unkontrolliertes Ausnutzen der medizinischen Möglichkeiten. Die in westlichen Gesellschaften verbotene Leihmutterschaft etwa ist in Indien erlaubt und hat sich zu einem regelrechten Wirtschaftszweig entwickelt. Die psychologischen Folgen für die Leihmütter, die die Kinder, die sie 9 Monate in ihrem Körper wachsen lassen, oft nicht mal zu Gesicht bekommen, werden von der anderen Seite, den Wunsch-Eltern scheinbar nicht bedacht.

Was im Verständnis der Mehrheitsgesellschaft „Integration“ heißt, bedeutet im Verständnis der Minderheit: Wieviel Vergessen der eigenen Sprache und Herkunft ist notwendig, um dazuzugehören? Wie wird es möglich, sich dem zu widersetzen?

Ein wichtiger Teil der Kategorie Weltfamilien sind Ehegemeinschaften zwischen Menschen unterschiedlicher ethnischer und/oder nationaler Herkunft. Sie sind mit spezifischen Problemen konfrontiert. Neben den tatsächlich bestehenden Konflikten, die sich aus der unterschiedlichen Herkunft und damit der Sozialisation in unterschiedlichen Kulturen ergeben, haben sie auch mit Anfeindungen der Gesellschaft zu rechnen. Der Verdacht der Scheinehe schwebt oft nicht nur angedeutet über ihnen, viele Hürden sind zu überwinden, bevor eine solche Ehe überhaupt geschlossen werden kann. Und eine Ehe ist oft nötig, damit die Partner zusammenleben können. Dies kehrt den Prozess, der sich in westlichen Gesellschaften etabliert hat – kennenlernen, zusammenleben, ausprobieren, wie und ob das gemeinsame Leben funktioniert, dann erst Ehe, Haus, Kinder – um, und macht eine Ehe notwendig, damit das gemeinsame Leben und Ausprobieren überhaupt erst stattfinden kann.

Die Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Entwicklungen in einem größeren Kontext hat mir bis jetzt einige interessante Erkenntnisse gebracht. Dabei stelle ich mir auch die Frage, ob sich so mancher Konflikt vermeiden ließe, wenn mehr Menschen einen Blick über den Tellerrand ihres eigenen Lebens wagen und sich intensiver mit den Schicksalen anderer Menschen auseinander setzen würden. Die modernen Medien liefern uns dazu alle Möglichkeiten, es gibt keine Ausrede mehr dafür, sich zu verstecken und den Kopf in den Sand zu stecken.

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Sachbuch

Ulrich Beck – Risikogesellschaft

Zu Beginn meines Weiterbildungsprojekts im vergangenen Jahr hatte ich die mit dieser Thematik verbundenen Bücher hier ausgeklammert. Inzwischen möchte ich aber nicht darauf verzichten, zumindest die thematisch verwandten Bücher hier zu dokumentieren, weil es für mich eine völlig neue spannende Richtung und Sichtweise auf das Leben und die Gesellschaft darstellt.

Zu Beginn etwas Kontext: Der deutsche Soziologe Ulrich Beck erlangte mit seinem 1986 erschienenen Buch Risikogesellschaft internationale Beachtung. Er thematisiert darin umfassend die gesellschaftlichen Entwicklungen, die sich in Verbindung mit zunehmenden Umweltproblemen und der Globalisierung ergeben. 31 Jahre nach seiner Erscheinung ist dieses Werk noch immer ein vergleichsweise aktueller Beitrag im Bereich der Sozialisationstheorien. Die gesellschaftlichen Veränderungen, die der Autor analysierte, sind inzwischen weit fortgeschritten, viele seiner Prognosen können als erfüllt angesehen werden.

Möglichst kurz gefasst könnte man sagen, dass Beck den Glauben an den Fortschritt kritisiert. Er beschäftigt sich ausführlich damit, dass viele technologische Entwicklungen einfach umgesetzt werden, ohne an die Veränderungen zu denken, die sich daraus für die Umwelt und die Gesellschaft ergeben. Ein damals aktuelles Thema war das Waldsterben aufgrund von Luftverschmutzung und unkontrollierter Abgabe von Giftstoffen an das Grundwasser. Aus heutiger Sicht hat sich zumindest in den entwickelten Gesellschaften Mitteleuropas einiges in diesem Bereich verbessert, gleichzeitig hat die Leugnung des Klimawandels in vielen anderen Ländern nach wie vor Hochkonjunktur. Der Autor führt umfassend aus, welche Rolle die Wissenschaft, die Forschung und die in diesem Bereich tätigen Unternehmen spielen. Er deckt die Verflechtungen auf und argumentiert etwa, dass die Festlegung von Schadstoff-Grenzwerten gleichzeitig eine Legitimation eines bestimmten Maßes an Umweltverschmutzung darstellt.

