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Roman

Olga Flor – Kollateralschaden

Noch eine Geschichte von der way-back-Liste. Aber noch gar nicht so alt (2008), habe ich mir vielleicht damals aus den Rezensionen irgendeines Magazins notiert. Der Gedanke, dass ich 8 Jahre alte Empfehlungen nachlese, hat etwas Faszinierendes und Verstörendes. Wenn ich jetzt schon 8 Jahre spät dran bin, wo soll das noch hinführen?

Der Roman erzählt in einzelnen Episoden aus unterschiedlichen Blickwinkeln die Geschehnisse einer Stunde in einem Supermarkt. Die Protagonisten haben unterschiedliche Ziele, unterschiedliche Lebensgeschichten und sind – Überraschung! – hauptsächlich mit sich selbst beschäftigt. Speziell die Politikerin Luise nimmt ihre Umgebung kaum war und bezieht schließlich auch die dramatischen Geschehnisse der letzten Minuten eindeutig auf sich, obwohl diese eigentlich nur eine Verkettung von Zufällen darstellen. Die episodischen Personencharakterisierungen sind ein interessantes Format, irgendwie blieb bei mir aber ein Gefühl zurück, dass daraus noch mehr herauszuholen gewesen wäre.

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Roman

Xaver Bayer – Weiter

Dabei sind gerade die Grenzen eines Computerspiels so verführerisch. Wo die Grafik zu Ende ist, schlummert das Essentielle. Dort beginnt es für mich interessant zu werden. Aber noch mehr faszinieren mich Spiele, die keine Grenze haben, wissen Sie, was ich meine? Da gibt es kein Ende der Illusion.

Eines dieser Bücher, das schon so lange auf meiner Liste steht, dass ich echt nicht mehr ansatzweise weiß, wo das hergekommen ist. Die Geschichte liest sich recht flüssig, wie schon der Titel sagt, geht es immer weiter.

Der Protagonist schreibt für eine Zeitschrift über Computerspiele. Gleich zu Anfang des Buches stiehlt er einen mittelalterlichen Faustkeil aus dem Urgeschichtemuseum in Asparn. Schon zu diesem Zeitpunkt könnte einem klar werden, dass mit ihm nicht alles stimmt. Auf den folgenden Seiten erzählt er von einem Moment in seinem Leben, der alles verändert hat, von dem an auf einmal alles sich anders angefühlt hat und irgendwie keinen Sinn mehr ergibt. Ziellos fährt er nun mit dem Faustkeil in der Manteltasche durch die Gegend, besucht das Haus seiner Großeltern, wo er seinen Bruder vorfindet, und philosophiert dabei ständig über Computerspiele und deren Parallelen zum richtigen Leben. In Brno soll er einen Entwickler interviewen, dieser lässt sich jedoch entschuldigen, der Protagonist lässt sich weitertreiben und landet mit der Schwester des Entwicklers im Nachtleben.

Der finale Showdown am Staatzer Berg lässt Raum für Interpretationen. Während für mich eindeutig klar war, dass der Protagonist seit Langem an Depressionen leidet und der konsumierte Drogencocktail ihn endgültig zum Zusammenbruch geführt hat, liest man nichts davon in anderen Rezensionen. Da wird eher krampfhaft nach Metaphern gesucht und die Präzision der Sprache gelobt. Womit ich zum Abschluss noch auf einen Tweet von Dejan Mihajlović verweisen möchte, der wunderbar zum Ausdruck bringt, warum nicht jedes geschriebene Wort mit symbolischer Bedeutung aufgeladen sein muss.

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Roman

T Cooper – Some of the parts

You spend your whole life getting hurt, and out of it you hope for some grade somewhere in all that hurt. But Charlie just got more hurt. A death sentence not too far off from his life sentence. Or maybe it was all the same. I didn’t know, because nobody told me anything.

In diesem Roman lernen wir vier Protagonisten kennen, die alle Teil einer Familie im erweiterten Sinn sind oder werden. Alle diese Menschen sind auf eine Art und Weise „beschädigt“ und wissen nicht so recht, was sie eigentlich mit ihrem Leben anfangen sollen oder wie es damit weitergehen soll. Beziehungen zerbrechen oder sind schon seit langem zerbrochen, hängen den Betroffenen aber noch ewig nach. Alle Charaktere leiden an Unsicherheiten, die oft auch körperliche Schwächen als Ursachen haben.

This was her world, not one she had to fit herself into.

Die Quintessenz könnte sein: wir sind alle irgendwie fehlerhaft, aber trotzdem können wir Menschen finden, die uns so annehmen, wie wir sind. Es dauert recht lange, bis sich diese Lebensweisheit herauskristallisiert, aber bis dahin hat man sich längst in die farbenfroh gezeichneten Protagonisten verliebt.

