Categories
Krimi Roman

Ursula Poznanski – Stimmen

CN: Mord, Gewalt, Blut, psychische Krankheit, Krankenhaus, Trauma, sexuelle Handlungen


Dieses Buch hatte ich mir schon lange für den Urlaub aufgehoben, am Strand wollte ich mich nicht konzentrieren, sondern einfach nur in eine Geschichte versinken. Zweiter Vorteil war, dass ich das Buch aus dem Bücherschrank hatte und somit auch einfach an meine Reisebegleitung weiterreichen konnte.

Der Kriminalfall, den Bea Kaspary und ihre Kollegen (sie ist die einzige Frau im Team und meint ständig, sich behaupten zu müssen) zu lösen haben, erweist sich als komplex und interessant gestaltet, hier sehe ich deutlich die Stärken von Autorin Ursula Poznanski (auch bereits in Saeculum). Genervt hat mich hingegen die eingewobene Romanze mit einem der bereits erwähnten Teamkollegen. Der Verlauf dieser Beziehung war dermaßen vorhersehbar inklusive des Endlich-Miteinander-Ins-Bett-Fallens als kathartischer Augenblick nach einem tätlichen Angriff auf Bea. Nicht zu vergessen die Verletzung an der Hüfte, die ihr zwar beim Anziehen einer Jeans Schmerzen bereitet, aber dann wie durch Zauberhand bei der Bettakrobatik nicht stört.

Meine Reisebegleitung beklagte außerdem, dass viele Erzählstränge unaufgelöst bleiben, sie hätte sich gewünscht, auch über die weiteren Geschichten der Nebenfiguren zu lesen. Dass es sich bei diesem Buch um den dritten Band einer Serie handelt, habe ich erst im Nachhinein herausgefunden. Gut für mich, jetzt muss ich mich gar nicht erst bemühen, mit dem ersten Band anzufangen … Da müsste schon ein entsprechender Geocache daher kommen, den ich aber aktuell aus Gründen nicht extra suchen werde.

Categories
English Fantasy Roman

John Wiswell – Someone You Can Build a Nest in

CN: Body Horror, Gewalt, Blut, Mord, innere Organe, Gift, Trauma, Familiengewalt


It was some sort of love. Not the kind of love that made you plant your eggs in someone and turn them into a parent, but a kind of love.

Mein zweiter Lesewunsch aus der Liste der Hugo Award Nominees (am 16. August werden die Ausgezeichneten präsentiert) war dieses Werk, das auf LitHub da und dort empfohlen wurde. Ich wurde nicht enttäuscht, dieses Buch ist in meinen Augen ein Meisterwerk.

Schon zu Beginn wird klar, dass wir es mit einer außergewöhnlichen Protagonistin zu tun haben. Shesheshen ist ein shapeshifting monster, sie kann ihre Gestalt verändern und rastet gerade in Form eines Klumpens in einem unterirdischen Teich, als sie von Monsterjägern unsanft aus dem Winterschlaf geweckt wird. John Wiswell gelingt es hier ausgezeichnet, dass wir Leser:innen trotz der überaus gewaltsamen Notwehr, die Shesheshen den Eindringlingen entgegensetzt, sofort auf der Seite des Monsters stehen. Shesheshen folgt ihrer Natur und ernährt sich von organischer Masse anderer Wesen (Tiere oder Menschen) und fragt sich gleichzeitig, warum Menschen (die ja auch Tiere essen) diesen vor dem Konsum absurde Dinge wie Grillen oder Kochen antun. Wer ist hier eigentlich das Monster? Diese Frage begleitet uns zwischen den Zeilen und manchmal auch offensichtlich durch diese Geschichte.

Hers was a pain that made Shesheshen question what being a better person was.

Das Buch behandelt im Rahmen der Geschichte unzählige Aspekte unseres realen Lebens, die durch die Metapher des Monsters Shesheshen eine andere Perspektive ermöglichen:

  • Shesheshen kann ihre Körperform verändern und somit als Mensch „passen“ (engl. passing, eine Begrifflichkeit, die von Trans* Menschen verwendet wird, um zu bezeichnen, dass sie von anderen in ihrer wahren Geschlechtsidentität wahrgenommen werden).
  • Außerdem hat Shesheshen Schwierigkeiten, Gesichtsausdrücke zu interpretieren, Emotionen in Gesprächen wahrzunehmen und gesellschaftliche Konventionen zu verstehen (ein deutlicher Hinweis auf Autismus).
  • Zum Zweck der Fortpflanzung entwickelt Shesheshen in ihrem Körper einen Sack mit Eiern, ihr Instinkt sucht nach einem menschlichen Körper, in dem sie diese Eier platzieren kann. Die daraus entstehenden Fortpflänzchen würden dann den Körper, in dem sie ausgebrütet wurden, nach dem Schlüpfen aufessen (es gibt Insekten, die ihre Eier in Körper legen, damit wollte ich mich aus Gründen nicht ausführlicher befassen). Später im Verlauf der Geschichte erzeugt Shesheshen versehentlich ohne Mitwirkung eines anderen Wesens einen Ableger (im Englischen wird von offspring geschrieben, mir erscheint Ableger hier als sinnvollstes deutsches Wort), der sich als außerordentlich widerspenstig und wehrhaft erweist.
  • Homilys Beziehung zu ihrer Familie ist geprägt von unterschiedlichen Traumata, sie wird sowohl vom despotischen Familienoberhaupt (der Baroness) als auch von ihren Geschwistern ständig als nutzlos und minderwertig bezeichnet. Egal was sie tut, sie wird von ihren Familienmitgliedern ausschließlich kritisiert und lebt unter dem ständigen Druck, sich zu beweisen.

Zusammengefasst ist Shesheshen durch ihre Wesenheit als Monster das personifizierte Anders: Sie passt nicht dazu, sie wird gejagt und verleumdet (den Fluch, der ihr angelastet wird, hat sie niemals ausgesprochen). Menschliche Wesen, die ja selbst soviel Grausames und Gewaltsames tun, bezeichnen Shesheshen, die eigentlich nur in Ruhe ihrem Leben nachgehen will, als Monster. In der Beziehung zwischen Shesheshen und Homily zeigt sich dafür deutlich, wie liebenswert Shesheshens vermeintlich andersartige Eigenschaften eigentlich sind.

Das alles wäre nicht genug für einen Jubel über dieses Buch, wenn es nicht noch einen interessanten Verlauf der Geschichte (story arc) dazu gäbe. Da und dort sind Spuren bekannter Entwicklungsverläufe zu entdecken, die überraschenden Wendungen fügen diese aber zu einer fortlaufend mitreißenden Geschichte zusammen. Schön fand ich auch, dass das Ende kein klassisches Happy End ist, wo von einem Moment auf den anderen alles gut wird und die schlimmen Erlebnisse aus der Erinnerung verschwunden sind.

Ich bin gespannt auf die Hugo Award Ergebnisse, aus meiner Sicht hätte dieses Buch den Award auf jeden Fall verdient. Einen Nebula Award hat das Buch bereits 2024 gewonnen.


