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Erfahrungsbericht

Andrzej Stasiuk – Tagebuch danach geschrieben

Ich trieb mich herum in der Hoffnung, Idee und Plan würden sich auf ganz natürliche Weise ergeben. Der Sinn würde sich am Ende offenbaren, weil ein Sinn existiert. Deshalb ging ich jedes Jahr auf Reisen, immer weiter und weiter.

Eine kurzfristige Flaute auf der Leseliste hat mich dazu getrieben, Leselisten von anderen Leuten zu plündern. Daher finden sich auf meiner Leseliste jetzt großteils die Werke dieser EM-Liste. Dieses Buch des polnischen Autors Andrzej Stasiuk ist das erste davon.

Der Autor reist von Polen aus nach Süden und Osten und hält seine Erlebnisse im Telegrammstil fest. Seine Aufzeichnungen sind düster und immer wieder fragt man sich, warum er sich das immer wieder antut, wo er doch sicher auch an angenehmere Orte reisen könnte.

Ich wünschte an Orte zurückzukehren, die unverändert waren. Alles sollte wie erstarrt auf mich warten. Ich wollte zurück zu meinen ersten Gefühlen, so wie man auf seine erste Liebe zurückkommt. Gelungen ist mir das nie, versucht habe ich es immer.

Eine Auswahl der einzelnen Erlebnisse wiederzugeben, ist sinnlos, man muss das Gesamtwerk lesen, um ein Gefühl dafür zu bekommen. Der folgende Absatz bezieht sich nicht auf seine Reisen in den Süden, sondern auf die Niederlande, auf Orte, die von vielen Menschen bereist werden, wo man gewesen sein muss.

Dort empfinde ich nichts. Ich sehe mir die Formen an. Vergleiche die Preise in den Kneipen. Mir gefallen die Autos. Doch wenn ich versuche, mir eine Erzählung vorzustellen, eine Geschichte, die dort passieren könnte, kommt mir nichts in den Sinn.

Stück für Stück wird klar, dass der Autor durch seine Reisen in die scheinbar zerstörten und disfunktionalen Länder im Süden und Osten (beispielsweise die Ruinen von Srebrenica) einen anderen Blick auf seine eigene Heimat gewinnt. Eine Reise nach Westen könnte ihm diesen Blickwinkel nicht eröffnen. Erst das, was fehlt, ermöglicht ihm, zu sehen, was seine Heimat eigentlich ausmacht.

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Essays Sachbuch

Jaron Lanier – Wenn Träume erwachsen werden

Jaron Lanier gilt laut Wikipedia als Vater des Begriffs Virtuelle Realität. Von 1984 bis 1990 betrieb er das Unternehmen VPL Research und beschäftigte sich intensiv mit den damaligen Möglichkeiten der Virtual Reality. In diesem Sammelband sind Texte und Interviews von damals bis zur Verleihung des Friedenspreis des Deutschen Buchhandels im Oktober 2014 an ihn vereint. Als Einleitung dient seine Dankesrede zu diesem Anlass, in der er unterschiedliche Punkte anspricht und auch versucht, eine Lanze für das Buch zu brechen (man muss sich nach seinem Publikum richten):

Im Internet gibt es ebenso viele Kommentare über das Internet wie Pornografie und Katzenfotos, aber in Wirklichkeit können nur Medien außerhalb des Internets – insbesondere Bücher – Perspektiven und Synthesen aufzeigen. Das ist einer der Gründe, warum das Internet nicht zur einzigen Plattform der Kommunikation werden darf.

In meinen Augen zeigt sich hier ein Widerspruch: warum sollte das Internet nicht geeignet sein, um Perspektiven und Synthesen aufzuzeigen? Wenn wir zurückgehen in die Zeit vor der weltweiten Verbreitung des Internets und denselben Schluss auf den Buchmarkt anwenden, kommen wir wohl kaum zum selben Ergebnis. Nur Medien außerhalb des Buchs können Perspektiven und Synthesen für das Buch aufzeigen? Wohl kaum. In der Hauptbücherei Wien habe ich zwei Regale gefunden, die nur mit Büchern über Bücher oder Büchern über das Lesen gefüllt sind. Seinem daraus gezogenen Schluss stimme ich wiederum zu: Das Internet sollte nicht die einzige Plattform der Kommunikation werden. Es zeigt sich bereits jetzt, dass Menschen, die nicht auf Facebook sind, den Anschluss an Freundeskreise verlieren, weil Einladungen nur mehr dort ausgesprochen werden und auf Abweichler einfach vergessen wird. Das ist nur ein Anfang der Auswirkungen dieser unberechenbaren gesellschaftlichen Entwicklungen.

