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English Roman

Ling Ma – Severance

We’re selected. The fact that we’re immune to something that took out most of the population, that’s pretty special. And the fact that you’re still here, it means something.

Das Szenario einer epidemischen Krankheit, die einen Großteil der Weltbevölkerung auslöscht, hat mich seit The Stand fasziniert. Das Zusammenbrechen einer Gesellschaft und wie die Überlebenden damit umgehen stellt der Leser*in die Frage, wie sie selbst in so einer Situation reagieren würde. Eine Katastrophensituation solchen Ausmaßes (wie sie in anderer Ausprägung auch in Black Out oder Under The Dome beschrieben wird) bringt die wahre Natur des Menschen zum Ausdruck.

I have always lived in the myth of New York more than in its reality. It is what enabled me to live for so long, loving the idea of something more than the thing itself.

Die Autorin Ling Ma erzählt die Geschichte der Überlebenden Candace auf zwei Zeitebenen. Eine Zeitebene beschreibt, was vor der Epidemie passiert und wie sich Candace in der zerfallenden Stadt New York zurecht findet, bevor sie sich schließlich versehentlich aus ihrem Büro aussperrt und daraufhin beschließt, dass es Zeit ist, die Stadt zu verlassen. Die andere Zeitebene beschreibt, was passiert, nachdem Candace von einer Gruppe Überlebender, die sich unter der Leitung eines selbst ernannten Gurus nach Chicago durchschlägt, gefunden wurde.

Candace wurde in China geboren und war mit ihren Eltern im Kindesalter nach Amerika ausgewandert. Während die Mutter auf eine Rückkehr drängt, ist der Vater überzeugt davon, dass nur Amerika die für das eigene Kind erwünschten Zukunftschancen bietet. Die erwachsene und inzwischen verwaiste Candace sieht sich ständig damit konfrontiert, ihre Chancen ungenutzt zu lassen und den Wünschen ihrer Eltern für ein besseres Leben nicht zu genügen.

I just want for you what your father wanted: to make use of yourself, she finally said. No matter what, we just want you to be of use.

Nicht die Epidemie, nicht das langsame Zusammenbrechen der Infrastruktur und der Gesellschaft im Allgemeinen, nicht die Einsamkeit sind es, die schließlich einen unaufhaltbaren Veränderungsprozess in der Protagonistin auslösen. Erst die Konfrontation mit einer weiteren Instanz, die ihr Regeln auferlegt und ihr Leben kontrollieren will, ist der Wendepunkt, an dem es kein Zurück mehr gibt. Und selbst an dieser Stelle hätte Candace vermutlich noch mitgespielt. Aber es geht jetzt eben nicht mehr allein um sie selbst.

When other people are happy, I don’t have to worry about them. There is room for my happiness.

Für mich überraschend war die Tatsache, dass die Beschreibung des Überlebens den geringsten Teil des Buches annimmt, nahezu alle wesentlichen Ereignisse geschehen, bevor die epidemische Krankheit überhaupt zum ersten Mal erwähnt wird. Die Rückblicke sind nicht notwendig, um das Geschehen nach der Epidemie zu erklären, sie sind das eigentliche Geschehen. Durch eine Krise wird die eigene Geschichte nicht ausgelöscht. Sie nimmt eine neue Wendung, aber sie trennt uns nicht von unserer Vergangenheit. Und sie lässt uns wachsen.

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Fantasy Roman

Leo Perutz – Das Mangobaumwunder

Nun hab ich auch das dritte Buch für den Literatur-Geocache zum Autor Leo Perutz geschafft. Wenn man die Bücher knapp nacheinander liest, stellt sich schon ein gewisser Ermüdungseffekt in Bezug auf die angewandten literarischen Mittel und die Charakterisierung der Figuren ein. Das Alter der Geschichte ist deutlich spürbar, gerade im Gehabe des verliebten Dr. Kircheisens zeichnen sich deutlich die Gepflogenheiten einer längst vergangenen Zeit ab. Aber immerhin blieb der Knalleffekt (der deutliche Anleihen an einem wesentlich älteren Werk nimmt) bis knapp vor dem Ende verborgen. Das Rätsel ließ sich übrigens nach einer kleineren Korrektur bei den Variablen im dritten Versuch lösen.

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English Roman

David Levithan – Someday

What I’m learning is that the heart has the capacity to love so many people. I used to think I had to give that capacity to just one person, and never hold back any love for myself. But how wrong I was.

Nach Every day und Another day, in dem der Autor die Geschichte des Kennenlernens von Rhiannon und A aus beider Perspektive beschreibt, folgt mit Someday eine Fortsetzung, die überraschenderweise noch mehr Fragen aufwirft als sie beantwortet.