Randnotiz: Seit einiger Zeit befällt mich immer wieder der Gedanke einer Bestandsaufnahme meiner für 2025 gesetzten persönlichen Challenges (hier unten in der Randnotiz kurz angerissen). Das bisherige Ergebnis des Buchprojekts (#12in2025) ist nicht so schlecht, allerdings hat sich eine Flaute eingeschlichen. Bisher habe ich folgende Bücher zu Ende gelesen und verbloggt:

  1. Leon de Winter – Leo Kaplan
  2. John Steinbeck – The Pearl
  3. Terry Pratchett – Small Gods
  4. Thomas Birus – Was macht die Tiefkühlpizza knusprig?
  5. Janetta Rebold Benton – How To Understand Art

Seit Mai gibt es bezüglich der Challenge keine Fortschritte mehr, was an verschiedenen Faktoren liegt:

  • Eines der Bücher, die ich aus dem Regal der Ungelesenen genommen habe, hat mich an einer Stelle dermaßen verärgert, dass ich es bis jetzt nicht mehr in die Hand nehmen wollte. Das wäre jetzt eigentlich ein Kandidat dafür, es wegzugeben, aber ich schätze diese Autorin und habe mich nur über diese eine spezielle Aussage extrem aufgeregt. Das könnte sich natürlich alles noch relativieren, nur müsste ich das Buch im Prinzip nochmal von vorn anfangen … schwierig.
  • Book Club mit Hugo Award Nominees (Calypso, Alien Clay, The Ministry of Time und zuletzt das Buch, das ich oben besprochen habe)
  • Eine generelle Lesepause nach dem Abschluss von Sunrise on the Reaping
  • Das Leben hat mich viel mit anderen Dingen beschäftigt.

Wirklich problematisch ist das jetzt nicht, immerhin liegen noch einige Herbst-/Wintermonate vor uns, wo dann das Lesen auch wieder mehr in den Vordergrund rückt.

Interessanterweise bin ich auch in meine Geocaching-Challenge (#52in2025) stark gestartet und habe dann (unter anderem aufgrund des großen Vorsprungs, aber auch teilweise wegen oben bereits genannter Gründe) stark nachgelassen. Aktuell enthält die Liste der gefundenen Caches, die meinen Kriterien entsprechen 47 Geocaches, ich bin allerdings auch etwas umgefallen und habe neue gelöst (teilweise aber auch gleich wieder gefunden). Die zu reduzierende [AT] ?-Liste enthält nun noch 113 Geocaches. Auch hier erhoffe ich mir neuen Schwung vom Herbst, für den aktuell keine größeren Reisen mehr geplant sind.

Weil ich mit den beiden bereits genannten Challenges so einen guten Start hatte, habe ich versucht, dieses Modell auch auf einen anderen Lebensbereich anzuwenden und einen Anlauf gestartet, täglich zumindest einen kleinen kreativen Aspekt in mein Leben einzubringen (#creativeDaily). Dieses Experiment hat leider nicht so geklappt, wie ich mir das erhofft hatte. Einerseits könnte es mit dem täglichen Rhythmus zusammenhängen; es gibt einfach schon so viele Dinge, die täglich zu tun sind. Andererseits habe ich das Gefühl, dass meine kreativen Ideen so undefiniert sind, dass es zumeist schwierig ist, schnell zwischendurch etwas umzusetzen. Bereits zu Beginn hatte ich mir ein paar kreative Projekte/Ideen vorgenommen, damit ich immer eine Auswahl habe und daran arbeiten kann, wonach mir gerade ist. Das beinhaltet auch die Möglichkeit, dass ich unterwegs an Dingen arbeiten kann, die ich auf meinem Laptop oder Smartphone sowieso digital bei mir habe.

Was den täglichen Rhythmus angeht, probiere ich in einem anderen Bereich (regelmäßiges Stretching/Yoga) gerade ein 5/7- bzw. 4/7-Modell aus (5 von 7 Tagen bzw. 4 von 7 Tagen jede Woche). Das könnte vielleicht auch für das kreative Experiment interessant sein.

Um die Undefiniertheit der kreativen Projekte zu verbessern, denke ich über Dokumentation und Organisation nach. Zum Beispiel habe ich die Notizen zu meiner Romanidee im Moment an unterschiedlichen Stellen, das macht das Überblicken des aktuellen Stands und möglicher weiterer Tasks Schritte kompliziert. Für die tatsächlichen Bastelprojekte bestehen auch oft zeit- und/oder ortsgebundene Schritte, wie zum Beispiel notwendige Materialeinkäufe. Diese fühlen sich dann nicht wie kreative Tasks (ich möchte sie eigentlich nicht Tasks nennen, mir fällt aber kein passendes Wort ein) an, obwohl sie eigentlich Schritte auf dem Weg zum Ziel darstellen.

Jedenfalls habe ich hier an mir selbst bewiesen, dass Gamification als Motivationsstrategie funktioniert. Es macht mir Spaß, Dinge auf Listen abzuhaken, Sterne oder Medaillen für vollendete Meilensteine zu sammeln und meinen Erfolg langfristig beobachten zu können. Alles nichts Neues, aber wir müssen eben alle für uns selbst herausfinden, was für uns funktioniert. Eine Habit-Tracker-App probiere ich auch gerade (wieder mal) aus. Es darf nur das Protokollieren der erledigten unternommenen Schritte nicht zum Selbstzweck werden. Das gilt es auch im Blick zu behalten.

Categories
English Roman

Suzanne Collins – Sunrise on the Reaping

CN: Gewalt, Diktatur, Mord, Verlust geliebter Menschen, Erpressung


The Gamemakers must have been scrambling like crazy to control the narrative by this point.

Wochenlang dümpelte ich in der eLibrary-Warteliste für das neue Hunger-Games-Prequel herum, bis ich endlich an der Reihe war und mich in die Geschichte stürzen konnte, die erzählt, wie Haymitch Abernathy die 50. Hunger Games gewinnt. Mit der Auswahl der Zeitebene und der Protagonist:innen im ersten Prequel The Ballad of Songbirds and Snakes war ich nicht ganz zufrieden, obwohl die Geschichte viele überraschende Wendungen bereit hielt. Haymitch Abernathy, der zum Zeitpunkt der 74. Hunger Games, als Katniss Everdeen in die Arena zieht, ein trauriger Alkoholiker ist, der den jährlichen Hungerspielen nur beiwohnt, weil er als früherer Sieger dazu verpflichtet ist, war natürlich selbst einmal ein Tribut. Außerdem war er auch noch der erste Sieger aus Distrikt 12 nach 40 Jahren. Von der ersten Siegerin aus Distrikt 12 (siehe The Ballad of Songbirds and Snakes) sind nur noch vage Geschichten erhalten. Nun hat sich mein Wunsch erfüllt, zu erfahren, wie Haymitch als Jugendlicher im Jubeljubiläum gegen 23 andere Tribute antritt und zum Sieger der Hungerspiele wird.

Die Zeitebene zwischen den Original-Hunger-Games-Romanen (Band 1 & 2: 74. und 75. Hungerspiele) und dem Prequel (10. Hungerspiele) erlaubt der Autorin, aus beiden Richtungen bekannte Personen und Geschichten einfließen zu lassen. Als Leserin habe ich nicht nur innerlich gejubelt über die Auftritte von Beetee, Wiress und Mags, die im Jubeljubiläum der 75. Hungerspiele als ehemalige Sieger:innen nochmals antreten müssen und in diesem Prequel als Mentor:innen mitwirken. Einen grandiosen Starauftritt erhält auch eine der glamourösesten Figuren der Original-Romane: Effie Trinket. Aber auch einige der Protagonist:innen aus dem ersten Prequel aus Lucy Grays Covey-Verwandtschaft haben überlebt.

Von der Geschichte möchte ich nicht mal ein winziges Stück verraten, weil sie mir so gut gefallen hat und ich euch die Leselaune nicht verderben möchte. Diese Romanserie ist (schon allein wegen der detaillierten Gewaltszenen) nicht für alle das Richtige, mich hat sie jedoch so richtig gepackt. Nachdem Haymitch nun sein Prequel bekommen hat, kann ich mich nicht entscheiden, welche Geschichte ich nun als Nächstes lesen wollen würde. Wäre es spannend, mal einen Blick aus der Perspektive der „Carrieros“ aus Distrikt 1/2 zu erhalten? Wird Lucy Gray irgendwann wieder auftauchen? Eine interessante Geschichte hätte aber bestimmt auch die Person, der dieses Zitat zugeschrieben wurde:

[President Snow] can’t hurt me. There is no one left I love.

