Categories
Roman

Lilian Faschinger – Stadt der Verlierer

Ich imitierte die Gesten der Gläubigen, so wie ich sie als Kind imitiert hatte, wenn ich mit den Adoptiveltern und Silvia am Sonntag den Gottesdienst besuchte. Vielleicht würde ich hier etwas fühlen.

Gekauft hatte ich mir dieses Buch ursprünglich, weil ich es als Teil des Literaturcaches AL024 – LF vermutete. Literatur und Geocaching, das hätte eigentlich die perfekte Kombination für mich sein müssen, dachte ich. Inzwischen habe ich die Literaturcaches aufgegeben, weil ich befürchte, dass die langwierige Recherche dazu führt, dass mir die Caches vor der Nase weg archiviert werden.

Diesen in Wien spielenden Roman kann ich dennoch empfehlen. Zu Beginn konnte ich nicht recht reinkommen, ich hatte das Buch sogar für Monate weg gelegt, weil mir die Hauptfigur Matthias Karner so unsympathisch war. Unsympathisch zu recht. Es stellt sich Stück für Stück heraus, dass dieser Matthias Karner nicht nur ein Taugenichts ist, er spielt mit allen Menschen in seiner Umgebung und nutzt sie aus, sobald er irgendeine Möglichkeit dafür sieht. Als Nebenfigur fungiert die Detektivin Emma. Matthias Mutter beauftragt sie, ihren Sohn, den sie als Baby zur Adoption freigeben musste, zu finden. Emma erfüllt ihren Auftrag und lebt ihre eigenen Probleme. Doch Matthias Konfrontation mit seiner leiblichen Mutter stürzt Matthias in eine Krise. Als er von seinem Zwillingsbruder erfährt, den seine Mutter behalten und aufgezogen hat, wirft ihn dies endgültig aus der Bahn. Er dringt in das Leben seines Bruders ein und wirft alle familiären Gefühle über Bord.

Immer wieder schön sind die Beschreibungen des Wiener Lebensgefühls, ein Kleinod, das man in modernen Roman selten so findet. Die Morbidität, die Verlorenheit der Figuren, die unausweichliche Katastrophe, gepaart mit vielen bekannten Wiener Locations wie etwa dem Heurigen Zawodsky – all das charakterisiert die Stadt und sorgt für ein grandioses Lesevergnügen – sobald man es über die ersten Kapitel geschafft hat.

Categories
Roman

Ela Angerer – Bis ich 21 war

Meine Eltern haben nie ein Boot besessen. Die Szene auf dem Foto sieht nach Glück aus. Nach dem Glück fremder Leute, bei denen wir zu Gast sind.

Über ein Interview im Wiener-Magazin war mir dieses Buch aufgefallen, natürlich habe ich wieder mal kein genaues Zitat parat, aber in meiner Erinnerung warf das Interview die Frage auf, was der Beweggrund der Autorin war, eine derartige Kindheit in einem autobiografischen Roman zu thematisieren. Über den Inhalt wurde nicht viel verraten, geheimnisvoll, perfekte Werbung irgendwie.

Die Ich-Erzählerin beschreibt ihre Kindheit mit einer desinteressierten Mutter, die einen reichen Cadillac-Fahrer heiratet und fortan nur noch an ihren Pelzmänteln und Bridge-Turnieren hängt. Die Erzählerin und ihre Schwester wachsen unter Hausangestellten, Dienstboten und Kindermädchen in einem Schloss auf. Da sie großteils sich selbst überlassen sind, suchen sie sich selbst eine Beschäftigung, die Erzählerin landet dabei bereits mit 12 Jahren in der Dorfdisco und perfektioniert Jahr für Jahr Lügen und Ausweichmanöver, um ihren steigenden Drogenkonsum zu verheimlichen.

Wenn man sich heimlich mit solchen Fragen herumschlägt, obwohl man doch eigentlich nur funktionieren will soll – zu Hause, in der Schule, beim Friseur, im Bus –, dann möchte man sein Gehirn ruhigstellen. In meinem Fall erwiesen sich die Drogen dabei als große Hilfe, wobei ich ja erst am Anfang einer langen Testphase mit den unterschiedlichsten Mitteln stand.

