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Roman

Stefan Kutzenberger – Jokerman

CN: sexuelle Handlungen, Gewalt, Mordkomplott, Vernachlässigung eines Tiers (bis zum Tod), Sexismus


Nur wenn wir an Dylans Wort glauben, werden wir den Weg ins Licht finden. Es ist gänzlich egal, was auf dieser Welt passiert, es zählt allein die Erlösung, die auf uns wartet, wenn wir unbeirrt seinen Aussagen folgen.

Aus der Reihe: Gelesen wegen eines Literatur-Geocaches. Nach Ende der Lektüre bin ich ehrlich enttäuscht. Das hätte eine echt gute Geschichte werden können. Die Idee, dass eine Gruppe von Bob-Dylan-Anhänger:innen aus dessen Texten Befehle für das Weltgeschehen ableitet, verspricht viel Potenzial. Zu Beginn wird äußerst unterhaltsam argumentiert, mit welchen Textbestandteilen Bob Dylan etwa den Fall der Berliner Mauer oder den Erhalt des Nobelpreises für Literatur vorhergesagt haben soll. Selbst als der Protagonist (er teilt den Namen des Autors) von einem fanatischen isländischen Professor nach Washington D.C. geschickt wird, um dort mit Hillary Clinton an einem Mordkomplott gegen Donald Trump zu arbeiten, überwiegt noch der Unterhaltungsaspekt. Die Auflösung jedoch hat mich nicht überzeugt und das gilt auch für viele andere Teile der Geschichte.

Der Protagonist Stefan Kutzenberger stolpert durch die Geschichte, philosophiert immer wieder über das eigene Leben und die (Fehl-)Entscheidungen, die ihn dorthin geführt haben, wo er sich nun befindet. Dieses Philosophieren bringt ihn möglicherweise zur letztendlich moralisch richtigen (?) Entscheidung, kann aber zumindest die aus meiner Sicht völlig unnötigen Ereignisse wie den Tod des Kalbs oder die Episode im Bettkasten nicht ausgleichen. Dieser planlose Stefan Kutzenberger hat mehr schlechtes Gewissen, weil er einem Hotelpagen mangels (US-$-)Bargeld kein Trinkgeld geben kann, als wegen des verhungerten Kalbs. Dass er dann auf einmal entdeckt, dass von seiner Hand kein Mensch sterben darf, ist für mich nicht ausreichend nachvollziehbar.

Die Anhänger:innen der Bob-Dylan-Gesellschaft halten Kutzenberger für „auserwählt“ aufgrund von Fakten, die völlig aus dem Zusammenhang gerissen eine herrliche Verschwörungstheorie einen mehr oder weniger überzeugendenVerschwörungsmythos ergeben. Von dieser satirischen Grundidee hätte ich gerne mehr gelesen und dafür weniger männliches Phantasieren über die Bedeutung des eigenen Lebens und der zwischenmenschlichen Beziehungen. Nichtsdestotrotz empfinde ich tiefes Mitleid mit dem Autor: Die aktuelle zweite Amtszeit Donald Trumps muss sich mit diesem Buch im eigenen Portfolio noch viel schlimmer anfühlen, als sie es ohnehin schon ist.

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Lyrik Roman Science Fiction

Oliver K. Langmead – Calypso

CN: Gewalt, Tod


I can hear the Calypso‘s heart beating
loud beneath her bulkheads reverberating
a heartbeat like waves crashing, the waves of an ocean
her hallway windows alight so bright with the magnificent clouds
gushing clouds in which we tremble suspended afloat
and I know that I am enough, that this is enough
I don’t need extra senses strong bones
thoughts as quick as this
I am enough
to witness
this prayer