Categories
English Roman Science Fiction

Kaliane Bradley – The Ministry of Time

CN: Mord, Gewalt, Erwähnung 2. Weltkrieg und Holocaust, Gewalt gegen Tiere, thematisiert Rassismus, sexuelle Handlungen


Der nächste Eintrag zu unserem Mini-Buchclub zu den für die Hugo Awards nominierten Werken. Ich hatte auf Lithub (zB hier) Gutes darüber gelesen und wurde nicht enttäuscht. Das Thema Zeitreisen wird in der Literatur immer wieder aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet, viele davon fließen hier ein in Form des titelgebenden Ministeriums, das dafür sorgen soll, dass durch das erfundene Zeitreiseportal keine unerwünschten Effekte eintreten. Es sollen daher Menschen aus der Vergangenheit in die Jetzt-Zeit gerettet werden, die in ihrer Zeitebene ohnehin verstorben wären und ihre Abwesenheit daher dort keine Veränderungen bewirkt. Diese geretteten Menschen sollen sich in die Jetzt-Zeit eingewöhnen, dazu werden ihnen sogenannte menschliche „Bridges/Brücken“ an die Seite gestellt, die sie in die moderne Zeit begleiten sollen. Dieses wissenschaftliche Experiment wirkt zu Beginn recht positiv, die Proband:innen werden immerhin in ihrer Zeit vor dem Tod gerettet und erhalten die Chance auf ein neues Leben in der modernen Zeit. Dass sie dazu niemals ihre Zustimmung (oder Ablehnung) geben konnten, wird erst weit später in der Geschichte thematisiert.

Zu sehr steht zuerst im Vordergrund, wie sehr sich das Leben in den vergangenen Jahrhunderten verändert hat. Die ExPats müssen nicht nur mit der unbekannten Technologie, sondern auch mit der modernen Lebensart vertraut gemacht werden, was jede Menge Stoff für komische Situationen bietet. Erzählerin der Geschichte ist eine der als Brücken arbeitenden Personen, eine weibliche Stimme mit gemischt-rassigem Hintergrund, ihre Familie mütterlichseits stammt aus Kambodscha. Ihre Aufgabe ist es, den Expat „1847“, auch Commander Graham Gore genannt, zu betreuen und seine Eingewöhnung in die moderne Zeit zu unterstützen und zu überwachen. Graham Gore ist eine historische Persönlichkeit, er war Teil der Franklin-Expedition mit dem Ziel, die Nordwestpassage zu durchsegeln und so einen kürzeren Seeweg von Europa nach Asien zu finden. Die Expeditionsschiffe Erebus und Terror wurden im Eis eingeschlossen, es gab keine Überlebenden.

Lange beschäftigt sich die Geschichte mit den zwischenmenschlichen Aspekten der unterschiedlich verlaufenden Eingewöhnung der ExPats. Zuneigungen und Abneigungen entwickeln sich; unerwartete Charakterzüge kommen zum Vorschein. Die Beziehungen zwischen den Brücken und den ExPats entwickeln sich auf unterschiedliche Arten. Erst gegen Ende des Buchs erhöht sich das Tempo; Fragen, die (vom Ministerium) bereits beantwortet schienen, werden neu aufgeworfen und wachsen zu unüberwindbaren Gräben heran. Selbst Entscheidungen, die nach bestem Wissen und Gewissen getroffen wurden, können auf diese Art in ein neues Licht gerückt werden. Dabei wird auch thematisiert, wie unsere jeweilige Lebensgeschichte unsere Meinungen und Entscheidungen prägt.

Die Autorin pflegt einen extravaganten Schreibstil, der zum Hintergrund der Erzählerin als Übersetzerin im Verteidigungsministerium passt. Als Sprachenexpertin kann die Erzählerin Wörter verwenden, die sich meinem Englisch-Wortschatz entziehen, ohne dabei prätentiös zu wirken. Zu oft habe ich mir gewünscht, anstatt der Paperback-Ausgabe das eBook vor mir zu haben, in dem ich einzelne Worte einfach nachschlagen könnte. Gemischt wird diese Vielfalt mit den Sprechweisen und Dialekten der ExPats, die jeweils ihren eigenen Stil mitbringen. Graham Gores viktorianischer Ausdrucksweise wird dabei am meisten Platz eingeräumt, aber auch die anderen ExPats erhalten eigene Stilmerkmale.

Von mir eine herzliche Empfehlung dieses Buchs: Die Mischung aus dem Zeitreise-Thema mit der sich entwickelnden zeitüberspannenden Romanze, die sich innerhalb eines Behördenthrillers entspinnt, hat mich mitgerissen und persönlich berührt. Eine wilde Mischung, die unterhält und gleichzeitig nachdenklich stimmt.

But I wrote it down because I need you to bear witness to it. He was here, by and with me and in my body. He lives in me like trauma does. If you ever fall in love, you’ll be a person who was in love for the rest of your life.


Randnotiz: Einen Bericht mit vielen Fotos über unseren Hacktours-Besuch im Schildermalermuseum in Wien habe ich drüben auf der C3W-Webseite veröffentlicht.

Categories
English Krimi Roman

Walter Mosley – Devil in a Blue Dress

Randnotiz: Nach der Buchbesprechung findet ihr einen umfangreichen Bericht zu den aktuellen Ausstellungen des Zentrums für Kunst und Medien (ZKM) in Karlsruhe mit vielen Fotos.


CN (für Buch und Text zum Buch): Alkoholkonsum, Rassismus, Polizeigewalt, Mord, sexuelle Handlungen, sexueller Kindesmissbrauch, Erwähnung des 2. Weltkriegs (inkl. Holocaust, Antisemitismus, KZ-Überlebende)


But if he got a whiff of that thirty thousand dollars I knew that nothing would hold him back. He would have killed me for that much money.

In diesem Jahr hab ich mir einen Anlauf auf mehr Kreativität in meinem Alltag zum Vorsatz genommen. Das funktioniert mit wechselndem Erfolg. Da aber dazu gehört, dass ich einfach nicht aufhöre, auch wenn es mal eine Zeit lang nicht so gut klappt, ist das Projekt Experiment nach wie vor am Laufen.

Dieses Buch habe ich im Rahmen einer Recherche über das Leben in Los Angeles in den 1950er-Jahren gelesen. Das hat sehr gut funktioniert, ich habe viele Hinweise notieren können, in welche Richtungen ich weiter recherchieren kann. Und meine allererste Kernfrage (würde eine Frau im Alter von 22 Jahren mit einem Job in den Paramount Studios ein eigenes Auto gehabt haben?) konnte ich auch schon mit ziemlich guter Sicherheit beantworten: Ja, sie muss wohl ein Auto gehabt haben, sonst hätte sie diese Arbeit nicht machen können. Mosley schreibt in seinem Buch auch ganz deutlich, dass im damaligen L.A. jeder Weg mit dem Auto zurückgelegt wurde.

Neben den Rechercheergebnissen fand ich in diesem Roman eine interessante Hauptfigur vor: Easy Rawlins, schwarz, Kriegsveteran, Eigentümer eines kleinen Hauses (mit Hypothek natürlich), der versehentlich in die zwielichtige Gesellschaft gerät, aus der er sich nach seinem Umzug von Houston nach Los Angeles eigentlich fernhalten wollte.