Ich glaube, wir wissen heute einfach noch nicht genug, um Lösungen für das langfristige Puzzle Frieden zu finden. Das mag negativ klingen, aber eigentlich ist es eine ganz klar optimistische Aussage, denn ich glaube, dass wir immer mehr über den Frieden lernen.

In derselben Rede kommt Lanier über einige weit geschwungene rhetorische Bögen auch auf das Thema Frieden zu sprechen (Friedenspreis, siehe oben). Er kritisiert das Rudelgefühl, den Frieden unter Clans, da diese Rudel stets in Konkurrenz zueinander stehen und so niemals ein langfristiger Frieden für alle entstehen kann.

In einem Interview aus dem Jahr 1987 hat Lanier gewissermaßen Pokémon Go vorhergesagt, obwohl er sich als Kommunikationsgerät eine Art Sonnenbrille vorstellte. Das Konzept der Datenbrille konnte sich bekanntlich bisher nicht durchsetzen.

In den frühen Versionen wird man die virtuelle Realität nur sehen können, wenn man sich darin befindet. Später wird es raffiniertere Versionen geben, bei denen man virtuelle und reale Objekte miteinander verbinden kann. Man könnte dann eine Zeit lang in einer gemischten Realität leben und würde seine reale Umgebung wahrnehmen, als ob man eine Sonnenbrille tragen würde, hätte aber auch virtuelle Elemente, die in die reale Welt hineingemischt würden.

In einem der Essays macht sich der Autor Gedanken darüber, wie man als Besucher einer virtuellen Welt mit dieser interagieren kann. Er formuliert dabei sehr schön, warum Sprache dafür ungeeignet ist:

Sprache ist sehr beschränkt. Sprache ist ein sehr enger Strom durch die Ebene der Realität. Sie lässt vieles aus. Oder eigentlich lässt sie gar nichts aus, aber sie ist ein Strom aus kleinen, eigenständigen Symbolen, und die Welt besteht aus Kontinuität und Gesten. Sprache kann Dinge über die Welt andeuten, aber kein Gemälde ließe sich je nur mit Worten beschreiben, und so verhält es sich auch mit der Realität.

Dies lässt sich in bemerkenswerter Weise darauf ummünzen, warum unsere heutigen Sprachassistenten wie Siri oder Cortana nur in sehr eingeschränktem Rahmen nützlich sind. Von den Datenschutz- und Überwachungsbedenken möchte ich an dieser Stelle gar nicht erst anfangen. Diese Bedenken vertrat Lanier zwar auch schon im letzten Jahrtausend, allerdings zeigt er sich in vielen Texten davon überzeugt, dass Daten (zum Beispiel über Gewohnheiten von Personen, wie Facebook sie sammelt) zwar verfügbar sein sollten, aber die einzelnen Personen dafür einen Preis festlegen sollen können. Zum Thema Privatsphäre hält er in einem späteren Text fest:

Das Problem mit Gesetzen zum Schutz der Privatsphäre ist, dass sie höchstwahrscheinlich nicht befolgt werden. Die Statistik mit großen Datenmengen ist wie eine Sucht, und Vorschriften zum Schutz der Privatsphäre sind so wirkungsvoll wie Alkohol- oder Drogenverbote.

Diese Behauptung hat sich leider in den vergangenen Jahren immer wieder bestätigt. Das Thema Privatsphäre wird in Wien übrigens im Rahmen der Privacy Week des Chaos Computer Club Wien vom 24. bis 30. Oktober 2016 in vielen Veranstaltungen an unterschiedlichen Standorten von allen Seiten beleuchtet.

Bereits 2003 spricht Lanier in einem Interview darüber, was die Entstehung eines Massenmediums mit der jüngeren Generation anstellt. Die Folgen daraus zeigten sich etwa im Arabischen Frühling 2011 in Ägypten sowie in der türkischen Revolution um den Gezi-Park und den Taksim-Platz 2013.