Die Wege der Bücher sind ja bekanntlich unergründlich, bei diesem weiß ich jedoch sehr konkret, wie es zu mir gekommen ist. Eine Einladung in einen sehr kleinen, sehr exklusiven Buchclub, der Bücher zum Thema haben soll, die für die diesjährigen Hugo Awards nominiert sind, konnte ich unmöglich ausschlagen. Mit diesem Buch haben wir begonnen, noch bevor die Nominierungen veröffentlicht wurden. G. hat gut recherchiert, nur ist dieses Buch in der Kategorie Best Poem nominiert, wir hatten uns eigentlich Novels vorgenommen. Wie schon das obige Zitat andeutet, handelt es sich hier um eine Novel in verse. Von dieser alten und gleichzeitig gerade wieder aktuellen Textgattung hatte ich hin und wieder Spuren auf Lithub gesehen, konnte mir jedoch nicht vorstellen, wie ich damit zurecht kommen würde. Lyrik ist ja nicht gerade meine Stärke (hier der bisher einzige Lyrik-Post auf diesem Blog), und dann auch noch in englischer Sprache, das erschien mir eine große Herausforderung, die ich jedoch des Buchclubs wegen annehmen wollte. Wir treffen uns demnächst, um über das Buch zu sprechen, möglicherweise schreibe ich dann noch eine Ergänzung, jetzt lest ihr hier erstmal meine eigene Meinung wie gewohnt.

Das Buch beinhaltet vier unterschiedliche erzählende Personen bzw. Perspektiven. Die Kapitel sind jeweils durch ein Symbol gekennzeichnet, das die Erzählperspektive visuell kommuniziert. Daneben haben die vier Erzählperspektiven auch noch verschiedene Satzeigenschaften: Rochelles Texte sind linksbündig im Flattersatz angeordnet, Sigmunds Texte rechtsbündig im Flattersatz. Catherines Texte sind zuerst mittig, aber scheinbar organisch fließend gesetzt, das verändert sich jedoch im Laufe der Geschichte. Der Text des Heralds schließlich ist in einer Spalte im Blocksatz gesetzt. An einigen Stellen wird diese Struktur aufgebrochen, es gibt beispielsweise Stellen, an denen der Text in zwei nebeneinander stehenden Säulen verläuft, weil hier Personen gleichzeitig bzw. durcheinander sprechen. Im Kapitel, in dem Catherines Transformation passiert, werden über mehrere Seiten die Wörter immer weniger und die Illustration einer Pflanze immer mehr. Es ist schwierig zu beschreiben, das müsst ihr vermutlich selbst gesehen haben.

Erzählt wird die Geschichte des Raumschiffs Calypso, das auf dem Weg ist, einen neuen Planeten zu kolonisieren. Dabei lebt auf der Calypso während ihrer langen Reise die Crew, deren Aufgabe es ist, für das Funktionieren des Raumschiffs und die Sicherheit der engineers zu sorgen. Die engineers, zu denen unsere Protagonist:innen Rochelle, Catherine und Sigmund gehören, verbringen die lange Reise im Cryoschlaf und sollen erst zum rechten Zeitpunkt erweckt werden.

Was ich jetzt hier relativ organisiert erzähle, wird aus dem Text erst sehr langsam klar. Mir ist es schwer gefallen, in die Geschichte hinein zu kommen, ich musste die ersten Kapitel auch zwei Mal lesen, weil sich eine Lesepause ergeben hatte und ich mich dann nicht mehr ausreichend erinnern konnte, um an der Stelle wieder in die Geschichte einzusteigen. Viele Fragen, viele angedeutete Ereignisse der Vergangenheit werden erst in dem Kapitel klarer, indem der Herald Rochelle erzählt, was während ihres Schlafs mit der Crew passiert ist.

Das Ende ist … unerwartet und wirft eigentlich neue Fragen auf anstatt die Geschichte sinnvoll abzuschließen. Ich bin schon sehr gespannt auf unser Buchclubgespräch, bei dem ich sicher noch Neues entdecken werde, das mir bisher entgangen ist. Als nächstes Buch haben wir Alien Clay von Adrian Tchaikovsky ausgewählt.

EDIT 4. Mai 2025 (nach dem Buchclub-Treffen): Bei der Besprechung dieses Buchs wurden viele Themen genannt, dir mir vorher gar nicht so bewusst gewesen waren. Wir haben uns mit Calypso aus der griechischen Mythologie beschäftigt und überlegt, warum Oliver K. Langmead sein Raumschiff so genannt hat. Wir haben die Schaffung des Wetters und der Jahreszeiten auf dem neuen Planeten mit der Schöpfungsgeschichte der Genesis verglichen. In meinem obigen Text hatte ich nicht mal erwähnt, dass mich Rochelles religiöse Anwandlungen so irritiert hatten, als sie zum Beispiel auf der Calypso einen Gebetsraum einrichtet. Dass ihr Vater Priester gewesen war, hatte ich nicht mehr im Kopf. G. erinnerte sich an sehr konkrete Stellen innerhalb der Geschichte; nach einigen gemeinsamen Überlegungen endeten wir damit, dass Rochelle den Humanismus symbolisiert, während Sigmund für den Transhumanismus steht. Für mich war es extrem spannend, andere Meinungen über die Geschichte zu hören und sich darüber auszutauschen und ich frage mich jetzt, warum ich bisher nie an einem Buchclub teilgenommen habe.

