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English Fantasy Roman

N. K. Jemisin – The Fifth Season

CN: Rassismus, Gewalt, Tod, Mord, Folter


“You think you matter?” All at once he smiles. It’s an ugly thing, cold as the vapor that curls off ice. “You think any of us matter beyond what we can do for them? Whether we obey or not.”

Für den Jahresanfangsurlaub hatte ich mir vom Radfahrer ein Buch erbeten. Ich hatte an ein anderes gedacht, er hat mir dann dieses vorgeschlagen und ich kann es nicht erwarten, den zweiten und dritten Teil zu lesen. Jeder Teil dieser Trilogie wurde separat mit einem Hugo Award ausgezeichnet und das (vermutlich) völlig zu recht. Der erste Teil hat mich jedenfalls sehr in diese Welt hinein gerissen. Der Cliffhanger am Ende ist äußerst unerfreulich. Zum Glück habe ich den zweiten Teil bereits hier und der Radfahrer liest gerade den dritten Teil, sodass ich bald erfahren werde, wie die Geschichte weiter geht.

Am Anfang hatte ich etwas Schwierigkeiten, mich in die Gegebenheiten dieser Welt einzulesen, die gesellschaftlichen Strukturen zu verstehen. Die Geschichte wird aus drei Perspektiven erzählt und entfaltet sich auch auf unterschiedlichen Zeitebenen. Zentral ist die Existenz von Menschen, die besondere Kräfte haben, so genannte Orogene. Bereits als Kind haben sie diese Kräfte, können sie jedoch nicht kontrollieren und dadurch ungewollt großen Schaden anrichten, weshalb sie oft verbannt oder ermordet werden, wenn ihre Kräfte in Erscheinung treten. Einen Ort gibt es jedoch, wo diese Menschen ausgebildet werden, um ihre Kräfte zum Wohle der Gesellschaft einzusetzen. Dort werden sie gleichsam von Guardians bewacht. Dass sich dahinter ein System an struktureller Ausbeutung verbirgt, wird im ersten Buch immer wieder angedeutet bzw. hinterfragt (siehe obiges Zitat), es bleibt aber vieles im Unklaren.


Ein großartiger Start in eine Trilogie, die eine interessante Fantasiewelt mit starken und differenzierten Charakteren bevölkert. Ich bin begeistert und freue mich schon sehr auf den zweiten und dritten Teil.


In den Weihnachtsferien hatte ich das Glück, Kind5 und Kind6 in die aktuelle Mitmach-Ausstellung „Kunst und Spiel“ im Zoom Kindermuseum begleiten zu dürfen. Museumspädagogik ist ja ein Nischenbereich, der mich seit meines (inzwischen abgebrochenen) Bildungswissenschaftsstudiums immer wieder anzieht. Die Mitmach-Ausstellungen sind daher für mich auch eine Gelegenheit, zu beobachten, wie die Mitarbeiter:innen die Ausstellungsobjekte erklären und vermitteln und wie die Kinder verschiedenen Alters das Angebot annehmen.

Für mich war es die dritte Mitmach-Ausstellung, davor hatte ich bereits „Von Kopf bis Fuß“ zum Thema Körper (mit Kind3 und Kind4) und „Mit und ohne Worte“ zum Thema Kommunikation (mit Kind5) besucht. Im Vergleich muss ich leider sagen, dass mir bei der aktuellen Ausstellung des Öfteren der Bezug zur Kunst gefehlt hat, auch Kind5 hat gefragt, was dieses oder jenes denn nun mit Kunst zu tun hatte. Das Thema ist zweifellos sperriger als die Themen der beiden Ausstellungen, die ich vorher schon gesehen hatte. Gleichzeitig ist Spiel in einem Kindermuseum sowieso irgendwie immer mitgedacht. Vielleicht hätte es hier mehr Erklärung der Zusammenhänge gebraucht.

Gleich neben dem Eingang ist ein Schiff aufgebaut, in dem die Kinder herumklettern und von dessen Deck sie Papierflieger in den Raum starten lassen können. Weiter hinten im Raum befindet sich eine Kegelbahn. Erst kurz vor Ende unserer Zeit in der Ausstellung wurde mir klar, dass die Art, wie die Kugel auf die Kegel trifft, in den neben der Bahn an der Wand befindlichen Bilderrahmen als generative Kunstwerke dargestellt wird. Eine großartige Verbindung von Kunst und Spiel, die aber leider null erklärt wurde.

ein Regal mit Basteleien aus Knetmasse, von oben hängen an Schnüren Sonne und Planeten herab, an der hinteren Wand aus Knetmasse geformten Buchstaben das Wort „Weltraum“, unten eine bunte Landschaft mit mittig einem grünen Alien

In einem etwas abgetrennten Bereich können sich große und kleine Besucher:innnen mit Knetmasse austoben. Da hat sich mein inneres Kind ganz ordentlich gefreut. Auf den umstehenden Regalen waren unzählige Werke früherer Besucher:innen ausgestellt, teilweise thematisch gruppiert zum Beispiel „Essen“ oder „Weltraum“.