Im sozialen Bereich beschäftigt sich der Autor mit den Veränderungen, die das Fortschreiten der Industrialisierung für die Lebensformen der einzelnen Menschen mit sich gebracht hat. Die Emanzipation der Frau hat zu umfassenden Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt geführt, die Politik hinkt diesen Veränderungen immer hinterher. Er argumentiert sehr pointiert, dass viele moderne Männer zwar inzwischen in Worten selbstverständlich die Gleichstellung der Frau proklamieren, in der Praxis hängen jedoch Mann und Frau doch zumeist in ihren traditionellen Rollen fest. An dieser Tatsache hat sich nach meiner Ansicht auch bis heute nicht viel verändert.

Ein Ausblick in die Zukunft ist stets eine schwierige Sache, meine eigene Einschätzung ist jedoch, dass wir uns heute mit der Digitalisierung bereits mitten in der nächsten Phase der gesellschaftlichen Veränderung befinden. Auch jetzt schreitet die technologische Entwicklung schneller voran, als der einzelne Mensch und die Politik mithalten können. Es bleibt spannend, zu beobachten, welche gesellschaftlichen Veränderungen sich in den nächsten Jahren und Jahrzehnten zeigen werden.

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Erzählung

Nick Flynn – Bullshit Nights

Jedes Jahr seines Lebens ist ein Kapitel, das Leben selbst ist ein Buch.

Was tun, wenn der eigene Vater obdachlos wird? Selbst wenn dieser Vater abwesend war, keine Alimente zahlte, sich nicht um seine Kinder kümmerte, bleibt er doch der Vater? Diese Frage stellt sich der Autor Nick Flynn, der in diesem Buch (laut Klappentext) seine eigene Lebensgeschichte in manchmal blumige (ein Theaterstück über betrunkene Weihnachtsmänner und ihre Töchter) und manchmal weniger blumige (die Beschreibungen der Prozeduren im Obdachlosenheim) Worte fasst.

Auch hier zeigt ein Episodencharakter, dass es sich um Erinnerungen handelt und nicht um eine stringente Romanhandlung: Fragmente von Kindheitserinnerungen, Geschichten und Fotos, Momentaufnahmen eines Lebens, an die man sich auch Jahrzehnte später noch erinnert, weil sie sich emotional eingegraben haben. Bei den geradlinig erzählten Kapiteln stellt sich so schnell das Gefühl ein, hier einen erfundenen oder zumindest geschönten Teil vor sich zu haben.

Zwischen den Zeilen findet sich dann die wahre Geschichte: die Ziellosigkeit, die mit Obdachlosigkeit einhergeht. Es gibt keine Zukunft jenseits der Nacht, die der Obdachlose überstehen muss, ohne dass ihm auch noch die letzten Besitztümer geraubt werden. Dieselbe Ziellosigkeit prägt auch die Mitarbeiter des Obdachlosenheims. Nur sehr wenige Obdachlose schaffen es nach einer längeren Zeit auf der Straße wieder zurück in ein geregeltes Leben. Die Arbeit im Obdachlosenheim besteht also auch nur im Erhalten eines unbefriedigenden Status quo. Eine Verbesserung, irgendwelche Möglichkeiten für die Zukunft sind nicht in Sicht. Und doch muss es jeden Tag weiter gehen. Je nach Blickwinkel eine hoffnungslose oder hoffnungsvolle Aussicht. Es kommt immer ein neuer Tag.

Mein Vater, der in einem Pappkarton geschlafen hat, besteht auf zwei Millionen, besteht auf eine Scheune, um das Projekt, das sein ganzes Leben bestimmt, das Buch, an dem er schon vor meiner Geburt schrieb, anfangen oder vollenden zu können.