Wenn sich in einer Gesellschaft zum ersten Mal ein Massenmedium entwickelt, dreht die Propaganda durch. Europa, Japan und Amerika haben diese Entwicklung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vollzogen und dabei zwei Weltkriege ausgetragen. China machte diesen Prozess während der Kulturrevolution durch. Die muslimische und die afrikanische Welt sind gerade mittendrin. Sie erleben derzeit die volle Wucht moderner Propaganda. Die Leute drehen einfach durch, und es dauert eine Generation, bis sie sich daran gewöhnt haben, bis sie desensibilisiert sind. … Darauf kann man nur mit Technologie reagieren. Das ist die einzig erdenkliche Möglichkeit, mehrere Millionen Menschen rasch einzubeziehen und ihnen Bildung zu vermitteln.

Einen interessanten Beitrag zur chinesischen Kulturrevolution gab es kürzlich bei WRINT.

Wenn man Lanier Texte im Zeitverlauf liest, spürt man deutlich, wie auf die hoffnungsfrohen Jahre der Technologieüberzeugung im Ende des letzten Jahrhunderts eine Ernüchterung folgt. Einerseits konnten durch Computer auf einmal viele Menschen neue Dinge tun, allerdings fielen unzählige Arbeitsplätze weg. Speziell die Musikindustrie hat einen deutlichen Umbruch erlebt, die Buchindustrie befindet sich jetzt noch darin. Großkonzerne kontrollieren unsere Daten und generieren daraus Milliardengewinne. Und doch hat uns die künstliche Intelligenz noch lange nicht unterworfen und jeden Tag geht die Sonne auf. Das digitale Zeitalter wird uns auch weiterhin mit Veränderungen und Herausforderungen konfrontieren, die jede Entwicklung mit sich bringt.

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Roman

Rachel Cusk – Outline

Der Wunsch nach Freiheit und Bewegung trieb mich an, als würde ich an einem Faden vorn an meiner Brust gezogen. Ich kannte den Impuls nur zu gut; inzwischen hatte ich gelernt, dass es sich, anders als ursprünglich gedacht, nicht um den Ruf der weiten Welt handelte. Es war einfach nur der Wunsch, meinem eigenen Leben zu entkommen. Der Faden führte nirgendwohin, außer vielleicht in die grenzenlose Ödnis der Anonymität.

Gestern Abend als ich diesen Roman zu Ende gelesen hatte, war ich kurzfristig echt sauer. Nachdem ich eine Nacht darüber geschlafen habe, meine ich, das literarische Konstrukt entziffert zu haben, das dazu geführt haben mag, dass mich dieser Standard-Artikel auf das Buch neugierig machte.

Die Erzählerin des Romans reist nach Athen, um einen Kurs für Schriftsteller zu geben. Der Leser erlebt sie im Gespräch mit Unbekannten, Freunden, die sie in Athen trifft und ihren Schülern, die alle Teile ihres Lebens preisgeben, während wir von der Erzählerin nahezu nichts erfahren. Einzelne Bruchstücke muss man finden und festhalten: sie hat (oder hatte?) Ehemann und Familie, ihre Kreditberaterin ruft an, um ihr die Erhöhung des Kreditrahmens zu verweigern.

Beim zweiten Lesen enthält das letzte Kapitel einige Hinweise. Keine Spoiler von meiner Seite. Der oben zitierte Artikel gibt mehr Preis, als ich es hier tun werde. Auf dem Klappentext wird TheGuardian zitiert: „Einer der sonderbarsten, originellsten und aufregendsten Romane seit Langem.“. Sonderbar definitiv, originell lasse ich auch gelten. Aufregend fand ich im ärgerlichen Sinne jedoch nur das Ende. Aber vielleicht ist das der Cliffhanger als Auftakt für die geplante Trilogie.

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Erzählung

Paulus Hochgatterer – Eine kurze Geschichte vom Fliegenfischen

Julian schaut ein wenig verwirrt. „Es gibt Menschen, die haben keine Seele“, sagt der Ire, „wenn man auf sie hinhaut, ist es Sachbeschädigung.“

Zuerst habe ich mich gefreut, als ich relativ problemlos den Literaturcache über Paulus Hochgatterer zuordnen konnte. Kein Wunder, eines der gesuchten Werke habe ich schon gelesen (und – ich bin mir ziemlich sicher – auch besessen). In der Hausbibliothek hab ich es dann nicht gefunden, aber wozu haben wir denn die Büchereien Wien?