Als die Eltern schließlich mitbekommen, was mit der Tochter los ist, wird sie ins Internat in die Schweiz verfrachtet. Auch aus den dortigen strengen Regeln findet die Protagonistin zumindest für die Wochenenden gekonnt eine Ausflucht. Es scheint, dass einzig der fixe Rückkehrtermin jeden Sonntag Abend sie davon abhält, in eine intensive Drogensucht abzurutschen.

Nur Dinge aussprechen, für die man Worte findet. Nur Szenen festhalten, die sich ohne tieferen Sinn ereignen. So gesehen muss man alle Fotodokumente, die einem im Laufe der Zeit von Verwandten, Bekannten oder Wildfremden unterkommen, neu bewerten. Weil es immer nur um das geht, was darauf fehlt.

Was in den Rezensionen als schonungslos und offen beschrieben wird, hat mich beim Lesen eher irritiert. Die Geschichte gibt vor, die Welt aus dem Blickwinkel des Kindes zu betrachten und doch kann kein Kind dermaßen abgeklärt Risiken eingehen, ohne jemals an die Folgen zu denken.

Die Beschreibung auf Amazon enthält mehr Dramatik als das ganze Buch:

Die Eltern sind abwesend, das Personal hilflos. Mit dreizehn beginnt das Mädchen eine Affäre mit einer jungen Krankenschwester und nimmt Drogen. Das fällt sogar den Eltern auf – die Tochter kommt ins Internat und lernt dort, dass es das Böse wirklich gibt.

Dass es das Böse wirklich gibt … klingt nach Horrorschocker und verfolgt wohl auch dieses reißerische Ziel. Jedoch lenkt dies in meinen Augen eher vom wirklichen Thema des Buches ab: Allein gelassene Kinder können sich nicht entwickeln. Kinder brauchen Führung, um lernen zu können, mit den Freiheiten und Verführungen des Lebens umzugehen. Eine Anklage oder ein Aufruf?

Categories
Roman

Axel Marc – Beide Welten

Natürlich hoffte ich, in Wien meine Träume zu finden. Diese Hoffnung konnte mir niemand nehmen, und das war mein Trumpf. Also wartete ich. Und jeden Morgen suchte ich. Nach einem Traum, nach meinem Traum, von dem ich glaubte, er sei nur verloren gegangen wie eine Melodie im Menschengeschrei.

Ein dünner Band, den ich mir eigentlich für eine Reise zurechtgelegt hatte, tatsächlich hatte ich ihn auch auf meiner vorletzten Reise nach Stuttgart dabei, damals ergab sich jedoch nicht die Gelegenheit. (Keine Gelegenheit zum Lesen auf ungefähr 14 Stunden Zugfahrt, das muss man sich mal vorstellen. So viel Stress sollte niemand haben.)

Tatsächlich saß ich dann auf der Couch lauschend auf die schlafenden Kinder meiner Freundin, die ich zu beaufsichtigen hatte. Beinahe wurde mir die Geschichte zu kurz, doch dann gewann doch der Schlaf über meinen Willen, ein Buch in einem Rutsch durchzulesen. Es liest sich auch leicht. Ein Buch für eine einsame Nacht. Außer wenn man sich nach einem ausgelesenen Buch einsam fühlt.

Emil kommt als illegaler Einwanderer nach Österreich. Er spielt Geige und schlägt sich in Wien durch, in dem er bei Aurelia und Mihai im Restaurant aushilft und als Straßenmusikant Geld sammelt. An einem regnerischen Abend lernt er Anna und Elly kennen. Elly überredet beide. Emil soll Anna Geigenunterricht geben.

Die Gefühlswelten von Anna und Emil werden in abwechselnden Kapiteln beleuchtet. Natürlich haben sie kaum etwas gemeinsam und doch verbindet ein Gefühl der Trauer, der Einsamkeit die beiden. Sie scheinen ihren Platz im Leben noch nicht gefunden zu haben. Sie verstehen sich trotz der sprachlichen Differenzen. Ein Buch, das Hoffnung macht. You’re not alone.

Categories
Roman

Graham Greene – Der dritte Mann

Eigentlich wollte ich mir den Film ansehen, bevor ich den Blog Post zu diesem Buch schreibe. Weil ich das Buch nicht gut fand. Nicht spannend. Nicht mitreißend. Aber vielleicht ist der Film gut? Eine filmische Umsetzung drängt sich quasi auf. Schon im Vorwort steht als erster Satz:

„Der dritte Mann“ wurde nicht geschrieben, um gelesen, sondern um gesehen zu werden.