Sehr verblüfft stellte ich erst nach der Lektüre fest, dass dieses Buch erst 1990 veröffentlicht wurde und der Autor nicht nur noch lebt, sondern auch für September 2025 ein weiteres Buch der Reihe angekündigt ist. Eine Krimiserie reizt mich ja immer sehr und jetzt habe ich auch noch Recherche als zusätzlichen Grund … es gibt jedoch auch noch andere literarische Kandidaten für diese Zeit und über die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse sollte ich mich eher in Non-Fiction informieren. Es gibt jedenfalls noch sehr viel zu lesen und lernen.


Während meines Besuchs der #gpn23 in Karlsruhe hatte ich auch die Gelegenheit, mir die aktuellen Ausstellungen des Zentrums für Kunst und Medien (ZKM) anzusehen. Drei thematisch sehr unterschiedliche Ausstellungsbereiche ringen aktuell um die Aufmerksamkeit der Besucher:innen. Ich habe im dritten Stock begonnen und werde im Folgenden die Ausstellungen auch von oben nach unten beschreiben.

zkm_gameplay – the next level

Pixelbild eines Geists aus dem Computerspiel Pac-Man, das Bild ist hauptsächlich schwarz, die Konturen des Geists bestehen aus unterschiedlichen Blautönen, die Augen schauen nach links, bei genauerem Hinsehen wird deutlich, dass das Bild aus einzelnen Buchstaben von Computertastaturen zusammengesetzt ist
Blue Guy (2020), Peter Schönwandt

Am Beginn werden die Besucher:innen von einem der Pac-Man-Geister begrüßt, ein Kunstwerk von Peter Schönwandt, das aus 4.339 Tastenkappen von Computertastaturen besteht. In weiterer Folge sind verschiedene Spielekonsolen aus den 1980ern und 1990ern zu sehen. An mehreren Stationen können auch ältere sowie neuere Spiele ausprobiert werden, angefangen von Commodore 64 und Atari über verschiedene Generationen von Nintendo– und Sega-Konsolen bis zu neueren Spielen wie Journey. Die Ausstellung zeichnet passend zum Thema mit verschiedenen Levels die Entwicklung der Computerspiele nach. Ein Fokus liegt dabei auf unterschiedlichen Eingabemethoden, die sich in den letzten 50 Jahren konstant weiter entwickelt haben.

Choose Your Filter!

zwei Reihen mit jeweils vier hochformatigen Bildern nebeneinander, zentrales Objekt ist jeweils der Kopf eines Dinosauriers, die Augen sind mit einem Balken mit dem Text „http://“ verdeckt, die Farben wechseln zwischen schwarz, weiß, schrillem gelb und pink, teilweise enthalten die Bilder auch zusätzlich Graffiti-Texte
Artzilla Siebdrucke (2009), Tobias Leingruber in Zusammenarbeit mit Seckel, DosenDave, Ewok

Im selben Stockwerk beschäftigt sich die Ausstellung Choose your filter! mit Browser Art seit den Anfängen des World Wide Web. Verschiedene Künstler:innen haben zum Beispiel Browser-Erweiterungen programmiert, die Webseiten anders interpretieren, als sie ursprünglich gedacht wurden. Zu sehen sind etwa verschiedene Varianten der Browser-Erweiterung Abstract Browsing von Raphaël Rozendaal. Diese Erweiterung ersetzt „die Elemente einer Webseite, also Texte, Bilder oder Videos, durch farbige Rechtecke“. Verschiedene Farbkombinationen wechseln nach dem Zufallsprinzip. Rozendaal wählt auch gezielt Kompositionen aus und überträgt sie in großformatige Textilwerke (Tapisserien). Diese ziehen in einer Ausstellung, in der viel auf Computerbildschirmen stattfindet, automatisch den Blick auf sich.

großformatiges Textilwerk, abstrakte Darstellung einer Browserseite mit Rechtecken in verschiedenen Farben, zu erkennen ist nur die Struktur der Webseite in drei nebeneinander liegenden Spalten, die jeweils eine Aufzählung mit einem quadratischen Symbol und daneben rechteckigen verschiedener Länge enthalten
Abstract Browsing (2014–2022), Raphaël Rozendaal

See You. Begegnungen mit der Kunsthalle Karlsruhe

Das mittlere Geschoss des Ausstellungsbereichs bietet einen Einblick in die Sammlung der Staatlichen Kunsthalle Karlsruhe, die aktuell wegen Renovierungsarbeiten geschlossen ist. Der Rundgang durch die Sammlung beginnt mit vielen sakralen Werken aus der Zeit etwa ab 1500. Altarbilder zeigen etwa Christus am Kreuz oder Maria mit dem Kind.

Blick in den Ausstellungsraum, an der hinteren Wand hängt ein dreitiliges Altarbild mit offenen Flügeln, in der Mitte die Kreuzigungsszene, rechts davon ein Bild in einem Säulenrahmen

Einige Werke, die mich beeindruckt haben:

Die Melancholie im Garten des Lebens von Mathis Gerung (1558): Allein vor einem weißen Vorhang hängt dieses Bild, das gleichzeitig an Bruegel und an moderne Wimmelbilder erinnert. Ich nahm mir Zeit, die vielen verschiedenen Menschengruppen und Tiere zu betrachten: üppige nackte Damen in einem Badebecken ohne Wasser, Ritter in Prachtkleidung, die im Begriff sind, aufeinander einzustechen, neben zwei Gauklern sitzt ein weißer Hund, einen Tanzbär habe ich entdeckt, viele Pferde sind ebenfalls zu sehen. Aus dem Ausstellungstext:

Gedankenverlorenes, törichtes Treiben beherrscht die Szenen im »Garten des Lebens«. In dessen Mitte kauert die Melancholie und sinnt schwermütig dem Sinn menschlichen Tuns nach. Das Werk ist ein einzigartiges Zeugnis für die Alltags-, Mentalitäts-, Sozial- und Kulturgeschichte des mittleren 16. Jahrhunderts.

ein brauner Bilderrahmen, das Bild zeigt verschiedene Gegenstände, die von einem roten Band an einer schwarzen Tafel gehalten werden, die Gegenstände (Feder, Schere, Brieföffner, Kette mit Medaillon, rotes Notizbuch, Brief, Kamm) wirken real, obwohl sie nur gemalt sind
Augenbetrüger-Stillleben von Samuel van Hoogstraten (1627–1678)

Augenbetrüger-Stillleben von Samuel van Hoogstraten (1627–1678): Diese hyperrealistisch (Trompe-l’œil) wirkende Abbildung einer Sammlung von Alltagsgegenständen hat meinen Blick sofort auf sich gezogen. Die dreidimensional wirkende Darstellung in harmonisierenden Farbtönen von crème, rot, ocker und braun ließ mich an meine eigene Pinwand denken, an der ich über das Jahr hinweg Fotos und Erinnerungsstücke sammle. Aus dem Ausstellungstext:

Täuschend echt anmutende Objekte sind hier dargestellt. Ihre Auswahl ist alles andere als beliebig. Einige weisen, wie ein Selbstbildnis, auf den Künstler selbst hin. Die Kette mit dem Porträt Kaiser Ferdinands III. ist Samuel van Hoogstratens Markenzeichen. Er gilt als Begründer des damals wie heute beliebten Genres der gemalten Steckbretter.