Die kurze Geschichte erzählt von drei Freunden, die gemeinsam am Wochenende zum Fliegenfischen fahren und ist angefüllt mit Psychologenwitzen und psychologischen Insiderscherzen, die mit dem Fach Vertraute vermutlich auf jeder Seite schallend lachen lassen. Man kann es spüren, dass zwischen den Zeilen deutlich mehr versteckt ist, leider fehlt mir das Wissen über Symbole und Traumdeutung und all die Zwischentöne der Männerfreundschaft. Da wird über das Mädchen fantasiert, dass das Frühstück bringt, die Frage geklärt, ob der Fisch überhaupt getötet werden darf, Konkurrenzkampf laut und heimlich ausgelebt und auch tüchtig getrunken. Wenn man mehr von Psychologie versteht, dürfte das Buch ein richtiger Knüller sein, für mich war es zumindest eine kurzweilige Unterhaltung (und natürlich ein Drittel des Weges zum Cache!).

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Roman

Stefanie Bart – Deutscher Meister

Haymann überlegte, ob es nicht doch ein Fehler gewesen war, in der ehemaligen Judenschule zu üben, in der Luft, die die Juden geatmet hatten. Die Juden waren daran Schuld, dass der Arier den Zigeuner nicht schlagen konnte.

Die Autorin beschreibt in ihrem Roman die Geschichte des Boxers Trollmann. In der aufkommenden Nazizeit (das Buch beginnt mit dem „Säubern“ des Boxverbands von allen jüdischen Mitgliedern) wird der Zigeuner Trollmann als Ersatzmann gebraucht. Die Verantwortlichen rechnen jedoch nicht mit seinem bevorstehenden Erfolg beim Titelkampf. Die Situation spitzt sich zu: der Zigeuner darf nicht Deutscher Meister werden. Dies muss mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln verhindert werden.

Griese war im Vorstand nur Schriftführer, er war an die Stelle des geschassten Funke getreten, und er hatte sch bereits am Mittag beim offiziellen Wiegen vorgenommen, die Sportlichen Regeln strikt zu befolgen, denn die Sportlichen Regeln waren unanfechtbar, und zwar auch dann, wenn politisch auf Eiern getanzt wurde.

Der spannende Aspekt ist, wie viele verschiedene Perspektiven auf die Zeit und ihre Veränderungen die Autorin in die Entwicklung der Geschichte einfließen hat lassen. Man blickt in die Seele des glühenden Verfechters des Nationalsozialismus (im gesamten Buch nur Erster Vorsitzender genannt), denjenigen, die eigentlich nicht daran glauben, aber von der Veränderung profitieren, den Leichtgläubigen, die dankbar sind, dass sie endlich einen Sündenbock geliefert bekommen, dem man alle Probleme in die Schuhe schieben kann, vielen Mitläufern, aber auch dem weit verbreiteten Irrtum, es werde schon bald vorbei gehen. Gegen Ende des Buches folgt ein erschütternder Einblick in die Seele eines SA-Kommandanten inmitten der Folter der Köpenicker Blutwoche.

Er begriff mit jeder Faser seines Herzens und mit jeder Zelle seines Hirns, dass er eine Grenze überschritt, und es war leicht, es war bloß ein einziger Schritt.

Das Ende ist unvermeidlich und trotzdem eine gut vorbereitete Überraschung. Meine Hoffnung ist nur, dass es die beiden Bäckereifräulein bis nach Amerika geschafft haben und dort ein neues Leben anfangen konnten.

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Erfahrungsbericht Sachbuch

Oliver Sacks – Zeit des Erwachens

Wir müssen sogar noch weiter gehen: Wenn nämlich unsere Patienten Erlebnissen unterworfen sind, die so eigentümlich sind wie die Bewegungen ihrer Träger – und wir haben Grund, dies anzunehmen –, dann benötigen sie viel Hilfe, eine sorgfältige und geduldige Zusammenarbeit, um das beinahe Unsagbare sagen und das beinahe nicht Vermittelbare mitteilen zu können. Wir müssen Mutentdecker sein im unwirtlichen Reich des vom Parkinsonismus Befallen-Seins, in diesem Land jenseits der Grenzen der normalen Erfahrung.

Dieses Buch wurde mir vom lieben Freund A. geschenkt (er hat ausgemistet und mich gefragt, ob ich Interesse hätte). Warum ich es haben wollte, weiß ich ganz ehrlich nicht mehr. Schon bei der Einleitung kamen mir heftigste Bedenken. Aber wegen des kürzlich erlittenen Fehlschlags (#nonmention) wollte ich nicht gleich das Buch ins Korn werfen.