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Erzählung Roman

Kurt Tucholsky – Schloss Gripsholm

CN: Gewalt gegen Kinder, sexuelle Handlungen, Alkoholkonsum


Vor vielen Jahren hat mir ein Studienkollege den Autor Kurt Tucholsky ans Herz gelegt. Ich habe mir damals ein Buch gekauft und konnte einfach nichts damit anfangen. Das Buch steht immer noch ungelesen im Regal (allerdings nicht im Regal der ungelesenen Bücher, weil ich ja [aktuell] nicht vorhabe, es zu lesen). Vor ein paar Wochen erwähnte ich Tucholsky und dieses Buch in einem Gespräch über Lyrik und warum ich mir damit schwer tue. Die Vermutung liegt übrigens im Moment derart, dass das Narrativ, der rote Faden fehlt. Kurz darauf fiel mir in einem Bücherschrank das hier besprochene Buch in die Hände. Der dünne Band wird auf Wikipedia mal als Roman, mal als Erzählung bezeichnet.

Das Buch beginnt mit einem Briefwechsel zwischen dem Autor und seinem Verleger Herrn Ernst Rowohlt, in dem der Verleger den Autor bekniet, doch endlich mal eine unterhaltsame Sommergeschichte zu schreiben. Diese beginnt ab dem zweiten Kapitel mit dem Protagonist:innenpaar des Ich-Erzählers und seiner „Prinzessin“ Lydia, die nach Schweden auf Urlaub fahren. Einen roten Faden gibt es auch in dieser Erzählung kaum, die beiden genießen die Landschaft, empfangen Besuch von Freund:innen aus der Heimat, „retten“ ein Kind aus den Fängen einer sadistischen Anstaltsleiterin, um es zu seiner Mutter in die Schweiz zurückzubringen. Alles irgendwie durcheinander geschrieben mit viel Sprachwitz und Amüsement. Der Verleger war wohl zufrieden.

Das Buch weist Textillustrationen von Wilhelm M. Busch auf. Eine Verwandtschaft mit Wilhelm Busch, der für Max und Moritz bekannt ist, konnte ich nicht feststellen. Der Verleger Ernst Rowohlt darf sich gegen Ende des Buchs noch einmal zu Wort melden, wo er sich für die (Fake?-)Zigarettenwerbung entschuldigt, die den Text an einer äußerst pikanten Stelle unterbricht. Das Buch kann wohl auch als satirische Erwiderung auf den Wunsch des Verlegers nach seichter Unterhaltung gedeutet werden. Jetzt hab ich jedenfalls was von Tucholsky gelesen. Und das andere Buch wartet nach wie vor im Regal …

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Krimi Roman

Volker Kutscher – Rath

CN: Nationalsozialismus, Gewalt, Folter, Konzentrationslager, Mord, Novemberprogrome, Antisemitismus, Ableismus, Zwangssterilisation


Deutschlands innere Feinde geben keine Ruhe, und auch der äußere Feind hebt immer wieder drohend sein Haupt und mahnt uns, wachsam zu sein. 

Lange Monate habe ich auf den letzten Roman der Rath-Reihe gewartet. Und ich kann nur sagen, dass Volker Kutscher einen großartigen Abschluss seiner Reihe abgeliefert hat. Bei diesem historischen Hintergrund kann es natürlich kein Happy End geben (wer die anderen Bücher kennt, wird hier kaum einen Spoiler sehen). Und doch bringt gerade das allerletzte Kapitel einen Handlungsstrang zwar nicht mit Gerechtigkeit zum Abschluss, aber zumindest mit Vergeltung.

Volker Kutscher lässt seine Protagonist:innen immer wieder fassungslos beobachten (oder erleben), wie im neuen Deutschland plötzlich keine Gesetze mehr zu gelten scheinen. Das beginnt bei Fritze, der nicht mitmachen will, als seine HJ-Schar einen jüdischen Fußballverein aufmischen soll.