Ausschnitt eines Gemäldes mit vier unterschiedlich gestalteten Muschelgehäusen, die Farbgebung ist dominiert von perlmutt, schimmernden Rosa-, Braun- und Silber-Tönen
Ausschnitt aus „Stillleben mit Blumen und Goldpokalen“ von Clara Peeters (1612)

Stillleben mit Blumen und Goldpokalen von Clara Peeters (1612): Mir war bisher nicht bewusst, dass Stillleben, die nicht aus Blumen und Obst bestehen, einen derartigen Reiz auf mich ausüben könnten. Auf diesem Bild sind mir die Muscheln rechts unten aufgefallen. Jede der vier Muscheln hat eine andere Form und Färbung, die Darstellung ist unglaublich detailliert: Der rosa schillernde Farbrand der vordersten Muschel, der Lichtschimmer auf der zweiten Muschel, der Schwung des schwarz-silber gemusterten Gehäuses ganz hinten. Erst das Lesen des Beschreibungstexts machte mich darauf aufmerksam, dass in den Details des rechten Pokals die Spiegelung der Künstlerin zu sehen ist:

Alle Objekte sind übersichtlich auf einer Tischplatte arrangiert: Viele davon konnte man in barocken Kunstkammern finden. Plastisch, präzise und mit ihrem individuellen stofflichen Charakter hat Clara Peeters, eine frühe Vertreterin der Stilllebenmalerei, sie wiedergegeben. Sich selbst hat sie in den Spiegelungen des rechten Pokals verewigt.

Skulptur aus Bronze, auf einem Pferd reitet eine nackte weibliche Gestalt, sie trägt einen Kriegshelm und hat die rechte Hand mit dem Speer nach hinten gestreckt, mit der linken Hand drückt sie den Kopf des Pferdes zur Seite, damit der Speer freie Bahn haben wird
Reitende Amazone, den Speer schleudernd von Franz von Stuck (entworfen 1897, gegossen nach 1905)

Reitende Amazone, den Speer schleudernd von Franz von Stuck (entworfen 1897, gegossen nach 1905): Zwischen den Gemälden sind im Verlauf der Jahrhunderte immer wieder auch Skulpturen zu sehen. Auf mehreren Sockeln wurden aus Bronze gegossene Skulpturen von Franz von Stuck gezeigt. Speziell bei dieser Skulptur einer weiblichen Gestalt auf einem Pferd fiel mir ins Auge, wie detailreich die Körper der Frau und des Pferds gestaltet sind. Auf dem Foto ist nicht zu erkennen, wie klein diese Skulptur ist (64,5 x 46,6 x 17,3 cm), sie steht auf einem Sockel, um auf Augenhöhe betrachtet werden zu können. Umso bemerkenswerter erscheint es mir, wie detailreich die Anatomie von Pferd und Reiterin nachgebildet wurde.

Blick in den modernen Teil der Ausstellung, links ein modernes Bild in einem schlichten Rahmen neben einer Skulptur, die einem Kaktus ähnelt, dahinter im Raum eine Reihe an Bildern in dekorativen Goldrahmen, rechts im Vordergrund ebenfalls ein Bild in einem dekorativen Goldrahmen, daneben eine Skulptur eines menschlichen Körpers ohne Kopf

Außerdem ins Auge gefallen sind mir

Wenn ihr euch für diese Ausstellung interessiert, aber nicht die Gelegenheit habt, nach Karlsruhe zu kommen, dann empfehle ich euch die Touren auf der Webseite der Kunsthalle Karlsruhe. Eine Kombination aus Text, Bild und Audio lässt euch die Ausstellung aus verschiedenen thematischen Blickwinkeln erleben.

The Story That Never Ends – Die Sammlung des ZKM

Schon etwas erschöpft und mit Eindrücken überflutet gelangte ich wieder ins Erdgeschoss des Ausstellungsbereichs, in dem sich die aktuelle Dauerausstellung des ZKMs The Story That Never Ends speziell weiblichen und feministischen Perspektiven der Medienkunst widmet.

Skulptur aus sechs Monitoren, die kreisförmig um ein Zentrum angeordnet sind, die Mitte hat Ähnlichkeit mit einem Autoreifen ohne den Gummi, sie besteht aus Metall und ist mit koreanischen Schriftzeichen verziert, auf den Bildschirmen ist eine abstrakte Darstellung von Linien zu sehen
Canopus aus der Serie Planetarium (1990) von Nam June Paik

Die gezeigten Werke beinhalten Fotocollagen (zB die Serie „Phantom Limb“ von Lynn Hershman Leeson, in der sie weibliche Körper mit Technik verschmilzt), abstrakte Malerei, futuristisch wirkende Skulpturen (zB Canopus von Nam June Paik, in dem er „seine Vorstellungen von einem global zirkulierenden Bilderstrom“ durch das Medium Video sichtbar machte) und analytische Videokunst, die wie viele andere Objekte die gesellschaftlichen Auswirkungen des Massenmediums Fernsehen und dessen Einfluss auf die politischen Verhältnisse kritisch betrachten.

Informationen zu den Ausstellungen und Veranstaltungen findet ihr auf der Webseite des ZKM.

Categories
English Roman

Colleen Hoover – It Starts With Us

CN: Beziehungsgewalt, Gewalt von Eltern an ihren Kindern, sexuelle Handlungen


Die Fortsetzung zu Colleen Hoovers BookTok-Hit It Ends With Us. Um etwas Feuer Konflikt in die wieder aufflammende Romanze zwischen Lily und Atlas zu bringen, stellt die Autorin Atlas einen unbekannten kleinen Bruder zur Seite, was auch zu Begegnungen mit der abwesenden Mutter führt. Lilys Beziehung zu ihrem nun Ex-Mann Ryle und Vater der gemeinsamen Tochter Emerson wird durch die Entwicklungen zwischen Lily und Atlas natürlich auch nicht einfacher. Im Vergleich zum ersten Roman haben Lily und Atlas jedoch eine deutlich einfachere Zeit, die dominante Beziehungsgewalt von Ryle an Lily findet in deutlich abgeschwächter Form Ausdruck. Es bleibt jedoch das Wissen, dass Ryle als Vater von Emerson immer Teil von Lilys Leben sein wird und ein Auskommen irgendwie ermöglicht werden muss. Atlas bleibt „zu gut, um wahr zu sein“, er macht einfach alles richtig. Wie die beiden sich anhimmeln, ist manchmal schwer zu ertragen, es ist einfach irgendwie zu viel. Das war jedoch im Prinzip erwartungsgemäß und ich hatte mir das Buch genau deshalb ausgeliehen, weil ich gerade einen Eskapismus brauchte, also hat es schon gepasst.


Während meiner Reise nach Antibes im April 2025 besuchte ich auch das Musée de la Carte Postal. Es befand sich in der Nähe unseres Apartments und ich hatte es auf dem Heimweg vom Supermarkt zufällig entdeckt. An einem regnerischen Nachmittag ließ ich also den Hund in der Obhut des Fotografen zurück, um mir die Geschichte der Postkarten anzusehen. Als ich ankam, waren die Räume dunkel, ein älterer Herr saß am Eingang und überreichte mir auf meine Anfrage einen Audioguide (ein Android-Handy mit einer App darauf), betätigte die Lichtschalter und wies mir den groben Weg durch die zwei Räume der Ausstellung.

räumliche Ansicht des Postkartenmuseums, im Vordergrund steht ein Tisch mit einem Glaskasten darauf, in dem auf vier Ebenen spezielle Postkartenexponate betrachtet werden sollen, im Hintergrund sind die Wände mit hohen Schaukästen verkleidet, in denen reihenweise verschiedenste Arten von Postkarten ausgestellt sind

