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English Essays

Rebecca Solnit – A Field Guide to Getting Lost

CN dieses Buch: Drogenmissbrauch, Tod, Verlust, Trauer
CN dieser Post: Hund, Abschied


In Benjamin’s terms, to be lost is to be fully present, and to be fully present is to be capable of being in uncertainty and mystery. And one does not get lost but loses oneself, with the implication that it is a conscious choice, a chosen surrender, a psychic state achievable through geography.

Essays von Rebecca Solnit gehen irgendwie immer tiefer als die anderer Autor:innen. Der Titel dieses Buches wirft alleine schon Fragen auf: Was ist gemeint mit getting lost / verloren gehen / verschwinden / sich verlieren? Warum ist eine Anleitung nötig, um diesen Zustand der Verlorenheit zu erreichen? Warum ist dieser Zustand überhaupt erstrebenswert? Diesen Fragen widmet sich unter anderem der erste Essay, aus dem das obige und untenstehende Zitat stammen. Nach Walter Benjamin ist der Zustand der Verlorenheit auch ein Zustand der vollständigen Präsenz, für den sich der Mensch auch bewusst entscheiden muss. Diese Beschreibung macht deutlich, dass der hier gemeinte Zustand der Verlorenheit keine realen Erfahrungen wie das Sich-Verlaufen in einer unbekannten Gegend meint. Gemeint ist hingegen ein Geisteszustand, der nur durch bewusstes Sich-Verlieren herbeigerufen werden kann. Der Definition dieses Zustands folgt die Frage, wie wir ihn erreichen können, um in diesem Zustand dann die Möglichkeit zu neuen Erkenntnissen zu finden.

The question then is how to get lost. Never to get lost is not to live, not to know how to get lost brings you to destruction, and somewhere in the terra incognita in between lies a life of discovery.

Die weiteren Essays befassen sich mit verschiedenen Themen, die diesem Zustand verwandt sind.

  • Der Verlust der eigenen Identität in anderen Kulturen, worunter Menschen leiden, die einen Wechsel zwischen Kulturen (zumeist unfreiwillig) absolviert haben und wie diese Veränderungen eine Distanz schaffen gleichzeitig zur Herkunftskultur, aber auch zur neuen Lebenswelt.
  • Das Bedürfnis von Nähe und Distanz, das sich bei den meisten Menschen im Verlauf der Lebensspanne verändert (Kinder brauchen viel Nähe, ältere Menschen mehr Distanz).

The blue of distance comes with time, with the discovery of melancholy, of loss, the texture of longing, of the complexity of the terrain we traverse, and with the years of travel.

  • Viele andere Künstler:innen werden zitiert, etwa Yves Klein, der sich in seinem künstlerischen Schaffen so intensiv mit der Farbe Blau befasst hat, dass er schließlich den von ihm erschaffenen Blauton unter dem Namen Namen International Klein Blue (IKB, =PB29, =CI 77007) patentieren ließ. Blau beschreibt Solnit als Farbe, die das Immaterielle und Entfernte symbolisiert und damit immer eine Distanz zwischen Künstler:in und Betrachter:in herstellt.

Andere Essays befassen sich mit dem Gefühl der Freiheit, den weißen, unerforschten Flecken auf Landkarten (terra incognita) oder der Bedeutung von Gebäuden (und wie sie manchmal zu lost places werden). Im Großen und Ganzen will die Autorin jedoch den Leser:innnen Mut machen, sich auch auf unbekanntes Terrain zu begeben, die eigenen Grenzen zu überschreiten und Risiken einzugehen. Weil wir auch verlieren, wenn wir nichts tun.

But fear of making mistakes can itself become a huge mistake, one that prevents you from living, for life is risky and anything less is already loss.


Hund Melly steht im Abendlicht auf einem Feldweg

Wir verabschieden uns von unserem geliebten Flauschmonster Melly. Nach Monaten der Krankheit wurde unsere Prinzessin am 20. September 2022 von ihrem Leiden erlöst. Unsere  wird immer in unseren Herzen bleiben.

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Roman

Gerbrand Bakker – Der Umweg

Eine Frau in einem einsamen Bauernhaus in Wales. Sie richtet sich ein und entwickelt eine Beziehung zu den Tieren, die um ihr Haus herum leben, den Schafen, die scheinbar von Geisterhand die Weiden wechseln und den Gänsen, die leider beharrlich verschwinden. Einen Moment fühlte ich mich an Die Wand erinnert. Diese Geschichte ist auch einsam, aber auf eine ganz andere Art.

Die Frau bleibt nicht allein. Der Besitzer der Schafe macht ihr seine Aufwartung und bleibt unerwünscht. Ein Junge mit einem Rucksack taucht auf und bleibt – zuerst unerwünscht, Stück für Stück macht er sich jedoch unersetzbar. Seine Motive bleiben unklar. Doch in Wirklichkeit ist es die Frau, die ein Geheimnis und düstere Absichten hat.