Nicht gegen Wehrlose, nicht gegen Menschen, die überhaupt nichts verbrochen hatten. Gegen den inneren Feind gehe es, hatte Scharführer Kramer gesagt, aber wie konnte ein jüdischer Fußballverein, der sich an alle Gesetze hielt, der innere Feind sein?

Das betrifft aber auch Charly, die nach dem Verrat eines Kollegen in einem Straflager landet, wo sie anstatt eines Anwalts einen Peitschenhieb ins Gesicht erhält. Von höchster Stelle wird sie nach einigen Wochen nicht nur aus der Lagerhaft befreit sondern auch wieder als Kommissarin in der Weiblichen Kriminalpolizei beschäftigt. Eine sehr unerwartete Wendung.

Ja, er wollte zurück nach Hoboken, dort mit Marion und seinem Bruder endlich wieder leben, in einem freien Land mit Rede- und Pressefreiheit. In einem Land, wo niemand die Wahrheit als Lügenhetze oder Greuelpropaganda bezeichnete.

Gereons Bruder Severin ist ebenfalls wieder in Deutschland, um dem sterbenden Vater die letzte Ehre zu erweisen. Er wird aufgrund seiner Ähnlichkeit mit Gereon nach dem Begräbnis verhaftet, was jedoch erst aufgedeckt wird, als der einarmige Erzfeind Tornow Rath verhören will und sofort feststellt, dass es nicht der gesuchte Rath ist. Auch Severin ist fassungslos angesichts der Behandlung, die ihm als unbescholtenem, amerikanischem Staatsbürger zuteil wird. Seine Empörung wird ihm zum Verhängnis. Dass Severin sich nach den USA zurücksehnt, wo Rede- und Pressefreiheit gilt, hat angesichts der heutigen politischen Lage einen besonders bitteren Beigeschmack.

Auf der Uhlandstraße herrschte eine seltsame Stimmung. Die Geräuschkulisse war anders als sonst, und sie fragte sich, was da so anders war. Aus der Ferne Gejohle, scheppernde, klirrende Geräusche. Brandgeruch in der Luft. Die Stimmung, gerade noch lebensfroh in der Bar, hatte plötzlich etwas Apokalyptisches.

Das Buch endet mit der Reichskristallnacht den Novemberpogromen. (Ich lese gerade auf Wikipedia, dass der Begriff Reichskristallnacht als euphemistisch kritisiert wird, ich habe es in der Schule noch so gelernt.) In vielen kurzen Kapiteln wird beschrieben wie die Protagonist:innen, aber auch viele Nebenfiguren, die in diesem Buch eine Rolle spielten, diese dramatische Wendung der Weltgeschichte erleben. Hier wird noch ein anderer Aspekt deutlich, der sich ebenfalls in die Fassungslosigkeit angesichts des Erlebten einreiht: Die gleichgültige Reaktion der arischen Nachbarn angesichts der Gewalt gegen ihre jüdischen Mitbürger. („Die Lehmanns haben nicht aufgemacht.“)

Andreas Preusse hat in seinem Schreibgewitter ebenfalls eine Rezension zum Buch geschrieben, die ich erst jetzt gelesen habe. Seiner Bewertung und Argumentation stimme ich zu, er benennt viele Einzelheiten, die ich selbst besonders gelungen finde.

Die Tötung ist keine reine Rache-Szene á la Italo-Western, sondern ein Sinnbild der fortschreitenden Enthemmung, die von den Nazis auf gewöhnliche Bürger ausstrahlt.
(Andreas Preusse, Schreibgewitter)

Nicht zustimmen kann ich jedoch seinem Kritikpunkt, dass Gereon Rath in den letzten beiden Büchern in den Hintergrund getreten sei. Für mich war Charly schon seit dem Beginn der Reihe als Persönlichkeit gleich wichtig wie Gereon. Zuerst hat sie hauptsächlich sein Privatleben beeinflusst, aber in den späteren Romanen auch immer mehr in den Kriminalfällen mitgemischt. Da Gereon in die USA geflohen ist und für tot erklärt wurde, ist es nur folgerichtig, dass er sich nicht mehr offen in das Geschehen einmischen kann. Gereon hat sich lange gleichgültig gegenüber dem neuen Regime verhalten, während Charly von Anfang an dagegen war. Für mich war es total logisch, dass sie nicht aufgibt und bis zum Ende für die Menschlichkeit und gegen die unmenschliche Gewalt des Nationalsozialismus kämpft.