Im hintersten Raum waren Boden, Decke und Wände mit einem schwarz-weißen Raster tapeziert. An einem langen Tisch konnten die Kinder aus Bierdeckel-großen Kartonscheiben ihre eigenen Kreisel gestalten. Der Twist: auf dem Tisch waren Drehscheiben befestigt, darin eine Vertiefung für die Kartonscheiben. Wenn nun die Kartonscheibe auf der Drehscheibe gedreht wird, kann mit einem Stift von oben ein Spiralmuster auf der Kartonscheibe erzeugt werden. Anschließend werden die Kartonscheiben gelocht und mit einem Holzstab zu einem Kreisel verwandelt. Beim Drehen verwischen die Farben miteinander, das Auge kann aufgrund der Bewegung die einzelnen Farben nicht mehr unterscheiden. Hier wurden die Kinder vom Personal auch auf das Mischen von Farben miteinander aufmerksam gemacht.

auf einer goldenen Tischplatte liegen bemalte Kartonscheiben in verschiedenen Farben, teilweise mit Holzstäben zu Kreiseln gebastelt

Im schwarz-weiß-gerasterten Raum gab es in der Mitte auch noch einen versteckten Geheimraum (den wir ohne den Hinweis eines Mitarbeiters vermutlich nicht gefunden hätten). Darin erzeugten Spiegel eine Unendlichkeitsillusion. Hat mir mehr Spaß gemacht als den Kindern, die waren in aller Kürze schon wieder draußen.

Im abschließenden Gespräch mit den Mitarbeiter:innen fanden wir dann heraus, dass es wohl noch eine versteckte Spielebene gab, in der das anfangs erwähnte Schiff vor irgendeinem Unglück gerettet werden musste. Ein geheimes Rätsel, das mich vermutlich auch interessiert hätte, hätte ich auch nur irgendwas davon mitbekommen.

Insgesamt fand ich das Thema „Kunst und Spiel“ sehr spannend, wir haben wohl auch nicht alles gesehen bzw. ausprobiert (ich hätte auch gern ein Bild gekegelt, aber die Kegelbahn war konstant belagert). Die Ausstellung ist noch länger zu sehen, auf der Webseite steht aktuell kein Enddatum. Die nächste Mitmach-Ausstellung soll sich dann mit dem Thema „Donau“ befassen, so wurde uns zum Abschluss verraten.

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English Roman

Dan Simmons – Phases of Gravity

CN: sexuelle Handlungen, Waffen, Tod einer Partnerperson, Begräbnis


Baedecker felt a brief lifting of spirit. Here in the high, thin air the demanding gravity of the massive planet seemed slightly – ever so slightly – lessened.

In letzter Zeit hatte ich ja bereits öfter darüber gejammert, dass mich meine Notizen so im Stich lassen. Bei diesem Buch fällt das noch mehr ins Gewicht, weil es mir nämlich nicht besonders gefallen hat und ich nun wirklich gerne wüsste, wo diese Empfehlung hergekommen ist. (Ich habe Lithub im Verdacht, habe aber nichts Konkretes finden können.)

Baedecker could remember the first real crash of lightning, which, in an uncanny instant of suspended time before everyone ran for shelter, froze people, cars, benches, grass, buildings, and Baedecker himself in a stroboscopic flash of light that briefly made all the world a single frozen frame in an unwatched film.

Weil ich Ablenkung brauchte, bin ich in das Buch einfach reingesprungen und war relativ schnell ziemlich genervt. Es wird immer wieder zwischen verschiedenen Zeiten und Orten gesprungen und nicht mal eine Leerzeile trennt diese Teile voneinander. Da verabredet sich der Protagonist in einem Satz mit seinem Sohn zum Essen und im nächsten Satz ist es eine Woche später und er sitzt im Flugzeug. Nicht nur, dass diese Sprünge nicht mal eine Leerzeile wert sind, es wird auch einfach viel weggelassen bzw. einfach nicht erzählt. Da springt der Protagonist in einem Paraglider von einer Klippe (was immerhin das Ende eines Kapitels ist) und im nächsten Kapitel hat er davon zwar eine Beinverletzung davon getragen, aber der Rest wird einfach übersprungen. Ob die fehlenden Leerzeilen bei Orts- und Zeitsprüngen eine künstlerische Entscheidung sind oder der späteren Erstellung des eBooks geschuldet, bleibt unklar, ich fand es jedenfalls extrem anstrengend.

Scott did not seem to be listening. He pushed the hair out of his eyes and frowned in concentration. “Sometimes I prayed that you wouldn’t go, and sometimes I prayed that you wouldn’t die up there …” Scott paused and looked right at his father. “But most of the time, you know what I prayed? I prayed that when you did die there, they’d bring you back and bury you in Houston or Washington, D.C., or somewhere so I wouldn’t have to look up at night and see your grave hanging up there for the rest of my life.”

Der Inhalt? Ein ehemaliger Astronaut hat eine schlechte Beziehung zu seinem Sohn. Er besucht ihn in Indien, um ihn aus den Fängen eines Gurus zu retten (was ihm erst später im Buch mit einem Hubschraubereinsatz gelingt). Der Sohn lässt den Vater abblitzen, stellt ihm aber noch seine Freundin vor. Mit der der ehemalige Astronaut dann auch eine Affäre beginnt (das war der Moment, wo ich mir sicher war, dass das Buch schon älter sein muss, sowas würde heute wohl kaum mehr geschrieben). Dass später herauskommt, dass der Sohn das wohl absichtlich eingefädelt hat, weil er dachte, die beiden würden gut zusammenpassen, macht das Ganze auch nicht mehr viel besser. Wir lesen also über die Midlife-Crisis eines weißen Mannes, der alle wichtigen Beziehungen in seinem Leben seiner Karriere geopfert hat und nun versucht, Gräben zuzuschütten.