Stück für Stück wird diese Geschichte enthüllt, ein spannend geschriebenes Puzzle menschlicher Emotionen. Ein Schicksalsschlag kann in einem Menschen Teile der Persönlichkeit wachrufen, die vorher unbekannt waren. Oder auch: ein Schicksalsschlag verändert nicht nur die Lebensperspektive sondern auch den Menschen selbst.

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Sachbuch

Robert Betz – Willst du normal sein oder glücklich?

Es ist mir nach wie vor schleierhaft, in welcher Gemütsstimmung ich mich befunden haben muss, als ich dieses Buch aus dem Regal des Buchgeschäfts nahm und es nach der Lektüre des Klappentexts nicht zurückstellte sondern stattdessen zur Kasse trug. Hätte ich mir die Zeit genommen, vor dem Kauf wenigstens die erste Seite zu lesen, wäre dieser Blog Post nicht passiert …

Zu meiner Verteidigung kann ich sagen, dass mich die Frage, was denn eigentlich „normal“ ist, ständig begleitet und immer wieder beschäftigt. Wer in irgendeiner Form nicht „normal“ ist, fällt auf. Auffallen kann positiv oder negativ sein. Wer auffällt, erntet Reaktionen, diese können je nach Person und Situation positiv oder negativ ausfallen. Wer „normal“ ist, fällt nicht auf, gliedert sich in die jeweilige aktuelle Gesellschaft ein und „passt dazu“.

Jeder Leser dieses Buches wird erkennen, warum er in seinem Leben dort steht, wo er gerade steht, und auf welche Weise seine Mangelzustände, sein Leiden, sein Gefühl der Unfreiheit und Begrenzung entstanden sind.

Laut dem Autor leiden wir also allesamt an Zwängen, fühlen uns eingesperrt ins Korsett des „normalen“ Lebens. Unsere Unfreiheit macht uns unglücklich. Schuld daran? Natürlich unsere grausame Kindheit. Die Lösung: Erkenntnis, Verstehen und Vergeben. Wir haben es selbst in der Hand. Du hattest eine unglückliche Kindheit? Hey, chillax deine Base, lass es hinter dir, schließe ab und sofort wirst du glücklich! [Ironie Ende]

Jede Zurückweisung, jedes Verlassenwerden und Alleinsein, jeder Moment der Enttäuschung, als du nicht geliebt, sondern kritisiert oder gar geschlagen wurdest, ist mit all deinen Gefühlen und deinen Gedanken wie auf einer großen Festplatte in dir gespeichert und abrufbar.

In weiteren (kurzen) Kapiteln ergeht sich der Autor unter anderem darüber, dass wir in der Kindheit verinnerlicht hätten, uns selbst nicht zu lieben, uns „nicht so wichtig zu nehmen“. Ich kann mir kaum vorstellen, dass der Autor jemals selbst an Kindererziehung mitgewirkt hat. In meinen eigenen Erfahrungen mit Kindern geht es bei dem Hinweis zumeist darum, den Kindern bewusst zu machen, dass es nicht möglich ist, ihren eigenen Willen ohne Rücksicht auf andere durchzusetzen. Wer nicht als Einsiedler im Wald leben will, wird lernen müssen, dass die eigenen Bedürfnisse wichtig sind, aber nicht immer im Vordergrund stehen können.

Endgültig absurd wird es, als der Autor die mangelnde Selbstliebe des Menschen als Auslöser für alle möglichen Krankheiten identifiziert. Wenn man seinen Körper nicht liebe, reagiere dieser mit Verstimmung und lasse beispielsweise das Zahnfleisch zurück gehen, wenn der Mensch nicht in der Lage sei, Zähne zu zeigen. Auf der nächsten Doppelseite preist er dann seine Meditations-CDs an, mit dem man seinem Körper etwas Gutes tun kann (soll!). Im Prinzip wird in jedem Kapitel zumindest einmal auf eine Mediations-CD des Autors verwiesen. Sammle sie alle und du wirst nie mehr unglücklich sein!

Um nicht ungerecht zu sein, muss ich zugeben, dass im dritten Teil (praktische Übungen) dann doch einige Anregungen waren, die ich zwar in dieser oder einer anderen Form schon mal gehört oder gelesen hatte, woran man aber immer wieder erinnert werden muss. Daran, dass das Leben jetzt ist und nicht in der Zukunft oder der Vergangenheit statt findet, darf man sich gern immer wieder mal erinnern (lassen). Dass man sich selbst vergeben soll, dass (vermeintliche) Fehler oft gar nicht so tragisch sind, dass man sein Leben selbst in der Hand hat. Ein kleiner, wahrer Kern zwischen der Werbung für Meditations-CDs.

Reading Challenge: A book by an author you’ve never read before
(and will never read again …)