Am Anfang der Ausstellung werden einige Fakten zur Entstehung der Postkarte in nicht ganz chronologischer Reihenfolge präsentiert. Als Ursprung sieht die Ausstellung Telegrammkarten, die mittels Rohrpost zwischen Postämtern versandt wurden, diese enthielten jedoch weder Fotos noch Illustrationen. Als Erfinder der Postkarte gilt der Österreicher Emmanuel Hermann. Er soll die 1. Postkarte (betitelt mit „Correspondenz-Karte“) überhaupt im Jahr 1869 aus Wien versandt haben. In späterer Folge verhandelte er mit der Post einen Sondertarif für diese Karten, die ohne einen Briefumschlag auskamen und zum selben Preis unabhängig von der Entfernung im gesamten österreich-ungarischen Reich verschickt werden konnten („kurze schriftliche Mitteilungen nach allen Orten der Monarchie ohne Unterschied der Entfernung gegen eine Gebühr von zwei Neukreuzern“, Wikipedia). In der Ausstellung ist außerdem eine Karte mit der Einladung zum Begräbnis des Autors Victor Hugo aus dem Jahr 1885 zu sehen. Aus dem Jahr 1889 stammt die erste Postkarte mit einer Illustration, nämlich dem Eiffelturm. Es handelte sich um eine Karte anlässlich der Pariser Weltausstellung. Die erste Postkartenausstellung wurde 1899 in Nizza abgehalten. (Bei der Recherche habe ich in einem Auktionshaus eine Souvenirkarte von dieser Ausstellung gefunden. Der Rufpreis ist 40 Euro.)

Weiter wird erzählt, wie die Postkarte in den Jahren 1900 bis 1920 rasant populär wurde. Als Sammelobjekte wurden sie auf der Straße verkauft und in Alben gesammelt. Daraus entwickelte sich eine regelrechte Industrie, denn die Produktion von Postkarten schuf Arbeitsplätze für etwa Fotograf:innen, Illustrator:innen und Drucker:innen. Einzig die Briefträger:innen sollen nicht so begeistert gewesen sein von der zusätzlichen Arbeit. Die ersten Werbepostkarten kamen von den Druckereien selbst, die mit ihrem eigenen Produkt die Qualität ihrer Ware anpreisten.

Ab hier zeigt die Ausstellung viele Highlights der damaligen Postkartenkultur in einer groben zeitlichen Einordnung. Es folgen einige Beispiele, die mich besonders beeindruckt haben:

1905: Eine unbekannte Person hat Ansichtskarten mit Porträts von damaligen Celebrities (zB Kaiser Franz Joseph I. oder der Komponist Richard Wagner) im Archimboldo-Stil (Porträts aus Früchten und Pflanzen) gestaltet (davon konnte ich wegen der Spiegelungen im Glas leider kein ordentliches Foto machen).

2 Reihen von Postkarten, oben links die Vorder- und Rückseite einer Postkarte, auf der Vorderseite ein französischer Text und eine Schwarz-Weiß-Illustration eines Phonographen, aus dem Sprache erklingt, die Rückseite enthält den Schriftzug „CARTE POSTALE“ und Textfelder zum Eintragen der Adresse, rechts daneben drei Karten, bei denen eine schwarze Scheibe mit einem Loch in der Mitte das zentrale Element bildet, auf der Postkarte ganz rechts ist der Titel „NINA ROSA“, darunter Illustrationen von Katzen und Hunden, die in die Öffnung eines Grammophons hineinhören oder hineinbellen

Bereits im Jahr 1905 konnten auch Audioaufnahmen als Postkarte verschickt werden! Es gab sowohl Scheiben mit aufgenommener Musik (wie es heute noch bei Geburtstagskarten vorkommt) als auch die Möglichkeit, mit einem Phonograph eigene Sprachnachrichten aufzuzeichnen, um sie anschließend zu verschicken.

Postkarte anlässlich der totalen Sonnenfinsternis (Eclipse Total de Sol) am 30. August 1905, in der linken Textspalte sind die Uhrzeiten aufgelistet, an denen die Sonnenfinsternis an verschiedenen Orten zu sehen ist, in der rechten Spalte eine Auflistung von prognostizierten Eklipsen in späteren Jahren, der Hintergrund ist ein Text in Schreibschrift auf grauem Papier, rechts oben ein runder Ausschnitt mit einem Filter, durch den die Sonne betrachtet werden kann

Am 30. August 1905 war eine Sonnenfinsternis zu beobachten. In der Ausstellung findet sich eine Postkarte mit einem runden Ausschnitt und einem violetten Filter zum Durchschauen. Ich fühlte mich sehr erinnert an das große Sonnenfinsternis-Ereignis meiner Lebenszeit: die totale Sonnenfinsternis, die über Zentraleuropa am 11. August 1999 zu beobachten war. Obwohl dem Ereignis natürlich eine wochenlange Berichterstattung und Analyse vorangegangen war, war es trotzdem überraschend, als es finster wurde und tatsächlich die Vögel leiser wurden und auch sonst kaum Geräusche zu hören waren, weil alle einfach nur auf der Straße standen und zum Himmel schauten. Wir beobachteten von einem Parkplatz aus und auch die Mitarbeiter:innen des Supermarkts standen vor dem Eingang und schauten zu.

Ab 1907 durften Frauen in Paris beruflich Taxi fahren (also mit Pferdekutsche). Eine Serie an Fotografien dokumentiert diese Pionierinnen, die es sicher nicht leicht hatten in diesem vormals ausschließlich Männern vorbehaltenen Beruf.

3 Reihen von Postkartenmotiven, oben verschiedene menschliche Gestalten, die vor einem Weltallhintergrund abgebildet sind und auf dem Mond stehen oder sitzen, mittig querformatige Illustrationen von Menschenmengen auf Planeten, die das Ende der Welt feiern, unten hochformatige Ansichten, die Menschen in der Luft schwebend zeigen, einer reitet auf einem übergroßen Vogel, rechts schweben drei Personen an Schirmen über einem Stadtbild mit Fluss

Der Halley’sche Komet versetzte 1910 Menschen in Angst und Schrecken: Wieder einmal wurde das Ende der Welt erwartet und verkündet. Künstler:innen reagierten darauf mit surrealistischen Darstellungen von durchs All fliegenden Menschen, zum Beispiel mit Regenschirmen wie bei Mary Poppins. Auch Illustrationen aus anderen künstlerischen Stilen wie zB Art Nouveau (auch Jugendstil) wie etwa von Alphons Mucha sind auf Postkarten der Sammlung zu finden.

Mich hat der Besuch des Postkartenmuseums sehr inspiriert. Ich habe dort etwa zwei Stunden verbracht und den kompletten Audioguide durchgehört, obwohl mir das Format Audioguide eigentlich nicht so liegt. Seit ich dort war, habe ich Ideen für das Design von Postkarten(serien) im Hinterkopf und warte darauf, bis sich die eine oder andere klar materialisiert. Ausgestellt waren auch Serien von Postkarten zu Jahreszeiten, Monaten, Wochentagen oder sogar Uhrzeiten. Das passt zu einer anderen kreativen Idee, die ich seit einiger Zeit ausbrüte, vielleicht kommt da demnächst etwas heraus.

Categories
English Roman Science Fiction

Adrian Tchaikovsky – Alien Clay

CN: autoritäres Regime, Dystopie, Folter, Gewalt, Tod, Arbeitslager


Das zweite Buch unseres Minibuchclubs aus der Reihe der Hugo Award Nominees (das erste war Calypso).

Sometimes in order to escape the bad place you’re in, you have to go through trauma and hardship. Sometimes letting go of the barbed wire means tearing your skin some more, before you’re free.