There’re places of power – yeah – no doubt about that. […] You have to help make them. You have to be in the right place at the right time and know it. […] Even places of power are useless unless you’re prepared to bring something to them.

Viele Worte, um auszudrücken, dass das Buch einfach nicht für mich war. Wenn ich doch nur noch wüsste, woher das auf meine Liste gekommen ist …


Ende November besuchte ich mit dem Fotografen die Werkschau zur Fotografin Mary Ellen Mark in der Galerie Westlicht. Mich hat wohl der Titel The Lives of Women angesprochen und den Fotografen muss ich zu Fotoausstellungen ja sowieso nicht überreden ;-)

[Anmerkung: Alle weiteren Zitate entstammen dem Ausstellungstext.]

Ausstellungsansicht, rechts im Vordergrund hängt an einer Wand ein Bild mit Batman und drei Kindern in Prinzessinnenkostümen, weiter hinten im Raum ein großes Bild, das eine Frau draußen zeigt

Mary Ellen Mark gilt „als eine der wichtigsten Vertreter:innen einer humanistisch geprägten Dokumentarfotografie“. In ihrer Arbeit hat sie sich auf marginalisierte Personengruppen konzentriert und ist dabei tief in deren prekäre Lebenswelten eingetaucht. Für ihr erstes umfangreiches Langzeitprojekt verbrachte sie gemeinsam mit der Autorin und Therapeutin Karen Folger Jacobs sechs Wochen in der geschlossenen psychiatrischen Abteilung Ward 81 im Oregon State Hospital. Die beiden Frauen verbrachten den Alltag mit den Patientinnen und lernten diese in ihren vielen Facetten intensiv kennen.

Großes Interesse zeigt Mary Ellen Mark auch an der Welt des Zirkus und der Artist:innen. In Indien und Mexiko recherchierte sie tief ins Detail und „erhielt tiefe Einblicke in eine Welt, die von Mut, Gemeinschaft und Entbehrungen geprägt war“. Ein Bild aus dieser Serie hat mich besonders berührt. Es zeigt ein Mädchen im Volksschulalter, das auf dem Rüssel eines Elefanten sitzt. Sie trägt eine Art Bikini mit Metallverzierungen und Strümpfe, aber keine Schuhe. Mit dem linken Arm hält sie den Rüssel des Elefanten, sie lehnt auch ihren Kopf in diese Richtung. Die rechte Hand hält sie zur Faust geballt. Mit tief traurigem Gesichtsausdruck blickt sie in die Kamera, als würde sie innerlich anklagen, dass sie zwar fotografiert wird, aber dadurch ihr Leben nicht besser wird.

Ausstellungsansicht, an einer roten Wand hängen zwei Bilder, auf dem linken ist ein Kind zu sehen, das eine Blume an sein Gesicht hält, darunter ein Schaukasten mit dem Buch „Indian Circus“

Ein etwas weniger sozial brisantes Projekt sind Marks Fotografien von Zwillingspaaren. Dieses Projekt wurde von ihr vollständig selbst finanziert, um die größtmögliche Kontrolle zu bewahren.

Sie war fasziniert von dem Nebeneinander von Einzigartigkeit und Verbundenheit und dem Gedanken, dass sich trotz nahezu identischer Erbanlagen zwei eigenständige Leben und Persönlichkeiten entwickeln.

Einen großen Teil der Ausstellung bilden Portraits von Menschen aus vielen verschiedenen Regionen der USA. Sie fotografierte Menschen „bei Kinder-Schönheitswettbewerben und in Single-Bars“, schreckte aber auch vor Ku-Klux-Klan-Treffen nicht zurück. Mark selbst sagte, ihre Reisen durch Amerika hätten ihre Vision als Fotografin definiert. Gerade das konnte ich leider nicht nachvollziehen. Die Sammlung an Bildern aus mehr als drei Jahrzehnten, die keinem roten Faden oder auch nur einer Zeitlinie folgen, hat mich eher verwirrt zurück gelassen. Gleichzeitig hätte ich von den oben genannten thematischen Projekten wie Ward 81 und Indian Circus gerne mehr gesehen. Aber dazu müsste ich dann wohl die Bücher kaufen … Das habe ich soeben auf ihrer Webseite nachgeholt.

Die Ausstellung „The Lives of Women“ mit Werken der Fotografin Mary Ellen Mark in der Galerie Westlicht ist noch bis 16. Februar 2025 zu sehen.

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Roman

Teresa Präauer – Kochen im falschen Jahrhundert

CN: Andeutung sexueller Handlungen (keine grafischen Beschreibungen), Essen (inkl. Tierprodukte), Alkoholkonsum


Zwei Anläufe habe ich gebraucht, obwohl das Buch weder lang, noch langweilig, noch schwierig zu lesen ist. Trotzdem ging mir im Dezember einfach die Luft aus, es waren einige Tage, wo ich abseits der Erwerbsarbeit für nichts Konzentration übrig hatte. Und dann ist mir beim zweiten Lesen auch wieder der Großteil meiner Notizen verloren gegangen. Etwa bei der Hälfte konnte ich das Buch in der Onleihe-App nicht mehr öffnen (es bleibt beim Öffnen einfach beim Spinner hängen). Daher musste ich zum externen Reader wechseln und habe nun wieder nur Notizen zur zweiten Hälfte des Buchs. Was schade ist, weil ich viele Zitate notiert hatte, mit denen ich mein Verständnis des Buchs untermauern wollte …