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Musical Roman

Manuel Puig – Der Kuss der Spinnenfrau

Seit Jahren hatte ich diesem Roman im Regal stehen, irgendwann gekauft, weil ich ja immer gerne die Basis lese, aus der ein Musical gemacht wurde. Tatsächlich habe ich Der Kuss der Spinnenfrau aber nie auf der Bühne gesehen. Das Stück wurde im Oktober 1992 in London uraufgeführt und schon Ende 1993 fand die deutschsprachige Erstaufführung in Wien statt. Meine Musical-Erfahrung begann jedoch erst 1995 mit Elisabeth.

Die dramatische Geschichte macht dieses Musical eher unattraktiv für Intendanten im deutschsprachigen Raum. Viele Verantwortliche gehen leider nach wie vor davon aus, dass ein Musical unterhalten muss und wenn es schon ein dramatisches Thema sein darf, dann hält man sich an die erfolgreichen Klassiker wie West Side Story oder Anatevka.

Wenn man sich die Zusammenfassung der Spinnenfrau durchliest, fragt man sich unwillkürlich, wie überhaupt jemand darauf kommen kann, dass sich dieses Buch als Basis für ein Musical eignet. Texter Fred Ebb beschreibt es in The Art of the American Musical folgendermaßen:

The fact is there was something about that material that inspired me. I felt that it was really interesting; it was very daring, it was bold, it was essentially terrifically romantic, and it offered a great contrast between the harsh reality of prison and the wonderful fantasy of a man’s imagination.

Fred Ebb, The Art of the American Musical

Zwischen der harschen Gefängniswelt und den farbenfrohen Filmwelten, die Molina in seinen Erzählungen auferstehen lässt entsteht ein scharfer Kontrast, der wiederum auf der Bühne eine Aufteilung in Charaktersongs und große Musicalnummern ermöglicht.

Interessant ist jedoch, dass die Spinnenfrau Aurora, die im Musical das prägende Element ist, im Buch gar nicht vorkommt. Zu Beginn erzählt Molina Valentin einen Film über eine Pantherfrau und erst in einem Dialog gegen Ende des Buches, kurz vor Molinas Entlassung, bezeichnet Valentin Molina selbst als Spinnenfrau. Im Wikipedia-Artikel heißt es, die Handlung weiche nur in wenigen Details von der Romanvorlage ab. Diese Details erscheinen mir jedoch als wesentlich, gerade der unterschiedliche Schluss macht eine ganz andere Geschichte daraus. Molinas Entscheidung, sich Valentins revolutionärer Gruppe anzuschließen (oder eben nicht), prägt die komplette Beziehung der beiden. Von einem Happy End kann man so oder so nicht sprechen. Hoffentlich ergibt sich eine Gelegenheit, das Musical irgendwo in Europa zu sehen, das Buch weckt großes Interesse an der theatralischen Umsetzung.

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Roman

Romano Battaglia – Wie eine Rose am Meer

Vom Geocaching Event am Chaos Communication Camp 2016 habe ich dieses Buch unter anderen aus dem Buchtausch nach Hause getragen (in anderen Worten: niemand anderes wollte es haben).

Der Umschlag verheißt schon eine äußerst schnulzige Liebesgeschichte und genau das wird auch eingehalten. Eine unmögliche Liebe, die nicht sein kann, weil der Mann bereits verheiratet ist und Familie hat. Erzählt von der Frau, die seinetwegen auf eine erfüllende Beziehung verzichtet und sich mit dem Wenigen zufrieden gibt, was er ihr geben kann (bzw. will). Immerhin sitzt er kurzzeitig an ihrem Krankenbett. [Achtung, es folgt ein Spoiler, weil ich annehme, dass sowieso niemand das lesen wollen wird.] Sie gesundet und er stirbt schließlich an einer Herzkrankheit (oder so ähnlich). Also muss sie ihre Geschichte einem Autor erzählen, der sie dann aufschreibt, damit die Liebe nicht verloren geht. Der Vollständigkeit halber.

Ich war noch ein Kind, aber seit jenem Tag weiß ich, dass man sich nie zum Richter seiner Mitmenschen aufschwingen darf. Man kann einfach nicht entscheiden, dass das, was man als gut oder schlecht für einen selbst erkannt hat, auch für andere Menschen so gelten soll.

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Roman

Audrey Schulman – Die Farben des Eises

Die Fotografin Beryl reist mit einer kleinen Gruppe nach Churchill in Kanada, um Eisbären zu fotografieren. Ziel des Auftraggebers sind möglichst ungestellte Fotos der sich dort versammelnden Eisbären aus nächster Nähe.