Am Ende der beiden vorhergehenden Bücher hat A sich entschlossen, den Kontakt zu Rhiannon abzubrechen. Natürlich können sie einander nicht vergessen und nehmen schließlich den Kontakt wieder auf. Beide erkennen, dass ihre Beziehung zu Beginn darunter gelitten hat, dass sie sich nicht in gewöhnliche Beziehungskonzepte pressen lässt. Wenn die bekannten Beziehungsmuster nicht zu passen scheinen, kann eine Beziehung nicht erfolgreich sein, das denken sowohl A als auch Rhiannon. In diesem Buch definieren Rhiannon und A ihre Beziehung neu: Sie muss nicht exklusiv sein. Sie muss nicht den gängigen Vorstellungen einer lebenslangen Beziehung entsprechen. Sie muss nicht einer klassischen Beziehungsentwicklungslinie (mir fällt leider wirklich keine bessere deutsche Version für relationship escalator ein) folgen. All diese Ansprüche haben eine Beziehung zuvor verhindert. In dieser Fortsetzung konzentrieren sich beide darauf, was sie einander geben können, was sie zusammen haben können und daraus entsteht etwas völlig Neues. Das Sprengen von gesellschaftlichen Vorstellungen und Rahmenbedingungen und Schaffen von Räumen für eigene Ideen abseits der gängigen Normalitätsfolien schafft Möglichkeiten, die zuvor undenkbar waren. Diese ermutigenden Botschaften zwischen den Zeilen sind eine der besonderen Leistungen des Autors.

But if it becomes normal for us – that’s good. That’s all we can ask for.

Zumindest so spannend wie der Beziehungsaspekt war für mich die Tatsache, dass nun auch andere Personen wie A zu Wort kommen. Dadurch wird die Perspektive auf die Frage, was eine Person ausmacht, erneut erweitert. Die körperwandernden Personen beschreiben ähnliche aber zugleich vollkommen unterschiedliche Erfahrungen. Worauf es ankommt, ist wie die Person mit einer Situation umgeht. Täglich treffen wir Entscheidungen, die sich nicht nur auf uns selbst, sondern auch auf andere Personen auswirken. Ob wir dabei hauptsächlich auf unseren eigenen Vorteil schauen oder auf das Wohl anderer Menschen oder sogar auf das große Ganze – das macht in meinen Augen einen wesentlichen Aspekt der Persönlichkeit aus.

Bei dieser Gelegenheit möchte ich noch kurz das Konzept Body neutrality erwähnen, das sich im weitesten Sinn auch im Text verorten lässt. Bei diesem Gegenkonzept zu Body positivity geht es nicht darum, den eigenen Körper um jeden Preis schön zu finden, sondern darum, dass es auf den Körper nicht so ankommt: der Mensch im Körper ist wichtiger als wie der Körper aussieht. Das Hadern mit dem eigenen Körper lässt sich im Allgemeinen nicht von einem Tag auf den anderen (und vielleicht überhaupt nie) vollständig ablegen. Aber der Gedanke, sich von der Doppelbelastung, den eigenen Körper perfektionieren und gleichzeitig den unperfekten Körper lieben zu müssen, verabschieden zu können, kann nicht oft genug geteilt werden.

But the whole point of love is to write your own version of normal.

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Roman

Leo Perutz – Zwischen neun und neun

Wie es der Titel nahelegt, spielen sich die Ereignisse dieses Romans innerhalb von 12 Stunden ab, zwischen 9 Uhr morgens und 9 Uhr abends. Während der ersten paar Stunden beobachtet die Leser*in das eigentümliche Verhalten des Protagonisten Stanislaus Demba, bis schließlich das Geheimnis um seine Hände enthüllt wird. Die weiteren Stunden verbringt Demba mit dem Versuch, trotz seiner misslichen Lage Geld einzutreiben, um seine angebetete Sonja zurückzugewinnen. Dabei stolpert er aufgrund der speziellen Verhältnisse (dieses eine Faktum zu spoilern würde den kompletten Spaß am Buch verderben) von einer Peinlichkeit in die nächste. Etwas unbefriedigend ist jedoch das Ende, der scheinbar in eine aussichtslose Lage geratene Protagonist wird durch eine Deus-ex-machina-Wendung in eine auch nicht viel bessere Lage katapultiert. Dadurch werden jedoch die Geschehnisse der vergangenen Stunden nicht aufgeklärt, sondern gewissermaßen ad absurdum geführt.