Nachdem gleich mehrere Bloggerinnen, deren RSS-Feeds ich regelmäßig lese (Links folgen weiter unten), dieses Buch erwähnt hatten, war mein Interesse geweckt. Und dann konnte ich zuerst absolut gar nichts damit anfangen. Eine namenlose Gastgeberin bereitet eine Dinnerparty vor; in ihrer (nicht mehr ganz) neuen Wohnung möchte sie erstmals Gäste empfangen und fühlt sich dabei sehr erwachsen. Diese Dinnerparty findet im Verlauf des Buches mehrmals statt mit jeweils unterschiedlichen Vorzeichen (die Gäste kommen alle bzw. teilweise zu spät, einmal kommen später ungebetene Gäste dazu). Daraus ergeben sich dann auch unterschiedliche Verläufe der Abendeinladung.

Die Gastgeberin lachte. Was sie bloß so verunsichere an diesen Einladungen. Man müsse eben in Übung kommen, sagte ihr Partner, der selbst nicht in Übung war. Auf den Bildern sehe es so einfach aus. Als würden sich alle so leicht tun mit dem Leben, mit dem Genuss, mit den Freundschaften.

Gemeinsam haben diese unterschiedlich verlaufenden Dinnerparties, das sich die Gastgeberin immer wieder im falschen Jahrhundert fühlt, dies wird durch unterschiedliche Handhabung der altmodischen (aber gleichzeitig hochqualitativen) Kochschürze zusätzlich verdeutlicht. Das Gespräch dreht sich viel zu oft darum, was man heutzutage wie sagt oder überhaupt noch sagen darf, gerade der Schweizer hat dazu immer etwas beizutragen. Daraus erklärt sich auch, dass die Geschichte in Österreich stattfindet, denn:

Man sagte hier ja selten Stuhl, man sagte Sessel, zu Sesseln und zu Stühlen. Zu Sesseln wiederum sagte man ebenso gern Fauteuil.

Die Gastgeberin hat sich einen Plan zurecht gelegt, wie sie die Schale aus Büffelhorn, die sie von einer Konferenz in Nairobi mitgebracht hat, rechtfertigen kann. Die allgegenwärtige politische Korrektheit wird dermaßen auf die Spitze getrieben, dass ich manchmal nicht sicher war, ob vielleicht doch alles komplett satirisch gemeint ist. Auch die Social-Media-Kultur der heutigen Zeit wird zelebriert (oder karikiert?) in Gestalt der Ehefrau, die den gelungenen Abend mit Hashtags wie Best Friends Forever, Foodporn und Winelovers öffentlich im Internet anpreist.

Es kam ihr so vor, als hätte der Amerikaner sie wirklich gesehen, als hätte er in ihr Artischockenherz geblickt, als hätte er all die Zweifel, die sie hegte, und die Ansprüche, die sie an sich und die anderen stellte, darin ablesen können.

Zwischen der Erzählung der verschiedenen Versionen der Dinnerparty finden sich immer wieder kurze Kapitel mit Erinnerungen an frühere Erfahrungen mit Kochen, Essen und Genuss: erste eigene Küchenausstattungen, die unterschiedliche Küche der Großmütter- und Müttergeneration und österreichische Originale wie den Pfirsich-Spritzer, den ich in meiner Jugend auch konsumiert habe.

Eines dieser Zwischenkapitel widmet sich dem Trend Food-Fotografie und besteht aus einer Aneinanderreihung von in Worte gefassten Essensfotos, es könnten die (schlecht verfassten) Alternativtexte1 eines Foodporn-Hashtags sein. Ein anderes Kapitel erzählt Essenserinnerungen aus verschiedenen Reiseperspektiven, hier zum Beispiel junge Menschen unterwegs in China:

Erzähl von dieser Reise nach China, als ihr sehr jung gewesen seid! Ihr konntet weder die Sprache sprechen noch die Schriftzeichen lesen, und es gab damals auch kein mobiles Internet. Hungrig deutetet ihr auf die Wörter in der Speisekarte eines Restaurants. Und als ihr das Essen dann serviert bekommen hattet, wart ihr euch ganz sicher, so etwas wie Krokodil, Hund oder Schildkröte zu essen.

Eingestreut werden immer wieder die Songs, mit der eine algorithmisch generierte Playlist den Abend begleitet. Das kann ebenso als Demonstration von Kultur und Kultiviertheit verstanden werden wie die immer wieder genannten Designerstücke, zum Beispiel der dänische „Esstisch, in dessen Mitte eine Vase des finnischen Designers Alvar Aalto stand“.

Die Kaltmamsell sieht in diesem Buch ein „Sittengemälde mit bestimmten gesellschaftlichen Typen“ und findet kürzere Worte für Dinge, die ich oben bereits beschrieben habe („Instagramisierung des Lebens samt Hashtags, zeitgenössische Distinktion mit Statussymbolen und Markennamen“). Gleichzeitig nimmt sie das Buch zum Anlass, über ihre eigenen Erfahrungen als Gastgeberin zu reflektieren.