Das Buch beginnt mit der Landung des Protagonisten Arton Daghdev auf dem Planeten Kiln, auf dem er als politischer Gefangener in einem Arbeitslager sein Dasein fristen soll. Schnell wird klar, dass die menschliche Welt von einem autoritären Regime beherrscht wird, dass nur The Mandate genannt wird. Als Akademiker war Daghdev auf der Erde Teil einer Widerstandsgruppe, die sich dem Regime entgegenstellte. Dabei störte ihn hauptsächlich die intellektuelle Unehrlichkeit des Regimes, das von der Wissenschaft einfache Antworten auf komplexe Fragen verlangt und Forschungsergebnisse, die nicht in ihr Weltbild passen, gnadenlos unterdrückt.

[…], but it was the intellectual dishonesty of the whole orthodox thing that galled me into action. 

Der Autor zeigt an verschiedensten Beispielen, wie ein oppresives Regime die Menschen unterdrückt. Kontinuierliche Überwachung, Manipulation von Geschehen und Geschichte, niemand kann dem anderen noch trauen, jede:r fragt sich ständig, wer ihn oder sie an das Regime verraten hat. Auch für treue Diener:innen des Systems bietet es keine Sicherheit. Ein bürokratischer Fehler kann genauso zur Verbannung ins Arbeitslager führen wie tatsächliche Revolutionsaktivitäten. Auch der Bias in Algorithmen und künstlichen Intelligenzen, der aktuell so häufig thematisiert wird, wird angesprochen: Wenn du einen Computer so programmierst, dass er etwas Bestimmtes erwartet, dann wird er es auch finden (selbst, wenn es nicht existiert). Dieser Faktor erscheint mir als zentral in der Debatte um Überwachung, die alle paar Jahre immer wieder aufflammt: Selbst wenn du dir nichts zuschulden kommen lässt, kann die Auswertung von Überwachungsdaten etwas finden, das dir dann zum Vorwurf gemacht wird. Anlasslose Massenüberwachung macht die Welt nicht sicherer. Es gibt keine Person, die nichts zu verbergen hat.

A blameless cog in the Mandate’s machine, until a bureaucratic error pointed the wrong finger at him. […] If you program your computers to expect wrongdoing, then they’ll most certainly find it.

Ein weiterer Schwerpunkt liegt auf der speziellen Beschaffenheit der Flora und Fauna auf dem Planeten Kiln. Ziel ist die Erforschung der Ruinen, die eine schriftliche Dokumente enthalten, die jedoch noch nicht entziffert werden konnten. Das Regime erwartet die Lüftung des Geheimnisses der Entstehung dieser Ruinen, es wird nach den Erbauer:innen geforscht. Gefunden wurde bisher jedoch nur eine sehr angriffslustige Biosphäre, von der aufgrund bisheriger Präzedenzfälle angenommen wird, dass sie Menschen in kürzester Zeit tötet oder verrückt macht. Mit den ausführlichen Beschreibungen von Pflanzen und Tieren konnte ich nicht so viel anfangen, irgendwie konnte ich mir die beschriebene Natur nicht bildlich vorstellen.

Bei ungefähr 70 Prozent des Buchs war ich mir vollkommen unsicher, wo die Geschichte noch hinführen könnte. Die Situation von Arton und den anderen Gefangenen wurde ständig hoffnungsloser, ein weiterer Revolutionsversuch scheitert aufgrund von Verrat, Artons Exkursionsgruppe verliert ihr Fluggerät und wird im Dschungel zurückgelassen. Ohne zu spoilern möchte ich sagen, dass mich das Ende sehr überrascht hat. Der Weg dorthin war vielleicht etwas länger als nötig, aber die Auflösung war sehr überraschend.

Weitere Erkenntnisse aus unserer Buchclub-Besprechung trage ich demnächst nach.

Categories
English Roman

Kaouther Adimi – A Bookshop in Algiers

CN: 2. Weltkrieg, Gewalt, Revolution, Kolonialismus


You will be alone; you have to be alone to get lost and see everything. There are some cities, and this is one, where any kind of company is a burden. You wander here as if among thoughts, hands in your pocket, a twinge in your heart.

Während ich darauf wartete, dass endlich das zweite Buch für unsere kleine Buchclubgruppe für mich frei würde, suchte ich nach einem Zwischenbuch, das kurz und noch dazu leicht zu lesen sein sollte. Bei der Suche nach einem Bookshop-Buch fiel mir dieses ins Auge. So leicht zu lesen war es dann gar nicht, aber dafür umso interessanter.

Auf zwei Zeitebenen wird die Geschichte eines fiktiven Buchgeschäfts in Algier erzählt. Gegründet von Edmond Charlot im Jahr 1935 wurde das Geschäft und der Verlag ein Ort der Zusammenkunft für Literat:innen und freie Denker:innen der damaligen Zeit. Der echte Edmond Charlot hat zwar einen Verlag gegründet, das Buchgeschäft ist aber soweit ich herausfinden konnte, eine Erfindung der Autorin Kaouther Adimi.

In Tagebuchform geben Charlots (fiktive) Texte Einblick in die algerisch-französische Politik vor und während des 2. Weltkriegs. Von 1830–1962 wurde Algerien von Frankreich besetzt und beherrscht. In kurzen Einträgen werden die politischen Veränderungen in dieser turbulenten Zeit beschrieben, unter anderem die Schwierigkeit, überhaupt an bedruckbares Papier zu gelangen.

Die moderne Zeitebene erzählt von der Demontage des fiktiven Orts im Jahr 2017. Protagonist Ryad kommt aus Paris nach Frankreich, um im Auftrag eines Investors das Geschäft auszuräumen und für sein neues Leben als Beignet-Shop vorzubereiten. Mit Büchern hat Ryad nichts am Hut. Das ändert sich auch im Verlauf der Geschichte nicht wirklich. Ryad lernt die Nachbarschaft und den früheren Hüter des Buchgeschäfts kennen, die im Klappentext angekündigte Veränderung (he begins to understand that a bookshop can be much more than just a shop that sells books) seiner Sichtweisen konnte ich jedoch nicht nachvollziehen.

Obwohl das Buch völlig anders war als von mir erwartet/erhofft, habe ich es gern gelesen. Auch die schwärmerischen Beschreibungen der heutigen Stadt Algier (siehe obiges Zitat) haben mir sehr gut gefallen. Letztendlich zeichnet die Autorin ein Bild eines Orts, an dem Gedanken und Wörter einen Platz haben und sich darauf eine Gemeinschaft gründet. Bücher können Menschen verändern. Und Menschen können die Welt verändern. Wenn sie sich zusammentun und an ein gemeinsames Ziel glauben. Ein hoffnungsvoller Ausblick.

Categories
Roman

Stefan Kutzenberger – Jokerman

CN: sexuelle Handlungen, Gewalt, Mordkomplott, Vernachlässigung eines Tiers (bis zum Tod), Sexismus


Nur wenn wir an Dylans Wort glauben, werden wir den Weg ins Licht finden. Es ist gänzlich egal, was auf dieser Welt passiert, es zählt allein die Erlösung, die auf uns wartet, wenn wir unbeirrt seinen Aussagen folgen.

Aus der Reihe: Gelesen wegen eines Literatur-Geocaches. Nach Ende der Lektüre bin ich ehrlich enttäuscht. Das hätte eine echt gute Geschichte werden können. Die Idee, dass eine Gruppe von Bob-Dylan-Anhänger:innen aus dessen Texten Befehle für das Weltgeschehen ableitet, verspricht viel Potenzial. Zu Beginn wird äußerst unterhaltsam argumentiert, mit welchen Textbestandteilen Bob Dylan etwa den Fall der Berliner Mauer oder den Erhalt des Nobelpreises für Literatur vorhergesagt haben soll. Selbst als der Protagonist (er teilt den Namen des Autors) von einem fanatischen isländischen Professor nach Washington D.C. geschickt wird, um dort mit Hillary Clinton an einem Mordkomplott gegen Donald Trump zu arbeiten, überwiegt noch der Unterhaltungsaspekt. Die Auflösung jedoch hat mich nicht überzeugt und das gilt auch für viele andere Teile der Geschichte.