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Krimi Roman

Christian Schleifer – Perchtoldsdorfer Punsch

CN: Mord, Gewalt, Rassismus, Bombe, Ableismus, Populismus, schlagende Burschenschaften, Schmiss, Homophobie


Der dritte Teil der Krimireihe um Charlotte Nöhrer in Perchtoldsdorf spielt zur Weihnachtszeit und thematisiert die rechtspopulistische Ausrichtung der politischen Landschaft, die sich in den letzten Jahren weltweit verstärkt gezeigt hat. Der Autor schreckt weder vor Anleihen aus der österreichischen Realpolitik („Ihr werdet euch noch wundern, was alles möglich ist“) noch vor einer Abwandlung des MAGA-Spruchs (der schon in Olivia Butlers Parable of the Talents vorkam) zurück. Gerade im Fall des MÖWE-Spruchs schrammt das hart an der Grenze der Lächerlichkeit entlang.

Gut fand ich, dass in dieser Geschichte nicht ausschließlich männliche Charaktere den Rechtsradikalismus verkörpern. Die rechtsradikale und homophobe Hela bildet einen klaren Kontrapunkt gegenüber der deutlich links orientierten Charlotte (ohne e). Das Ende fand ich etwas hingeschludert. Die Leserin weiß ja, dass in der Kirche noch eine zweite Bombe versteckt war und plötzlich wird der Wissensvorsprung umgekehrt. Hinter den Kulissen wurde der Fall gelöst und der Leserin werden die offenen Puzzlesteine wie die Nudeln in einer Buchstabensuppe serviert.

Leider fand ich in dem Buch auch eine Form des Ableismus, die mir leider selbst in linken Kreisen immer wieder begegnet: Menschen, die rechts orientierte Parteien wählen, werden als dumm bezeichnet. Tatsächlich wissen die meisten Rechts-Wähler:innen sehr genau, was sie machen. Sie halten sich selbst für besser oder wichtiger als andere, sie halten „österreichische“ (hier bitte die jeweils lokale Nationalität einsetzen) Kinder für wertvoller als Kinder anderer Herkunft. Sie stecken Menschen in Schubladen, sie bewerten Menschen nach ihrer „Leistung“ oder ihren Lebensentscheidungen.

Nicht alle diese Wähler:innen werden alles verstehen, was diese Parteien verkörpern, das bedeutet aber nicht, dass sie dumm sind. Es bedeutet viel mehr, dass sie denkfaul sind. Sie geben sich mit den einfachen und verkürzten Antworten zufrieden, die ihnen der Rechtspopulismus in den Medien serviert. Sie lassen sich verkaufen, dass Migrant:innen (statt Migrant:innen könnte hier auch jede andere Minderheit stehen) die Wurzel unserer Probleme sind, weil sie das der Verantwortung erhebt, sich mit komplexen Problemen zu befassen.

Dieses Thema trage ich schon lang mit mir herum, unter anderem auch, weil ich selbst oft sage, dass ich mich mit irgendeinem Thema nicht befassen möchte. Dazu stehe ich auch weiterhin, in unserer komplizierten Welt können wir uns unmöglich mit allem Übel der Welt auseinandersetzen und trotzdem jeden Tag aufstehen und ein gutes Leben führen. Wenn ich aber bewusst wegschaue, wenn Menschen diskriminiert werden, wenn Menschen abgewertet werden aufgrund irgendwelcher Eigenschaften, die sie weder beeinflussen noch verändern können, dann bin ich nicht dumm, sondern ein schlechter Mensch. Wenn ich Menschen, die aus einem Kriegsgebiet in unser Land geflüchtet sind, das Wenige neide, was sie an Hilfe bekommen, dann bin ich nicht dumm, sondern selbstsüchtig. Wenn ich meine politische Meinung von rechter Hetze leiten lasse, anstatt genauer hinzuschauen und versuchen zu verstehen, wo die wirklichen Probleme sind, dann bin ich nicht dumm, sondern denkfaul.

Dummheit im Sinne von kognitiver Beeinträchtigung hat nichts mit der politischen Gesinnung eines Menschen zu tun. Die nach diesem Maßstab „dummen“ Menschen, die ich kennenlernen durfte, würden niemals eine menschenfeindliche Partei wählen. Und wenn sie das dennoch tun würden, dann nicht, weil sie dumm sind, sondern aus den oben genannten Gründen. Daher meine Bitte: hört auf, Rechts-Wähler:innen dumm zu nennen. Schaut genauer hin und benennt die wirklichen Gründe.