Zwei Faktoren haben mich an diesem Buch fasziniert. Zum einen der Detailreichtum, mit dem die Autorin die Natur dieses unwirtlichen Landes beschreibt. Die titelgebenden Farben des Eises werden gar nicht im Detail behandelt, doch das Gefühl der Weite in dieser schneebedeckten Landschaft beschreibt sie ausführlich. Auch Beryls Begegnungen mit den Eisbären sind in einem teilweise erschreckenden Detailreichtum beschrieben, die Autorin beschreibt den Geruch der Bären, wie sich deren Fell anfühlt sowie ihre unbeholfenen Reaktionen auf die Menschen. Eisbären haben keine natürlichen Feinde und erkennen daher den Menschen auch nicht als solchen. Der Leser darf mit Beryl mitstaunen, die trotz der intensiven Vorbereitung auf ihre Reise von der riesigen Körperlichkeit der Bären überrascht ist. Wenn man Eisbären in Naturdokumentationen sieht, fehlt zumeist ein Maßstab. Ohne ein Auto oder einen Baum zum Größenvergleich sehen die tapsigen Bären deutlich kleiner und ungefährlicher aus, als sie sind.

Der zweite Faktor sind die menschlichen Beziehungen innerhalb des Teams, dass sich auf die Reise macht, um die Bären zu erforschen. Als einzige Frau unter Männern hat es Beryl natürlich nicht leicht. Stück für Stück enthüllt sich auch ein Konflikt zwischen dem mutmaßlich schwulen David und dem seine Männlichkeit betonenden Butler. Als vierter im Bunde ist Jean-Claude als lokaler Führer mit dabei. Er soll für die Sicherheit der Expedition sorgen. In einem für arktische Verhältnisse gerüsteten Bus sollen die vier auf engstem Raum drei Wochen lang die Bären beobachten und dokumentieren. Die Autorin beschreibt sensibel die schwelenden Konflikte zwischen den unterschiedlichen Persönlichkeiten und wie sich diese schließlich bis zur Katastrophe steigern. Spannend bis zum bitteren Ende.

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Roman

Ingrid Noll – Kalt ist der Abendhauch

Charlotte erwartet Besuch von ihrem Schwager Hugo, für den sie schon als Jugendliche geschwärmt hat. Die nun 83-Jährige beginnt sich zu erinnern und gleichzeitig ihre Wohnsituation auf den Kopf zu stellen, um auf den alten Herrn nicht wie eine alte Schachtel zu wirken. Der Enkel Felix und seine Freunde starten eine umfassende Renovierung und bringen ganz schön Unruhe in Charlottes Alltag.

Stück für Stück erzählt Charlotte in Rückblenden ihre Familiengeschichte inklusive der dunklen Geheimnisse, die sie mit Hugo verbinden. Der Versuch, diese mit ins Grab zu nehmen, scheitert, letztendlich wird die jüngere Generation umfassend über die wahren Familienverhältnisse aufgeklärt. Eine angenehm unaufgeregte Familienerzählung mit einer charmanten Protagonistin, die nicht nur eine alte Dame, sondern eine beeindruckende Persönlichkeit ist.

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Roman

Gerbrand Bakker – Der Umweg

Eine Frau in einem einsamen Bauernhaus in Wales. Sie richtet sich ein und entwickelt eine Beziehung zu den Tieren, die um ihr Haus herum leben, den Schafen, die scheinbar von Geisterhand die Weiden wechseln und den Gänsen, die leider beharrlich verschwinden. Einen Moment fühlte ich mich an Die Wand erinnert. Diese Geschichte ist auch einsam, aber auf eine ganz andere Art.

Die Frau bleibt nicht allein. Der Besitzer der Schafe macht ihr seine Aufwartung und bleibt unerwünscht. Ein Junge mit einem Rucksack taucht auf und bleibt – zuerst unerwünscht, Stück für Stück macht er sich jedoch unersetzbar. Seine Motive bleiben unklar. Doch in Wirklichkeit ist es die Frau, die ein Geheimnis und düstere Absichten hat.

Stück für Stück wird diese Geschichte enthüllt, ein spannend geschriebenes Puzzle menschlicher Emotionen. Ein Schicksalsschlag kann in einem Menschen Teile der Persönlichkeit wachrufen, die vorher unbekannt waren. Oder auch: ein Schicksalsschlag verändert nicht nur die Lebensperspektive sondern auch den Menschen selbst.

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Roman

Christie Hodgen – Elegies for the Brokenhearted

Watching him you had a hungry look, your eye narrowed like an eagle’s, and it was clear in that moment that what you wanted from life was for someone to say the same to you, you wanted to be a part of something like that, to have friends you might meet on the street, friends calling out to you and you answering in mock rage. New York, Harlem, what you saw there you wanted to become, what you saw there was some long-forgotten dream brought back to life. What I remember most from our trip is this, this the moment we lost you.