Hätte ich das nur gewusst, bevor ich das Buch überhaupt gekauft hatte. Zuerst kam ich gar nicht rein. Die Erzählweise kann verwirrend sein, am Anfang hatte ich ernsthaft Probleme, zwischen Rollo Martins und dem erzählenden Polizisten zu unterscheiden. Das dürfte filmisch keinerlei Probleme darstellen (vorausgesetzt die Darsteller sehen sich nicht ähnlich, davon gehe ich jetzt vollkommen unwissend aus). Vielleicht ist der Film gut. Das Buch muss man nicht gelesen haben.

Categories
Roman

Thomas Glavinic – Die Arbeit der Nacht

Er wanderte umher. Sein Blick fiel auf die Garderobe. Wieder hatte er das Gefühl, etwas stimme nicht. Diesmal erkannte er, woran es lag. An einem Haken hing eine Jacke, die ihm nicht gehörte. Die er vor einigen Wochen bei Gil in der Auslage gesehen hatte. Sie war ihm zu teuer gewesen.

Wiederum erforscht Thomas Glavinic die menschlichen Emotionen. Als Jonas am Anfang des Romans aufwacht, scheint noch alles in Ordnung zu sein, doch als er seine Wohnung verlässt, bemerkt er, dass keine Menschen auf der Straße sind. Kein Morgenverkehr, auch kein Vogelgezwitscher, denn auch alle Tiere sind verschwunden. Zuerst ungläubig sucht Jonas die Wohnung seines Vaters, sein Büro und die Wohnung eines Kollegen auf. Vergeblich. Nachdem er ihn Wien alle möglichen Orte besucht hat, verlässt er die Stadt, um auch über den Grenzen nach menschlichem Leben zu suchen. Und findet weiterhin nur Einsamkeit.

Er hatte das Gefühl, jede Sekunde könnte ihn von hinten eine Hand fassen. Es wich, als der Nebel auflockerte. Bald waren die Bäume am Straßenrand zu sehen, schließlich auch die blumengeschmückten Pensionen, an denen er vorbeikam.

Die Einsamkeit scheint Jonas nicht direkt zu beunruhigen, doch zusehends fühlt er sich verfolgt. Es scheint widersinnig, dass er sich gerade verfolgt fühlt, wo er doch seit Tagen und später Wochen niemandem begegnet ist. Als er sich bei einem Ausflug auf den Kanzelstein, ein ehemaliges Urlaubsziel seiner Familie, im Wald verirrt, ist Jonas schließlich dem Wahnsinn nahe. Obwohl niemand da ist, der ihn gefährden kann, weder Mensch noch Tier, läuft Jonas mit einem Gewehr herum und fürchtet sich vor dem Wolfsvieh, das ihn in seinen Träumen verfolgt.

Es ist erschreckend, wie sich die Persönlichkeit des Protagonisten zu spalten scheint. Er beginnt, sich im Schlaf zu filmen, nennt die gefilmte Person jedoch „den Schläfer“. Das scheint sich selbst ad absurdum zu führen, als er bei laufender Kamera wach und bewusst in die Kamera winkt und sagt „Ich bin es, nicht der Schläfer“. Beim späteren Ansehen scheint es dann doch der Schläfer gewesen zu sein.

Den Blick unverwandt auf den Glockenturm des Doms errichtet, fühlte er plötzlich den Wunsch, ein Kind zu sein. Eines, das Marmeladenrote bekam und Saft. Das auf der Straße spielte und schmutzig heimkam und für eine zerrissene Hose gerügt wurde. Und das dann von den Eltern in die Badewanne gesteckt und zu Bett gebracht wurde.

Beim Lesen dachte ich am Anfang oft darüber nach, auf welche Produkte Jonas bald verzichten wird müssen. Es erschien mir befremdlich, dass er nicht einen einzigen Gedanken daran verschwendet, dass er bald nichts Frisches mehr zu essen haben wird. Er ernährt sich auch zusehends aus Konserven, die finden sich überall. Ohne Tiere lassen sich auch keine Milchprodukte herstellen, selbst wenn Jonas die Geduld fände, herauszufinden, wie man es macht. Doch tatsächlich vergehen bis zum Ende des Romans nur wenige Wochen, solange dürfte die Haltbarmilch ausreichen.