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English Fantasy Roman

N. K. Jemisin – The Stone Sky

CN: Rassismus, Ausbeutung, Gewalt, Tod


Normal gazes that avert or frown or ogle. With every glimpse of normalcy, the city teaches us just how abnormal we are.

Der dritte Teil der Broken-Earth-Trilogie hat mich nach dem eher enttäuschenden zweiten Teil wieder sehr mit der Serie versöhnt. Die Stone Eaters haben eine Vorgeschichte erhalten, die im zweiten Teil immer nur angedeutet wurde. Manche Fragen wurden beantwortet, viele sind jedoch offen geblieben. Der Radfahrer und ich waren uns einig, dass das Ende noch viele Möglichkeiten offen gelassen hat. Für mich hätte speziell Nassun ein etwas versöhnlicheres Ende verdient gehabt. Ich kann mich an wenige Bücher erinnern, wo ich so konkrete Ideen gehabt habe, was am Ende noch anders sein hätte können. Und doch bleibt es für mich eine sehr gelungene Fantasy-Reihe, die ich auch allen empfehlen kann, die sich für das Genre interessieren.

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Roman

David Schalko – Schwere Knochen

CN: Das Buch spielt im kriminellen Milieu, neben Gewalt, Mord, Prostitution, sexuellen Handlungen sind auch noch andere Elemente enthalten, die ihr vielleicht nicht lesen wollt. Mir persönlich hat besonders das Kapitel im Konzentrationslager Unbehagen bereitet. Dieses Buch ist keine leichte Kost, überlegt euch gut, ob ihr euch das „antun“ wollt.


Der Wessely dachte zuerst darüber nach, ob es sich tatsächlich um eine Gretchenfrage handelte. Wollte der Krutzler seinen Glauben infrage stellen? Oder wusste er einfach nicht, was eine Gretchenfrage war?

Also es ist leider so, dass ich das Buch nicht besonders mochte und mich daher überwinden muss, diesen Text zu schreiben. Dieses Buch habe ich gelesen, weil es vehement empfohlen wurde. Bevor ich es dann begonnen hab, habe ich auch noch nachgeschaut, ob es da nicht vielleicht einen Literatur-Geocache dazu gibt. Ohne den hätte ich es vielleicht nicht weiter gelesen …

Versteht mich nicht falsch, es ist kein schlechtes Buch. Es erzählt die Entwicklung einer Bande von Kriminellen über einen langen Zeitraum, das zweite Kapitel spielt im Konzentrationslager und hat mich so richtig runter gezogen. Es geht darum, was der Krieg und die persönlichen Erfahrungen in dieser Zeit mit Menschen gemacht haben, wie sich diese verändert haben, wie sie abgestumpft sind und Gewalt, Mord und Totschlag auf einmal „gewohnt“ sind, keine große Sache mehr sind, sondern „Alltag“.

Gut geschrieben, auch wenn der Schreibstil mit indirekter Rede bei jedem Dialog für Menschen, deren Erstsprache nicht Deutsch ist, eher schwierig sein dürfte. Viel Wiener Lokalkolorit (siehe Zitat unten). Und trotzdem hat mich dieses Buch sehr unzufrieden zurück gelassen.

Da man aber die Kunst des Wegsehens in Wien immer dann beherrschte, wenn das Hinsehen nach Umständen roch, wurde die kurze Irritation gleich wieder vergessen.

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Krimi Roman

Maria Masella – Blumen für die Toten

CN: Mord, Gewalt, Prostitution (vielleicht noch anderes, ich erinnere mich nicht mehr genau, sorry)


Ihr Blick durchbohrt mich. Sie hasst Leute, die ihre Machtstellung ausnutzen. Genau wie meine Mutter ist sie im Grunde ihres Herzens Anarchistin.