Der Protagonist Stefan Kutzenberger stolpert durch die Geschichte, philosophiert immer wieder über das eigene Leben und die (Fehl-)Entscheidungen, die ihn dorthin geführt haben, wo er sich nun befindet. Dieses Philosophieren bringt ihn möglicherweise zur letztendlich moralisch richtigen (?) Entscheidung, kann aber zumindest die aus meiner Sicht völlig unnötigen Ereignisse wie den Tod des Kalbs oder die Episode im Bettkasten nicht ausgleichen. Dieser planlose Stefan Kutzenberger hat mehr schlechtes Gewissen, weil er einem Hotelpagen mangels (US-$-)Bargeld kein Trinkgeld geben kann, als wegen des verhungerten Kalbs. Dass er dann auf einmal entdeckt, dass von seiner Hand kein Mensch sterben darf, ist für mich nicht ausreichend nachvollziehbar.

Die Anhänger:innen der Bob-Dylan-Gesellschaft halten Kutzenberger für „auserwählt“ aufgrund von Fakten, die völlig aus dem Zusammenhang gerissen eine herrliche Verschwörungstheorie einen mehr oder weniger überzeugendenVerschwörungsmythos ergeben. Von dieser satirischen Grundidee hätte ich gerne mehr gelesen und dafür weniger männliches Phantasieren über die Bedeutung des eigenen Lebens und der zwischenmenschlichen Beziehungen. Nichtsdestotrotz empfinde ich tiefes Mitleid mit dem Autor: Die aktuelle zweite Amtszeit Donald Trumps muss sich mit diesem Buch im eigenen Portfolio noch viel schlimmer anfühlen, als sie es ohnehin schon ist.

Categories
Lyrik Roman Science Fiction

Oliver K. Langmead – Calypso

CN: Gewalt, Tod


I can hear the Calypso‘s heart beating
loud beneath her bulkheads reverberating
a heartbeat like waves crashing, the waves of an ocean
her hallway windows alight so bright with the magnificent clouds
gushing clouds in which we tremble suspended afloat
and I know that I am enough, that this is enough
I don’t need extra senses strong bones
thoughts as quick as this
I am enough
to witness
this prayer

Die Wege der Bücher sind ja bekanntlich unergründlich, bei diesem weiß ich jedoch sehr konkret, wie es zu mir gekommen ist. Eine Einladung in einen sehr kleinen, sehr exklusiven Buchclub, der Bücher zum Thema haben soll, die für die diesjährigen Hugo Awards nominiert sind, konnte ich unmöglich ausschlagen. Mit diesem Buch haben wir begonnen, noch bevor die Nominierungen veröffentlicht wurden. G. hat gut recherchiert, nur ist dieses Buch in der Kategorie Best Poem nominiert, wir hatten uns eigentlich Novels vorgenommen. Wie schon das obige Zitat andeutet, handelt es sich hier um eine Novel in verse. Von dieser alten und gleichzeitig gerade wieder aktuellen Textgattung hatte ich hin und wieder Spuren auf Lithub gesehen, konnte mir jedoch nicht vorstellen, wie ich damit zurecht kommen würde. Lyrik ist ja nicht gerade meine Stärke (hier der bisher einzige Lyrik-Post auf diesem Blog), und dann auch noch in englischer Sprache, das erschien mir eine große Herausforderung, die ich jedoch des Buchclubs wegen annehmen wollte. Wir treffen uns demnächst, um über das Buch zu sprechen, möglicherweise schreibe ich dann noch eine Ergänzung, jetzt lest ihr hier erstmal meine eigene Meinung wie gewohnt.

Das Buch beinhaltet vier unterschiedliche erzählende Personen bzw. Perspektiven. Die Kapitel sind jeweils durch ein Symbol gekennzeichnet, das die Erzählperspektive visuell kommuniziert. Daneben haben die vier Erzählperspektiven auch noch verschiedene Satzeigenschaften: Rochelles Texte sind linksbündig im Flattersatz angeordnet, Sigmunds Texte rechtsbündig im Flattersatz. Catherines Texte sind zuerst mittig, aber scheinbar organisch fließend gesetzt, das verändert sich jedoch im Laufe der Geschichte. Der Text des Heralds schließlich ist in einer Spalte im Blocksatz gesetzt. An einigen Stellen wird diese Struktur aufgebrochen, es gibt beispielsweise Stellen, an denen der Text in zwei nebeneinander stehenden Säulen verläuft, weil hier Personen gleichzeitig bzw. durcheinander sprechen. Im Kapitel, in dem Catherines Transformation passiert, werden über mehrere Seiten die Wörter immer weniger und die Illustration einer Pflanze immer mehr. Es ist schwierig zu beschreiben, das müsst ihr vermutlich selbst gesehen haben.

Erzählt wird die Geschichte des Raumschiffs Calypso, das auf dem Weg ist, einen neuen Planeten zu kolonisieren. Dabei lebt auf der Calypso während ihrer langen Reise die Crew, deren Aufgabe es ist, für das Funktionieren des Raumschiffs und die Sicherheit der engineers zu sorgen. Die engineers, zu denen unsere Protagonist:innen Rochelle, Catherine und Sigmund gehören, verbringen die lange Reise im Cryoschlaf und sollen erst zum rechten Zeitpunkt erweckt werden.

Was ich jetzt hier relativ organisiert erzähle, wird aus dem Text erst sehr langsam klar. Mir ist es schwer gefallen, in die Geschichte hinein zu kommen, ich musste die ersten Kapitel auch zwei Mal lesen, weil sich eine Lesepause ergeben hatte und ich mich dann nicht mehr ausreichend erinnern konnte, um an der Stelle wieder in die Geschichte einzusteigen. Viele Fragen, viele angedeutete Ereignisse der Vergangenheit werden erst in dem Kapitel klarer, indem der Herald Rochelle erzählt, was während ihres Schlafs mit der Crew passiert ist.

Das Ende ist … unerwartet und wirft eigentlich neue Fragen auf anstatt die Geschichte sinnvoll abzuschließen. Ich bin schon sehr gespannt auf unser Buchclubgespräch, bei dem ich sicher noch Neues entdecken werde, das mir bisher entgangen ist. Als nächstes Buch haben wir Alien Clay von Adrian Tchaikovsky ausgewählt.

EDIT 4. Mai 2025 (nach dem Buchclub-Treffen): Bei der Besprechung dieses Buchs wurden viele Themen genannt, dir mir vorher gar nicht so bewusst gewesen waren. Wir haben uns mit Calypso aus der griechischen Mythologie beschäftigt und überlegt, warum Oliver K. Langmead sein Raumschiff so genannt hat. Wir haben die Schaffung des Wetters und der Jahreszeiten auf dem neuen Planeten mit der Schöpfungsgeschichte der Genesis verglichen. In meinem obigen Text hatte ich nicht mal erwähnt, dass mich Rochelles religiöse Anwandlungen so irritiert hatten, als sie zum Beispiel auf der Calypso einen Gebetsraum einrichtet. Dass ihr Vater Priester gewesen war, hatte ich nicht mehr im Kopf. G. erinnerte sich an sehr konkrete Stellen innerhalb der Geschichte; nach einigen gemeinsamen Überlegungen endeten wir damit, dass Rochelle den Humanismus symbolisiert, während Sigmund für den Transhumanismus steht. Für mich war es extrem spannend, andere Meinungen über die Geschichte zu hören und sich darüber auszutauschen und ich frage mich jetzt, warum ich bisher nie an einem Buchclub teilgenommen habe.