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English Roman

Leni Zumas – The Listeners

Das Weglegen eines Buches ist mir ja ein vollkommen fremdes Konzept. Aber bei diesem hat es echt lange gebraucht, bis ich halbwegs ein Gefühl dafür bekommen hab. Bei 20% (auf dem Kindle gelesen) hatte ich immer noch das Gefühl, dass ich keine Ahnung habe, wer die Protagonistin ist und warum es ihr in ihrem Leben so geht, wie es ihr geht.

Wie sich später herausstellte, war das bis zu einem gewissen Grad Teil des Konzepts. Das Buch erzählt in großteils sehr kurzen Episoden (teilweise weniger als eine Kindle-Seite) in unterschiedlichen Zeitebenen die Beziehung zwischen Quinn, ihren Geschwistern, ihren Freunden, ihren Partnern, ihren Eltern. Prägendes Element ist der Tod ihrer Schwester, an dem sie sich schuldig fühlt und über den in der Familie nicht gesprochen wird. Während die anderen Erzählstränge großteils offen bleiben (wie es im Leben eben auch so oft ist), findet die Trauer um die verlorene Schwester in gewisser Weise ein Ventil. Das führt das Buch zu einem gewissermaßen versöhnlichen Ende, wobei jedoch der Leserin eigentlich klar ist, dass es für Quinn erst der Anfang ist. Der Anfang zu einem selbstbestimmten Leben.

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Roman

Valerie Fritsch – Winters Garten

Den Menschen stand die zerstörerische Wirkung des Schlafes ins Gesicht geschrieben. Die Nerven der Schlaflosen waren längst zerrüttet, und die Ohren der Träumer taub. Die Nächte traumatisierten die ganze Stadt, darum standen die Bewohner irgendwann lieber an den Fenstern, als sich hinzulegen.

Auf die Beschreibung einer Kindheit auf dem Land, dem Überfluss an Natur, an Familie, an Freiheit folgt der Verfall dieses Gartenparadieses, in Abwesenheit des Protagonisten Anton Winter, der in die Stadt gezogen ist, um dort Vögel zu züchten. Die Stimmung verdüstert sich zusehends, denn der Weltuntergang steht bevor. Was bleibt im Leben noch wichtig, wenn das Leben ein Ablaufdatum hat? Wie kann das Leben weitergehen? Kinder werden geboren, die keine Zukunft haben. Entfremdete Menschen finden zueinander. Menschen, die sich zuvor nicht kannten, finden zueinander. Das Leben reduziert sich auf das Wesentliche.

[Die Kinder] spielten Tag und Nacht, und niemand verbot es ihnen, denn sie mussten ja nichts mehr werden, vor allem nicht erwachsen.

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Humor Roman

Isabel Bogdan – Der Pfau

Dieses Buch stand schon lange auf der Liste und beim letzten Besuch in der Bücherei Hernals habe ich es aus der Kategorie Heiteres gefischt. Das Etikett passt: gerade das Richtige für den Urlaub. Eine Gruppe von Investmentbankern reist zu einem Teambuilding-Wochenende in ein abgelegenes Tal in Schottland. Der titelgebende Pfau ist alles andere als ein freundliches Wesen, ohne zu spoilern kann ich sagen: der Pfau ist verrückt geworden. Als dann auch noch die Gans verschwindet, sind die Wogen kaum noch zu glätten. Die weiteren Umstände führen zu allerlei Verwicklungen, die beteiligten Personen haben jeweils unterschiedliche Vermutungen, die jedoch niemand laut ausspricht. Erst nach dem Lesen sind mir die feinen Details auf dem Cover ins Auge gefallen. Clever geschriebene Unterhaltung.

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Roman

Katie Kitamura – A Separation

But until a decision is acted upon, it is only hypothetical, a kind of thought experiment.

Die Trennung eines Ehepaars, kaum böses Blut, Leben in getrennten Wohnungen. Einzig die Scheidung steht noch aus. Und das öffentliche Eingestehen der Trennung. Denn die Schwiegereltern sind noch nicht eingeweiht. Bevor es zur Scheidung kommen kann, wird der Ehemann auf Recherchereise in Griechenland tot aufgefunden. Die Protagonistin wird dadurch zu einer trauerenden Witwe, eine Rolle, die ihr aufgrund der bereits vollzogenen Trennung und der bevorstehenden Scheidung nicht zuzustehen scheint. Die Entscheidung ist gefallen, kann jedoch nicht mehr umgesetzt werden.

Erzählt wird all das aus dem Blickwinkel der Protagonistin, die nicht nur über ihr eigenes Verhalten und ihre Gefühle intensiv reflektiert, sondern auch mit wachem Auge ihre Umgebung beobachtet. Im Verlauf der Geschichte verändert sich ihre Rolle von der betrogenen, in Trennung lebenden Ehefrau zur trauernden Witwe. Und obwohl sie den Trennungsprozess vermeintlich schon absolviert zu haben scheint, führt der überraschende Tod des Ehemanns in einen Trauerprozess, der niemals so abgeschlossen werden kann, wie eine Ehe durch eine Scheidung beendet wird.