Manchmal reihen sich thematisch verwandte Bücher wie zufällig aneinander, obwohl man es sich nicht so ausgedacht hat. In diesem Buch geht es um die Entwicklung eines Mädchens aus der amerikanischen Unterschicht. Mary Murphy wird in einer Kleinstadt geboren, über die Jahre werden die Fabriken der Stadt geschlossen, ein Großteil der Bevölkerung findet keine Arbeit mehr. Wer kann, verlässt die Stadt, die Zurückbleibenden haben kaum Chancen auf irgendeine Art von Aufstieg.

Die Geschichte wird in Form von Elegien erzählt, die Wikipedia definiert dies als Klagelied, jedoch auch römische Liebeselegien werden erwähnt. Für mich fühlte es sich während des Lesens wie eine Art Nachruf auf die Verstorbenen an. Der Titel der deutschen Übersetzung ist jedenfalls eine Schande: 5 Menschen, die mir fehlen.

„But don’t you think that desire,” I said, “is a dangerous thing? It’s a game that goes on and on. The satisfaction of a desire is the death of that desire, and so we just keep forming new ones and satisfying them, and then watching them die, and forming new ones, on and on, and we’re never happy. It’s better to be in the moment.”

In den 5 Kapiteln erlebt der Leser, wie Mary Murphy sich vom schüchternen, zurückgezogenen Kind zu einer hoffnungs- und ziellosen Jugendlichen entwickelt. Schließlich gelingt ihr der Sprung an die Universität, wo sie jedoch kaum etwas mit sich anzufangen weiß. Nach ihrem Abschluss begibt sie sich auf die Suche nach ihrer Schwester und landet im Küstenstädtchen Ogunquit, Maine (der Name ist so lustig, dass ich nachschauen musste, ob es diese Stadt wirklich gibt).

Mich hat die scheinbare Plan- und Ziellosigkeit der Protagonistin lange davon abgelenkt, dass es eigentlich mehr um die Beziehungen zwischen Menschen geht und darum, dass es nicht immer nur auf die Familienbande ankommt, ob ein Mensch für uns wichtig ist oder wird. Viele Gemeinsamkeiten finden sich gerade bei Menschen, die nicht miteinander verwandt sind und gerade von denen, die einen deutlich anderen Lebensweg hinter sich haben, können wir oft am meisten lernen.

We had all known joy and then lost it, had blindly sought after it again; we had taken up burdens and carried them for a time, then stumbled beneath them; we had made strides and then lapsed; we had taken strange paths that sometimes delivered us to safety and sometimes led us astray; we had despaired, tried again, despaired, tried again. Through it all we had somehow felt ourselves alone, misunderstood. In the end you believed you had failed; you seemed to have died in despair.

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Roman

Justin Torres – Wir Tiere

Wir schlugen immer weiter; wir durften sein, was wir waren, verängstigt, rachsüchtig – kleine Tiere, die sich an das krallten, was sie brauchten.

Lange habe ich nicht wirklich gewusst, was ich über dieses Buch schreiben soll, dann kam mir die Wrintheit mit @holgi und @silentiffy dazwischen. Da wurde unter anderem über Begabungen gesprochen. Gibt es genetisch veranlagte Begabungen oder entstehen diese nur durch entsprechende Förderung?

Wir Tiere beschreibt die Kindheit und Jugend dreier Brüder aus der Sicht des Jüngsten. Die Buben wachsen in einer amerikanischen Unterschicht-Familie auf, bleiben oft unbeaufsichtigt, lernen sich durchzuschlagen, lernen auch, dass Gewalt und Aggressionen im täglichen Leben auf der Tagesordnung stehen. Der jüngste Bruder zeigt andere Anlagen als die beiden älteren Buben, er ist sensibler, er zeigt Potential in der Schule, je älter er wird, umso mehr wird ihm und auch seinen Brüdern klar, dass er anders ist, nicht wie sie. Das Finale kommt überraschend und vieles bleibt offen.

Auch im Roman bleibt die Frage offen, was aus dem Buben werden hätte können, wäre er in ein anderes Umfeld hineingewachsen. Hätte er sich anders entwickeln können, wenn seine Eltern mehr Zeit gehabt hätten, sich um die Kinder zu kümmern? Wieviel von der Entwicklung des einzelnen Menschen wird von der genetischen Veranlagung bestimmt und wieviel im täglichen Leben erlernt? Mit diesem Thema möchte ich mich definitiv weiter beschäftigen.