Jana nimmt in ihrer Buchbeschreibung einen feministischeren Standpunkt ein und sieht in beiläufigen Details (wie dem Nicht-Ausziehen der Schuhe, das der Gastgeberin Mehrarbeit verursacht) „die volle Wucht patriarchaler Ungerechtigkeiten“. Für sie ist die Schürze ebenfalls ein wichtiges Symbol und sie verweist auf „die komplizierten Weiblichkeitsvorstellungen/-rollen, die damit verbandelt sind“ und die von der Autorin außerdem mit „Social-Media-Performativität“ verbunden werden.

  1. Ein Alternativtext ist eine Bildbeschreibung, die von Screenreadern vorgelesen wird und visuelle Inhalte so auch für blinde Menschen zugänglich macht. Hier findet ihr einen umfangreichen Leitfaden zum Schreiben sinnvoller Alternativtexte und hier eine kurze Checkliste. ↩︎
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Roman

Jesmyn Ward – Salvage The Bones

CN: Naturkatastrophe (Hurrikan Katrina), Gewalt gegen Tiere, Hundekampf, Gewalt gegen Menschen, sexuelle Handlungen, Tod eines Elternteils, Alkoholmissbrauch


I will not let him see until none of us have any choices about what can be seen, what can be avoided, what is blind, and what will turn us to stone.

Eigentlich schreibe ich mir immer gern auf, warum ein Buch auf meiner Leseliste landet, wo der Tipp herkam, idealerweise mit Link und dem Text, der mich dazu gebracht hat, es lesen zu wollen. Eine Schwachstelle in meinem System sind die eReader-Apps der Bibliotheken auf meinem Telefon. Wenn ich ein empfohlenes Buch direkt dort finde und es auf meine Wunschliste setzen kann, dann entfällt die Notiz, woher der Tipp kam. In der Libby-App kann ich Tags vergeben, was aber nicht wirklich zu meiner Handhabung von Notizen passt, in der Onleihe-App habe ich überhaupt keine Möglichkeit gefunden, irgendetwas zu den Büchern zu notieren.

Nun habe ich viele Worte gebraucht, um zu erzählen, dass ich nicht mehr weiß, warum dieses Buch auf meiner Leseliste war. Es war weit unten in der Libby-App, da die neuen Bücher oben in die Liste kommen, muss es schon lange dort gewesen sein. Ich stürzte mich hinein, ohne nochmal nachzuforschen oder den Klappentext zu lesen. Achtung, es folgen Spoiler. (Ohne die kann ich über dieses Buch nicht schreiben.)

Das Buch erzählt die zehn Tage im Leben einer Familie, bevor Hurrikan Katrina ihre Welt aus den Angeln hebt. Im ersten Kapitel / am ersten Tag werden Hundewelpen geboren, später findet die einzige Tochter der mutterlosen Familie (die Mutter hat die Geburt des jüngsten Sprößlings nicht überlebt) heraus, dass sie schwanger ist. Der Hurrikan, auf den das Buch zusteuert, bleibt zuerst im Hintergrund. Alle fünf Personen der Familie sind mit ihren eigenen Sorgen beschäftigt (Schwangerschaft, Basketball-Camp, Machtkämpfe, die stellvertretend von Hunden ausgetragen werden). Das Ausmaß der Zerstörung übersteigt schließlich die schlimmsten Erwartungen.

Im Nachwort konnte ich erfahren, dass die Autorin den Hurrikan selbst erlebt hat. In gewisser Weise verarbeitet sie vermutlich in Romanform ihr eigenes Trauma. Das Buch wurde 2011 mit dem National Book Award For Fiction ausgezeichnet. Der Kategorie-5-Hurrikan hat im Südosten der USA massive Schäden angerichtet und sich damit wohl in die Herzen und Gehirne vieler Menschen eingebrannt. Dieses Buch legt davon Zeugnis ab. Es zeigt aber auch eine Familie, die sich bereits vor dem Hurrikan in einer schwierigen Lage befindet und im Verlauf der Geschichte näher zusammenfindet.

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English Roman

Fleur Jaeggy – Sweet Days of Discipline

CN: psychische Krankheit, Suizid, angedeuteter/möglicher Missbrauch von Schutzbefohlenen


Auf der Suche nach einer Geschichte, die mich nicht überfordern würde, scrollte ich wieder mal durch die Neuerwerbungen in der OverDrive eLibrary und wurde auf dieses Werk aufmerksam. Vor einiger Zeit waren dazu einige Artikel auf Lithub erschienen, unter anderem auch einer vom Designer des neuen Covers (das ich übrigens auch viel gelungener finde, als das, was mir mit dem eBook gezeigt wurde).

When you’re in boarding school you imagine how grand and fine the world is, and when you leave, you’d sometimes like to hear the sound of the school bell again.

Das Buch erzählt von einem Schweizer Mädcheninternat knapp nach dem Ende des 2. Weltkriegs. Töchter aus wohlhabenden Familien werden hier geparkt, um eine angemessene Ausbildung zu erhalten. Die namenlose Ich-Erzählerin schwelgt in den Erinnerungen an ihre Jugend, mäandert zwischen der Langeweile, dem Wunsch nach Freiheit und der Sicherheit, die das Leben in einem Internat mit sich bringt.

I liked German expressionism and the thought of the life, the crimes I hadn’t yet experienced.