Der Neurologe Oliver Sacks arbeitete zuerst am Mount Zion Hospital in San Francisco. Kurz nach der Übernahme der Professur für Neurologie am Albert Einstein College of Medicine in New York entdeckte er in einem Hospital für chronisch Kranke eine Gruppe von Postenzephalitikern, deren Krankheitsverlauf und Therapiegeschichte schließlich die Grundlage für dieses Buch bildeten. Es folgen ein paar Grundlagen, die ich mir selbst erst aneignen musste (es ist immer wieder faszinierend, was man über eine Krankheit zu wissen glaubt, obwohl man eigentlich gar nichts weiß).

Der Begriff Parkinson-Syndrom ist ein Überbegriff für Erkrankungen mit den Leitsymptomen Rigor (Muskelstarre), Bradykinese (verlangsamte Bewegungen) bis zu Akinesie (Bewegungslosigkeit), Tremor (Muskelzittern) und posturale Instabilität (Haltungsinstabilität). Bekannt ist im Allgemeinen Morbus Parkinson als idiopathische Erkrankung (ohne bekannte genetische oder äußere Auslöser). Es gibt jedoch auch andere Formen des Parkinson-Syndroms, die etwa durch andere Krankheiten ausgelöst werden können (sekundäre Syndrome) oder im Rahmen anderer neurodegenerativer Erkrankungen (atypische Syndrome) auftreten.

Ein Spezialfall ist hier die Encephalitis lethargica, an der die meisten von Oliver Sacks Patienten erkrankt waren. Es handelt sich hierbei um eine Gehirnentzündung, die Krankheit trat zwischen 1917 und 1927 epidemisch auf, danach sind nur noch Einzelfälle dokumentiert. Während der akuten Krankheitsphase leiden die Patienten an Lethargie und unkontrollierbaren Schlafanfällen. Die Folgeerkrankungen ähneln oft den Parkinson-Symptomen und wurden daher auch in dieses Gebiet eingeordnet.

Lediglich ein Bereich – und nur dieser – blieb gewöhnlich von der gewaltigen Krankheit verschont: die „höheren geistigen Fähigkeiten“ wie Intelligenz, Vorstellungskraft, Urteilsfähigkeit und Humor. So konnten die Patienten, selbst in extremen Grenzsituationen, ihren Zustand bei völliger geistiger Klarheit erleben; sie behielten die Fähigkeit, sich zu erinnern, Vergleiche anzustellen, zu differenzieren und Zeugnis über ihr einzigartiges Schicksal abzulegen.

Oliver Sacks dokumentierte nun in seinem Buch die Behandlung der Patienten mit L-Dopa, einer Vorstufe des Neurotransmitters Dopamin (heutzutage oft das Glückshormon genannt). Das Parkinson-Syndrom ist unter anderem durch einen Mangel an Dopamin gekennzeichnet, wie der Pharmakologe Oleh Hornykiewicz in Wien und der Neurologe André Barbeau in Montreal im Jahre 1960 feststellten. Anfang 1967 berichtetet George Cotzias schließlich über Behandlungserfolge bei Parkinson-Patienten durch L-Dopa. Zwei Jahre später war der Preis für das neue „Wundermedikament“ gefallen, sodass Oliver Sacks es auch an seinen Patienten in Mount Carmel anwenden konnte.

Jeder beschriebene Patient ist an sich einer Erwähnung wert, die Lebens- und Fallgeschichten sind sehr unterschiedlich. Es gelingt Oliver Sacks auf ganz erstaunliche Art, jeden Patienten als Persönlichkeit zu betrachten und auch abzubilden. Auch die Reaktionen der Patienten auf das neue Medikament und die Veränderungen, die es in ihrem Leben auslöste, sind sehr verschieden. Gerade in den abschließenden ergänzenden Kapiteln, die der Autor erst für die später veröffentlichten Ausgaben hinzufügte, zeigt sich, wie unterschiedlich die Patienten auch auf die Langzeitanwendung von L-Dopa reagierten.