The emulation became the thing itself, […].

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Roman

Sarah Waters – Fingersmith

Bei meinem ersten Ausflug in die Bücherei-Zweigstelle Hernals hatte ich gleich einen ganzen Stapel Bücher mitgenommen, damit sich das Ganze auch auszahlt. Dieses war das Letzte dieser Bücher, die anderen habe ich schon retourniert und dabei auch gleich einen neuen (kleineren) Stapel nach Hause gebracht.

Einerseits war es das dickste Buch im Stapel und andererseits konnte ich mich nicht mehr erinnern, warum dieses Buch überhaupt in meiner Liste stand. Zusätzlich hat sich die Geschichte als sehr langwierig erwiesen. Das erste Drittel zieht sich erstaunlich in die Länge, danach werden die Geschehnisse des ersten Drittels nochmal aus der Perspektive der zweiten Protagonistin erzählt. Das ist einerseits ein zur Geschichte passender literarischer Kniff, der den Cliffhanger am Ende des ersten Drittels Schritt für Schritt erklärt, bringt aber andererseits die Handlung noch langsamer vorwärts.

Das Ende hält dann immerhin einige überraschende Wendungen bereit, das gesamte Tempo, das vorher gefehlt hat, steckt in den Auflösungen am Schluss. Eine Zusammenfassung der Ereignisse verbietet sich wie bei einem guten Thriller.

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Roman

Lilian Faschinger – Magdalena Sünderin

Wagt es eine österreichische Frau, ihr österreichisches Frauenunglück nicht hinzunehmen, hält eine österreichische Frau es für selbstverständlich, dieses ihr vom katholischen Österreich bestimmte Frauenunglück auf das energischste von sich zu weisen […], dann zieht sie nicht nur die Gegnerschaft der österreichischen Männer auf sich, die vom österreichischen Frauenunglück seit Jahrzehnten profitieren, sondern vor allem die unversöhnliche Feindschaft [der Frauen].

Ein weiteres Buch aus der Reihe Literatur-Geocache. Die titelgebende Sünderin entführt einen Priester, vorgeblich um ihre Geschichte zu beichten und Absolution zu erhalten. Während sie erzählt, wie es ihr ergangen ist, seit sie aus den familiären Zwängen (siehe das obige Zitat) ausgebrochen ist, entwickelt sich zwischen dem geknebelten Opfer, aus dessen Perspektive eigentlich erzählt wird, und der Täterin ein intensives Stockholm-Syndrom. Während sich die Beschreibung der begangenen Morde kontinuierlich steigert, sinkt die Angst des Entführten. Er verurteilt aus seiner katholischen Perspektive selbstverständlich die Taten, entwickelt jedoch ein stummes Verständnis für die unglücklichen Liebschaften der Mörderin.

Wie bereits aus dem obigen Zitat ersichtlich ist, passt der Schreibstil überhaupt nicht zur eigentlichen Thematik des Buches. Viele Aufzählungen (Psychologinnen, Psychiater, Psychotherapeutinnen, etc.) wiederholen sich gefühlt endlos, im obigen Zitat habe ich einige Wiederholungen des österreichischen Frauenunglücks aus Gründen der Redundanz gekürzt.

Die Protagonistin selbst ist mir ein Rätsel geblieben. Einerseits hat sie sich von ihrer Familie befreit, die sie in traditionelle Lebensbahnen pressen wollte. Sie hat ihr gewöhnliches Leben hinter sich gelassen, fährt durch die Welt und ermordet ihre Liebhaber, wenn die Beziehung aus diversen Gründen nicht mehr funktioniert. Gleichzeitig passt sie sich jedoch jedem Mann, den sie kennenlernt, bis zur Selbstaufgabe an. Aufgrund ihrer grenzenlosen Naivität wird sie immer wieder von den Geheimnissen ihrer Partner überrascht. Sie rebelliert durch radikale Anpassung an sich ändernde Verhältnisse. Jedoch immer nur so lange, bis die Grenze erreicht ist und der jeweilige Partner ohne Zögern ins Jenseits befördert wird. Und dann findet die Geschichte einen neuen Anfang

Bei solchen Anfängen entgleisen die Liegewagen des Lebens, springen die Güterwaggons des Geschicks aus den Schienen, rollt der Drehgestellflachwagen des Daseins über die Böschung, gerät die E-Lok der Existenz aus dem Gleis. Nach solchen Anfängen ist man nicht mehr der, der man vor solchen Anfängen gewesen ist. Die Anfänge sind am schönsten.