Erst jetzt habe ich zur Autorin Fleur Jaeggy recherchiert, sie ist Schweizerin, hat das Buch ursprünglich (vermutlich) auf italienisch geschrieben. Auf ihrer Wikipedia-Seite springt mir der deutsche Titel Die seligen Jahre der Züchtigung entgegen. Das gibt mir ein vollkommen anderes Gefühl als der englischsprachige Titel Sweet Days of Discipline. Teilweise liegt es sicher an der Vertrautheit mit der Sprache, aber schon allein das Wort selig fühlt sich für mich deutlich stärker an, es hat eine religiöse, entrückte Komponente. Gleichzeitig erscheint mir auch Züchtigung als deutlich intensiveres Wort, es hat gewaltvolle Anklänge, ich denke an einen strengen Lehrer, der seinen Schüler:innen mit dem Lineal auf die Finger klopft. Dann sind es Jahre im deutschen Titel, Tage hingegen im englischen Titel. Wie es zu dieser Übersetzungsentscheidung kam, würde mich wirklich interessieren.

Die allgemeine Begeisterung für das Buch kann ich nicht teilen, ich wurde mit der Erzählerin einfach nicht warm. Ich fühlte mich erinnert an Ottessa Moshfegh – My Year of Rest and Relaxation, wo es mir ebenfalls so ging, dass ich mit der Protagonistin nichts anfangen konnte und den Hype um das Buch nicht verstand.

Das Ende hat mich in zweierlei Hinsicht überrascht.

  • Erstens, weil es sehr unerwartet kam, wie so oft folgten nach dem Ende der eigentlichen Geschichte noch unzählige andere Informationen (zur Autorin, zum Copyright und ein Haufen Werbung), die ganze neun Prozent des gesamten Buchs ausmachten. Ich wünschte wirklich, ich könnte im eBook-Reader vorab sehen, wo die eigentliche Geschichte endet.
  • Zweitens, weil das Ende aus einer unerwarteten Einsicht besteht, die die glorifizierte Zeit der jugendlichen Disziplinierung in ein neues Licht rückt.
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Roman

Valerie Springer – Ein paar Tage in einer fremden Stadt

CN: sexueller Missbrauch und Gewalt in der Familie, Unfalltod einer geliebten Person, Alkohol- und Drogenmissbrauch, Sexismus


Er sah sein Leben, seine bisher verbrachten Jahrzehnte, plötzlich wie auf einem Computerbildschirm, aufgespalten in herunterfallende Tetris-Blöcke, die er verzweifelt und unter immer größerem Zeitdruck ineinander verschachteln musste. Wenn er es nicht schaffte, würde er verlieren. Würde er sich selbst verlieren, vollständig. Game over.

Wieder mal ein Buch aus der Kategorie Literatur-Geocache, irgendwie funktioniert meine Organisation da gerade am Besten. Das Buch erzählt auf zwei Zeitebenen vom Leben des Protagonisten Hubertus, dessen hervorstechende Eigenschaft ein absoluter Geruchssinn ist. Die Leser:in erfährt vom jugendlichen Hubertus, vom Vater gegängelt und unterdrückt, Hubertus unfähig, sich aufzulehnen, die ältere Schwester Sophia selbst Opfer des Vaters, die Mutter passiv und hauptsächlich darauf bedacht, die Fassade zu wahren („Man bewahrte Stillschweigen über die Abgründe der anderen.“). Erst die Liebe zum Lehrmädchen Lucy lässt Hubertus aufwachen und seine Haltung zum Leben hinterfragen.

Arbeit war seine Methode, um durchzuhalten. Es war dies die Methode vieler, vielleicht der meisten Menschen. Es war keine schlechte Methode, aber es gäbe auch andere.

20 Jahre später gibt Hubertus einem spontanen Impuls nach und fährt zu einem Vortrag nach Florenz. Dort lernt er Kalliope kennen, deren Geruch Hubertus an seine frühere Liebe Lucy erinnert. In Rückblenden erfährt die Leser:in von Lucys Schicksal und erlebt mit, wie Hubertus an seinen Lebensentscheidungen zu zweifeln beginnt. Er ist Geruchsforscher geworden, hat aber entschieden, im Privaten seinen Geruchsempfindungen nicht zu folgen und diese auszublenden oder sogar gezielt zu übertünchen. Dadurch hat er sich von der Welt quasi abgegrenzt, ohne dies überhaupt zu bemerken.

Die Begegnung mit Kalliope wühlt Hubertus auf und lässt ihn hinterfragen, ob er seine Kindheit und Jugend wirklich hinter sich gelassen hat. Ein Versuch, die Puzzleteile eines Lebens neu zusammenzusetzen, damit sie ein anderes Bild ergeben.

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Roman

Anni Bürkl – WinterHerzTheater

CN: –


Wenn euch gerade nach einem „Comfort Read“ mit winterlichem bzw. weihnachtlichem Thema ist, seid ihr hier gut aufgehoben. Mich hat die Lektüre äußerst erfolgreich von allem anderen Drumherum abgelenkt.

Sally und Harald bewerben sich beide für die letzte freie Rolle in einer Laientheaterproduktion von Biedermann und die Brandstifter. Während die Zusammenarbeit im Theater sperrig startet und sich Stück für Stück verbessert, geht es mit Sallys Erwerbsarbeit als Rezeptionistin in einem noblen Wiener Hotel stetig bergab. Dort trifft Sally auf originelle Menschen wie einen vermeintlichen Kaiser und muss sich mit den Vorstellungen ihrer Chefin herumschlagen, die unter anderem eine spezielle Vorstellung von Weihnachtsdekoration hat. Die Leser:in darf sich also auf amüsante Begegnungen und adventliche Wiener Weihnachtsromantik freuen.