Der Start einer Krimi-Reihe angesiedelt in Genua, auf die ich im Zuge meiner Geocaching-Recherchen für die nächste Reise gestoßen bin. Für mich wird es aber auch das letzte Buch der Reihe sein, es hat mir leider nicht besonders gefallen. Verweise wie die Nutzung von Disketten verorten das Buch in einer anderen Zeit (die italienische Originalausgabe erschien 2005), mir haben die unkommentierte und unwidersprochene Wiedergabe von Alltagsrassismus und der chauvinistische Einschlag des Kommissars den letzten Rest an Interesse verdorben. Der Kriminalfall ist eine Anhäufung von Elementen (zB Pakete mit Hinweisen an den Ermittler, Nutzung der Blumensprache), die anderswo bereits interessanter eingesetzt worden sind. Das Ende kommt plötzlich, ohne wirklich etwas aufzulösen. Nicht meins.

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English Roman

Ruth Reichl – The Paris Novel

CN: sexueller Kindesmissbrauch, Essen (viel nicht-pflanzliches Essen)


Zur obigen Inhaltsinformation möchte ich ergänzen: Das Buch beginnt mit der Beschreibung einer schwierigen Kindheit, neben der Missbrauchserfahrung fehlt auch ein liebevolles Verhältnis zu den Eltern (die Mutter kalt und distanziert, der Vater unbekannt und abwesend). Der Großteil des Buchs beschreibt dann aber, wie sich die erwachsene Protagonistin von dieser Kindheit löst und zu sich selbst findet. Das hat mich mit dem bedrückenden Beginn der Geschichte versöhnt. Zuerst hätte ich das Buch fast weggelegt, weil ich zu diesem Zeitpunkt einfach dringend etwas Eskapismus und Komfort brauchte.

Der von mir erhoffte Eskapismus findet sich ab dem Kapitel 4, in dem die Protagonistin Stella in einem kleinen Laden in Paris ein Vintagekleid findet, das ihren weiteren Lebensweg verändern soll (eigentlich findet sie das Kleid in Kapitel 2, aber danach kommt noch eine Rückblende in die oben erwähnte schwierige Kindheit). Ab diesem Zeitpunkt ist das Buch voll von sinnlichen Erfahrungen und Begegnungen mit interessanten Menschen. Die Autorin lässt ihre Erfahrungen als Gastrojournalistin in die Beschreibung der vielen außergewöhnlichen Mahlzeiten einfließen. Ihr Memoir über ihren Aufstieg von der Rolle als Restaurantkritikerin zur Gestalterin eines renommierten Food-Magazins habe ich gern gelesen.

In diesem Roman verzichtet sie (fast) vollständig auf zu oft gelesene Winkelzüge und bringt ihre Protagonistin Stella in Kontakt mit vielen interessanten Menschen (darunter Zeitzeugen wie James Baldwin und Allen Ginsberg). Als Kulisse dient das Buchgeschäft Shakespeare & Company. Noch spannender sind aber ihre erfundenen Figuren wie der gutherzige Jules Delatour oder der spröde Chef Django. Die aufwändige Suche nach der nahezu vergessenen Malerin Victorine-Louise Meurent bildet den Hintergrund für viele Exkursionen und Streifzüge durch das Paris der 1980er-Jahre.

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Jugend Roman

Tina Caspari – Bille und Zottel: Die schönsten Ferien hoch zu Ross

CN: –


„Welches Futtermittel gibt Reitpferden am meisten Energie, Florian?“
„Kartoffelchips!“
„Spinnst du?“

In Augsburg stieß ich auf einen offenen Bücherschrank und darin fand ich eine Kindheitserinnerung in Buchform. Das obige Zitat gibt die ersten Sätze der Geschichte wieder und dieser kurze Schnipsel transportierte mich sofort in eine Welt, in der die Freundschaft und die Pferde alles zusammenhalten und es für jedes Problem irgendeine Lösung gibt.

Es ist einfach göttlich, wie sich Zottel, das ehemalige Zirkuspony auf den Campingplatz schleicht, um dort nach Essen zu suchen und dann als „Gespenst“ mehrere Zelte abräumt. Ebenso unterhaltsam ist das letzte Kapitel, in dem Bille und ihre Freunde an einem Ritterspiel teilnehmen, was zu verschiedenen komischen Szenen führt.

Ob das Buch für Erwachsene unterhaltsam ist, die die Geschichte noch nicht kennen, wage ich nicht zu beurteilen, daher spreche ich nur folgende Empfehlung: Wenn sich die Gelegenheit bietet, ein Buch wieder zu lesen, an das ihr auch aus eurer Kindheit erinnert, greift zu!