In den abschließenden Reflexionen erläutert Oliver Sacks auch die Zusammenhänge zwischen Erwachen und Heimsuchung, die alle Patienten in der einen oder anderen Form erlebten. Mich erinnerte der untenstehende Absatz daran, dass Dopamin als Glückshormon bezeichnet wird und Glück und Zufriedenheit viel zu oft gleich gesetzt werden. Diese Erkenntnisse sollten uns auch klar machen, dass durch Medikamente auch keine immerwährende Glückseligkeit erreicht werden kann. Der Mensch und sein Gehirn sind komplexer als nur die Summe ihrer Einzelteile und der chemischen Reaktionen dazwischen.

Erwachen zeichnet sich durch vollständige Befriedigung aus, durch völlige Erfüllung der Bedürfnisse des Organismus. Zu diesem Zeitpunkt sagt der Patient: „Ich habe, was ich brauche, ich brauche nichts mehr, ich habe genug, alles ist gut.“ … „Es geht mir gut“ bedeutet immer „Es ist genug“ – bedeutet Befriedigung, Zufriedenheit, Erfüllung, Erleichterung. … Aber leider, leider dauert dieses Glück des „genug“ niemals an. Nach einer gewissen Zeit geht es verloren und von da an gibt es nie mehr eine zutreffende Dosierung, das „Genug“ wird durch Zuwenig und Zuviel ersetzt, der Patient kann nicht mehr im Gleichgewicht gehalten werden.

In einem weiteren Kapitel vergleicht Dr. Sacks den Zustand des Parkinsonismus mit der Chaostheorie. Die über die Jahrzehnte entstandenen technischen Möglichkeiten wie zum Beispiel genaue EEG-Aufzeichnungen der Gehirnströme bildeten die Basis für einen neuen Blick auf die Krankheit und die Wirkungen des verabreichten Medikaments. In manchen Ticks der Patienten erkannte Dr. Sacks auch eine fraktale Dimension und verweist in diesem Zusammenhang auf Mandelbrot.

Das Chaos, das zunächst allem Verständnis zu trotzen schien und das dem Intellekt die völlige Niederlage androhte, zieht uns nun an und stellt eine neue Herausforderung dar. Anfangs empfanden wir das Chaos als den Feind der Vernunft, nun dient es als Grundlage einer neuen Rationalität, einer neuen Vernunft.

Die vielen unterschiedlichen Perspektiven, die man beim Lesen des Buches von der Krankheit und dem Umgang damit kennenlernt, sind zum großen Teil der Vielseitigkeit und dem ganzheitlichen medizinischen Ansatz von Oliver Sacks zu verdanken. Trotz des hohen Informationsgehalts bleibt das Buch auch für einen Nichtmediziner verständlich. Beim Lesen lernt man nicht nur die Krankheit kennen, sondern auch die Patienten und vor allem den Autor und Forscher, der die Krankheit untersuchte und die Patienten auf ihrer Lebensreise begleitete.

Buzzfeed: ein berührender Artikel von Bill Hayes, Lebensgefährte von Oliver Sacks, über ihre Beziehung und das Leben an sich

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Erzählung Kurzgeschichten

H. C. Artmann – Mein Erbteil von Vater und Mutter

Schon vor Jahren hatte ich mit meinem ersten Literaturcache begonnen. Den Autor H. C. Artmann hatte ich recht schnell identifiziert, dann zeigten sich jedoch die ersten Schwierigkeiten. In den letzten Wochen habe ich die Recherchen zu den Literaturcaches wieder aufgenommen und unter anderem dieses Buch aus dem Magazin der Hauptbücherei ausheben lassen. Sozusagen eine Rarität und wahrscheinlich noch das einfachste von den vier zu findenden Werken.

Die Geschichten aus Lappland sind blutrünstig und grausam, da wird mit einem Augenzwinkern Menschen die Haut abgezogen, Verwandte werden verspeist, auch der Fuchs hat eine sehr sadistische Ader. Hand aufs Herz, hier handelt es sich wieder um eine astreine Erweiterung der eigenen Filterblase, auf dieses Buch wäre ich sonst sicher nie gekommen, empfehlen kann ich es auch nicht wirklich, wenn man nicht das Wesen der Literatur an sich untersucht. Bin schon gespannt auf die weiteren Artmann-Werke.