Eine Beschreibung des Buchs findest du auch auf der Webseite der Autorin Anni Bürkl.

Disclaimer: Ich bin mit der Autorin auf Mastodon bekannt und durfte eine Vorab-Version dieses Buchs testlesen. Es ist in keine Richtung Geld geflossen, ihr lest hier wie immer meine persönliche Meinung.

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Roman

Ulla-Lena Lundberg – Eis

CN: Tod eines geliebten Menschen, Andeutung sexueller Handlungen, Geburt


Ein weiterer Beitrag aus der Reihe Literatur-Geocaches. Das Buch erzählt von den Schären-Inseln im finnischen Åland und beschreibt das Leben der Bewohner:innen in dieser autonom verwalteten Gegend in der Nachkriegszeit. Es ist eine Gegend aus tausenden versprengten Inseln, von denen nur wenige bewohnt sind (60 von 6757 lt. Wikipedia). Transport findet per Boot und Fahrrad statt, nur wenn im Winter das Eis zufriert, sind die Wege zwischen den Inseln mittels Schlitten einfacher zu absolvieren als während des restlichen Jahres.

Die Geschichte beginnt mit der Ankunft des neuen Pfarrers, seiner Frau und seiner Tochter und erzählt im Verlauf der Jahreszeiten, wie sich das Paar einlebt und mit den Einheimischen in Kontakt kommt. Die Pfarrersfrau Mona kann nur als tüchtig beschrieben werden. Sie kümmert sich um alles, was zu erledigen ist, melkt sogar hochschwanger noch die Kühe und lässt sich weder vom Wetter noch von anderen Umständen aus ihren Ritualen bringen. Dieses strenge Regime erstreckt sich nicht nur auf sie selbst. Von ihren Kindern erwartet sie gleichsam ein widerspruchsloses Einfügen in die vorgegebenen Umstände.

Er selbst fühlte sich dem gegenüber wie ein neugeborenes Kind und voll widerstrebender Gefühle. Einerseits hätte er den Vorfall entschieden missbilligen und verurteilen sollen, andererseits war er eine Manifestation jenes Anarchismus und der pragmatischen Einstellung gegenüber den auf dem Festland geltenden Gesetzen, die ihn so amüsierte und stolz auf seine souveränen Insulaner sein ließ.

Pfarrer Petter selbst hat damit zu tun, sich um seine Gemeinde zu kümmern. Er verlässt sich darauf, dass seine tüchtige Frau alles andere für ihn regelt. In die Kindererziehung mischt er sich nicht ein, obwohl er selbst nicht ganz so streng mit den Töchtern umgehen würde. Auch mit den Mitgliedern seiner Kirchengemeinde pflegt er einen eher verständnisvollen als strengen Umgang, wie das obige Zitat veranschaulicht. (Es geht dabei um eine Kiste mit Schnaps, die aus dem Meer gefischt und vor den gestrengen Augen des Pfarrers nur halbherzig versteckt gehalten wurde.)

Es passiert viel und gleichzeitig wenig. Ein Einblick in eine Lebenswelt, die heute wohl so nicht mehr existiert und auch zur damaligen Zeit eher außergewöhnlich war.

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Roman

Paolo Bacigalupi – Versunkene Städte

CN: Krieg, Gewalt, Tod, Waffen, Klimakatastrophe
(leider sind meine Notizen verloren gegangen, kann daher keine vollständigen CN-Angaben machen)


Wieder mal habe ich versagt, was die Pflege meiner Notizen angeht, ich weiß nicht mehr, wo der Tipp zu diesem Buch bzw. dem Autor hergekommen ist. Und dann hab ich auch noch den Post verschleppt, das Leben hat sich wieder mal dazwischen gedrängt. Das eBook wurde automatisch retourniert und in der Onleihe bleiben die gesetzten Bookmarks und Markierungen leider nicht erhalten (in OverDrive/Libby geht das erfreulicherweise, bei einem erneuten Download sind die Notizen wieder da).

Die Geschichte spielt in einer von der Klimakatastrophe gezeichneten Welt, deren dystopischer Charakter die Entscheidungen der Protagonist:innen dominiert. Eine deutliche Trennung besteht zwischen der reichen, besser gestellten Gesellschaft, die sich im Norden hinter Mauern verschanzt und die leidende Bevölkerung im Süden sich selbst überlässt. Hier herrscht das Recht der Stärkeren, die versunkenen Städte werden von mehreren verfeindeten Armeen umkämpft.

Hier kämpfen auch Mahlia und Mouse, nämlich ums Überleben. Doktor Mahfouz hat die beiden jugendlichen „Kriegsmaden“ (so werden durch den Krieg verwaiste Kinder bezeichnet) gegen den Widerstand der Dorfbewohner:innen bei sich aufgenommen und bildet Mahlia als seine Assistentin aus. Mahlia wurde als Tochter eines Friedenswächters (bei diesem Begriff verspürte ich starke Anleihen an Panem) geboren und gilt damit mehreren Kriegsparteien als Verräterin. Ihr wurde ein Arm abgeschlagen, was sie zusätzlich als Ausgestoßene kennzeichnet.

Als Soldaten auf der Jagd nach dem Halbmenschen Tool das Dorf heimsuchen, bricht die fragile Lebensgemeinschaft auseinander. Tool wurde als Kreuzung zwischen Mensch und Hund erschaffen und zur Kriegsmaschine ausgebildet, hat sich aber nun von seinem Herrn losgesagt und ist auf der Flucht. Nach einem Kampf mit einem Alligator ist er dem Tod nahe und wird von Mahlia gegen den Widerstand von Mouse gerettet. Bereits hier zeigt sich der Loyalitätskonflikt, der den weiteren Verlauf der Geschichte prägen wird: Soll Mahlia die knappen Medikamente für die Rettung des Halbmenschen verwenden („verschwenden“ wäre Mouse’s Bezeichnung dafür)? Fühlen sich Mahlia und Mouse der Dorfgemeinschaft verbunden oder sollen sie das Dorf den marodierenden Soldaten überlassen, um ihr eigenes Leben zu retten?

Mahlia flüchtet gemeinsam mit Tool, Mouse wird von den Soldaten rekrutiert. Zwei Kapitel später wird er nur noch Ghost genannt, ein deutliches Zeichen dafür, wie ihn die erzwungene Gemeinschaft mit den anderen Soldaten vereinnahmt. Doch nun spürt Mahlia Gewissensbisse und macht sich auf, um Mouse aus den Fängen der Armee zu befreien. Auch Tool fechtet Solidaritätskonflikte mit sich selbst aus: Ist er Mahlia etwas schuldig, weil sie ihm mit Medikamenten das Leben gerettet hat? Kann er ihr überhaupt vertrauen nach all den negativen Erfahrungen, die er mit Menschen bereits gemacht hat?

Immer wieder stehen Mahlia, Mouse und Tool vor der Frage, ob jetzt jede:r nur für sich selbst kämpft oder ob es besser ist, beim Versuch, die Freundin/den Freund zu retten, selbst umzukommen. Wie können wir weiterleben, wenn wir, um zu überleben, unsere Lieben im Stich lassen müssen? Ein nachdenklich machender Blick in eine düstere Zukunft; die Verweise auf die Klimakatastrophe, die diese Welt entstehen hat lassen, sollten ein deutlicher Aufruf sein, dass es niemals zu spät sein darf, endlich etwas zu ändern.

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Roman

Barbara Kadletz – Im Ruin

CN: Trauer, Verlust eines geliebten Menschen, Drogenmissbrauch, Krankheit, Krebs, sexuelle Handlungen


»Zeitpunkt«. Es war ganz einfach. Er musste bloß den Zeitpunkt finden. Den Moment, in dem er seine Leichtigkeit verloren hatte. Und wenn er den Moment dann erwischt hatte, würde sich bestimmt alles auflösen.

Letztens war ich endlich mal wieder in der Hauptbücherei. Meine Merkliste wird ständig länger, daher ging ich diesmal gleich mit 6 Büchern nach Hause. Das eine oder andere hat eventuell was mit Geocaching zu tun, diesmal sogar von zwei verschiedenen Seiten. Aber dazu mehr in einem späteren Post …

Auf dieses Buch war ich also auch durch einen Literatur-Geocache gestoßen. Ich hatte es lange auf der Merkliste, bisher war es immer entliehen. Zurecht, wie sich herausstellte, es ist ein ganz wunderbares Buch. Das titelgebende Lokal „Im Ruin“ ist für die Wirtin Katharina ein Zufluchtsort, in dem sie sich mehr zuhause fühlt als in ihrer Wohnung, wo sie hauptsächlich zum Schlafen hingeht. In ihrem Lokal verbringt sie die Zeit mit ihrer Freundin Sabina, die ebenfalls dort arbeitet, und ihren Stammgästen, zu denen sich schließlich der geheimnisvolle Ari (zuerst 19-Uhr-Mann genannt) gesellt.

In Rückblenden wird erzählt, wie Katharina das Ruin gemeinsam mit ihrem früheren Partner David gegründet hat. Sein Tod durch Lungenkrebs hat Katharina tief getroffen. Bis sie jedoch erkennt, dass sie das Ruin zu einem Mausoleum gemacht hat, in dem der Geist von David die Gegenwart verdrängt, vergeht einige Zeit.

Die vielen Anspielungen auf lokale Besonderheiten in Favoriten (wie zum Beispiel das Amalienbad oder der Böhmische Prater) verorten die Geschichte, die vielen popkulturellen Zitate aus Literatur und Musik geben einen zeitlichen Hintergrund und lockern die traurigen Momente der Geschichte auf.

Eine einfache „Lösung“, um über den Verlust eines geliebten Menschen hinwegzukommen, gibt es nicht, das macht auch dieses Buch klar. Es zeigt aber einige Wege auf, die nicht zum Ziel führen und warnt damit davor, die Gegenwart und Zukunft unter der Vergangenheit zu begraben. Während Katharina eine deutliche Entwicklung durchmacht, bleibt unklar, was sich durch die Freundschaft für Ari verändert hat. Sowohl seine Lebenskrise als auch deren Entwicklung sind deutlich schwammiger beschrieben als jene von Katharina. So bleibt auch am Ende offen, wie es für ihn weitergeht (zumindest im privaten Bereich). In diesem Sinne ist es ein Buch der Möglichkeiten. Möglichkeiten, die sich erst auftun, wenn wir die Vergangenheit vergangen sein lassen können – vergangen, nicht vergessen.