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Roman

Shida Bazyar – Nachts ist es leise in Teheran

Dieser Roman erzählt die Geschichte einer deutsch-iranischen Familie auf vier unterschiedlichen Zeitebenen und aus vier verschiedenen Perspektiven. 1979 in Teheran lernt der Leser zuerst Behsad kennen, einen jungen Mann, der an die Möglichkeit glaubt, sein Land verändern zu können und dafür auch große Risiken eingeht. Schließlich muss er politische Verfolgung, Gefängnis und Folter fürchten und entschließt sich schweren Herzens, mit Frau und Kindern nach Deutschland zu fliehen. Eltern, Tanten, Onkel, Cousins und Cousinen bleiben zurück.

Diese Entwicklung erfährt der Leser aber erst aus dem Blickwinkel von Behsads Frau Nahid, die die Situation in Deutschland, 1989 vor der Wende beschreibt. Nahid versucht, sich anzupassen, sich in Deutschland zu integrieren, sie erzählt von den Beziehungen zu deutschen Bekannten, ihren Versuchen, an der deutschen Universität ein neues Studium zu beginnen, ihren Schwierigkeiten mit der unbekannten Sprache.

Auf der Rückfahrt im Bus, als die Kinder erschöpft eingeschlafen waren, flüsterte Behsad, um sie nicht zu wecken, Nahid, sie haben es nicht verstanden, sie denken, der Schah wäre besser gewesen, sie haben nicht verstanden, dass vergossenes Blut nie besseres oder schlechteres, gerechteres oder ungerechteres Blut ist, Nahid, sie haben es einfach nicht verstanden.

Die Kinder wachsen als Deutsche auf, die älteste Tochter Laleh war bei der Flucht im Kindergartenalter und erinnert sich noch an ihre iranischen Wurzeln. Sie erzählt aus dem Jahr 1999 über ihre eigenen Schwierigkeiten, herauszufinden, wer sie eigentlich ist. Generell kämpfen Jugendliche mit dieser Frage, für Laleh wird dies noch erschwert durch einen mehrwöchigen Urlaub in der Heimat ihrer Eltern. Iran ist inzwischen eine islamische Republik, Laleh, deren Eltern nicht religiös sind, die in Deutschland nie ein Kopftuch tragen musste, wird plötzlich in Mantel und Kopftuch gesteckt und leidet darunter, mit ihren falschen Bewegungen unter den anderen Frauen und Jugendlichen aufzufallen. Und die Verwandten stellen ihr immer wieder dieselbe Frage: Ist es in Deutschland besser als hier? Wo gefällt es dir besser? Für Laleh gibt es nur eine Antwort, die sie jedoch aus Höflichkeit nicht aussprechen kann.

Laleh beschreibt auch ein Erlebnis, das mich an eine Podcast-Episode erinnert hatte, die ich kürzlich gehört habe: CRE212 Saudi Arabien. Die Islamwissenschaftlerin Miriam Seyffarth hat einige Zeit unter anderem in Saudi Arabien gelebt und erzählt im Gespräch auch, dass dort einheimische Männer Ausländerinnen weniger Respekt entgegen bringen als den „zugehörigen“ Frauen. Man muss lernen, sich abzugrenzen, dabei ist die Kleidung ein Schutzschild, lange Ärmel und Kopftuch sind wichtig, aber man muss sich auch als Frau behaupten und respektloses Verhalten sofort entsprechend kontern.

Weitere 10 Jahre später erfährt der Leser, wie Lalehs jüngerer Bruder Morad in Deutschland lebt. Er studiert (mehr oder weniger), ist politisch interessiert bzw. hat das Gefühl, es sein zu müssen und spürt wenig Verbindung zu seinen Verwandten im umkämpften Iran. Täglich neue Protestvideos auf YouTube, Nachrichten aus dem Internet, Kontakt zur Verwandtschaft über Facebook, wenn Telefonieren gerade nicht funktioniert. Morad fragt sich, was er mit seiner Herkunft noch anfangen soll, er kennt die fernen Verwandten kaum und sucht trotzdem nach seinen Wurzeln.

Die Autorin hat ein beeindruckendes Zeitdokument geschaffen, das auch illustriert, wie gelebte Integration über mehrere Generationen hinweg Menschen und Familien verändern kann. Jahrzehnte der politischen Instabilität reißen Familien auseinander. Der undatierte Epilog ist ein hoffnungsvoller Blick in die Zukunft.

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Roman

Peter Handke – Der kurze Brief zum langen Abschied

Du verhältst dich, als ob die Welt eine Bescherung sei, eigens für dich. So schaust du nur höflich zu, wie nach und nach alles ausgepackt wird; einzugreifen wäre ja eine Unhöflichkeit. Du läßt nur geschehen, und wenn dir etwas zustößt, nimmst du es mit Erstaunen, bewunderst das Rätselhafte daran und vergleichst es mit früheren Rätseln.

Der Ich-Erzähler ist unterwegs durch die USA. Scheinbar ziellos reist er von Stadt zu Stadt, lässt sich treiben, sucht nach Möglichkeiten, das Geld seiner Traveller’s Checks auszugeben. Für einen Teil der Reise begleitet er eine ehemalige Freundin / Bekannte und deren Tochter. Das obige Zitat stammt von dieser Frau, die einen Aspekt seiner Persönlichkeit charakterisiert, der später noch eine weitreichendere Bedeutung bekommen wird.

In dem Internatssystem, in dem ich aufgewachsen bin, war man von der Außenwelt fast abgeschnitten, und doch brachte es mir, gerade durch die Vielzahl der Verbote und Verneinungen, weit mehr Erlebnismöglichkeiten bei, als ich in der Außenwelt, in einer üblichen Umgebung hätte lernen können. So fing die Phantasie zu plappern an, bis ich fast idiotisch wurde.

Diese idiotische Phantasie ist es auch, die das Buch streckenweise etwas langwierig macht. Immer wieder werden wirre Träume des Ich-Erzählers wiedergegeben, die selbst mit der schlussendlichen Auflösung keinen weiteren Sinn ergeben.

Immer wieder ist von einer unbekannten Frau – Judith – die Rede. Am Anfang des Buches erscheint es, als ob der Erzähler auf der Suche nach ihr wäre, im Laufe des Buches wandelt sich jedoch dieser Eindruck, vielleicht ist der Protagonist in Wirklichkeit auf der Flucht vor ihr? Auf den letzten Seiten entpuppt sich schließlich die ganze Tiefe dieses komplexen Beziehungskonstrukts zu einer fatalistisch absurden Schlussszene. Am Ende war der titelgebende lange Brief gar nicht so lang, und der Abschied entweder gar kein Abschied oder ein endloser Abschied.

„Jetzt habt ihr Hymnen für euer ganzes Leben, und nichts mehr braucht euch unangenehm zu sein. Alles, was ihr noch erleben werdet, wird im Nachhinein ein Erlebnis gewesen sein.“

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Roman

Hervé le Tellier – Neun Tage in Lissabon

Eine der unausgesprochenen Regeln des Romans sollte sein, dass jede Tür, die im Laufe des fiktionalen Geschehens geöffnet wurde, am Ende wieder geschlossen wird. Das wäre der Akt der Höflichkeit gegenüber dem Leser, für den nichts im Dunkeln bleiben sollte. Leider lässt sich diese Regel nur sehr schlecht mit den realen Bedingungen des Lebens vereinbaren, in dem nichts so klar ist, in dem nichts hermetisch verschlossen bleibt.

Der Ich-Erzähler Vincent beschreibt einen Arbeitstrip mit seinem Kollegen Antonio. Gemeinsam sollen sie über den Prozess an einem mutmaßlichen Serienmörder berichten. In diesem Rahmen reiht der Autor eine manchmal etwas willkürliche Kaskade an Personenbeschreibungen aneinander. Zumeist sind es Frauen, die alle auf ihre Art mit Vincent und seiner Fantasie spielen. Der Leser lernt die exaltierte und faszinierende Aurora kennen, die nach einer Liebesnacht mit Vincents Kollegen Antonio ein Geigenstück und ein Gedicht vor dem Restaurant zum Besten gibt, in dem Vincent und Antonio soeben mit Irene zu Abend essen. Irene, für die Vincent eine so glühende Verehrung verspürt, dass sie ihn praktisch nur auflaufen lassen kann, um sich stattdessen mit dem sprunghaften und unzuverlässigen Antonio einzulassen. Schließlich Manuela, die erfrischend spontan als Vincents erfundene Liebschaft einspringt, um Irene eifersüchtig zu machen.

All diese spannenden Frauenfiguren lassen die Herren im Nebel versinken, lassen ihre Gefühle (oder das, was sie dafür halten) unreif und nebensächlich wirken. Die oben mit dem ersten Absatz des letzten Kapitels angedeutete Auflösung der begonnenen Lebensgeschichten geht diesen Weg konsequent zu Ende. Ein Roman mit einem interessanten Ansatz, der nicht so einfach zu fassen ist.