Stück für Stück scheint der Wahnsinn Jonas einsame Seele zu überwältigen. Er versucht schließlich, nach England zu reisen. Dabei muss er sich wachhalten, denn der Schläfer bringt ihn nachts stets wieder zurück und will ihn nicht zu seinem Zielort gelangen lassen. Der mangelnde Schlaf treibt Jonas endgültig zur Verzweiflung. Und letztendlich wird klar, dass ihm von Anfang an nur er selbst gefährlich werden konnte. Wenn man so allein ist, kann man sich nur vor sich selbst fürchten.

Categories
Roman

Angelika Hager – Venus im Koma

Die Dienstags-Intensivauseinandersetzung bei der Plätscher-Tante konnte sie jetzt einmal getrost aus dem Wochenplaner streichen. So hatte doch jede Katastrophe irgendeine Form von Bonustrack. Und jetzt?

Die Polly Adler-Kolumne in der Kurier-Freizeit-Beilage lese ich nun schon seit Jahren, konnte mir allerdings nicht vorstellen, wie sich ein Roman in derartiger Wuchteldichte schreiben und vor allem lesen lässt. Beim Stöbern in den verfügbaren Neuzugängen in der Onlinebibliothek der Büchereien Wien fiel es mir dann zum richtigen Zeitpunkt entgegen. Tatsächlich erwies es sich dann als überraschend kurzweiliges Lesevergnügen. Aber …

Innerhalb einer halben Woche hatte ihre Work-Life-Balance eine kopernikanische Wende genommen. Die Chinesen betrachteten den Zustand der Verliebtheit als eine Form der Geisteskrankheit. Und womit? Mit Recht! Sie stand vor einer Bombengeschichte, der sich bei Anatol wieder auf Schiene bringen würde, und wälzte die Probleme eines verwirrten Teenagers.

… wenn ihr zu ihrer Wuchtelschlacht doch nur ein etwas originellerer Plot eingefallen wäre … der abgelebte und widerspenstige Ehemann, der schwule Kollege und Freund, der abgehobene Chef, die nervige Aufsteigerkollegin, der attraktive Polizist. Die Charaktere wirken wie Scherenschnitte, die mit aller Gewalt dem Reißbrett entsprungen sind und langweilen teilweise schon beim ersten Auftritt. Stück für Stück hat man das Gefühl, schon zu wissen, in welche Peinlichkeitskatastrophe die resolute Polly Adler als nächstes stürmen wird.

Und doch entspringen der Geschichte dann doch einige überraschende Wendungen, die die Gesamtstory zwar nicht origineller, aber den Lesefluss immerhin spannender machen. Wenn man als Maßstab herkömmliche Frauenromane von der Carly-Philipps-Stange anlegt (ich habe noch immer die Schwestern-Trilogie im Kopf, die dermaßen vorhersehbar war, dass man nach jeweils 10 Seiten alles weiß), kann man sich mit Polly Adler und ihrem Fortpflanz (deren Rolle zu klein ist) dann doch um einiges besser amüsieren. Dank Lokalkolorit und Wuchtelschlacht ergibt sich ein witziges Leseerlebnis. Zur Entspannung sozusagen perfekt.

Categories
Krimi Roman Thriller

Jo Nesbo – Rotkehlchen

Gollinger Wasserfall

Er wachte von seinem eigenen keuchenden Atem auf und musste sich im Bett umdrehen, um sich zu vergewissern, dass er allein war. Anschließend vermischte sich alles zu einem Mahlstrom aus Donner, Schlaf und Träumen. Er wachte erneut auf, diesmal von dem Regen, der gegen sein Fenster prasselte, erhob sich und schaute auf die Straßen hinunter, auf denen das Wasser über die Bordsteinkante spülte und einen einsamen, herrenlosen Hut mit sich riss.

Zumindest ein Teil meiner Geburtstagsgäste folgte dem Vorschlag, als Gesetz einfach ein Buch mitzubringen, und dieses war dabei. Ein Harry Hole, yay. Wenn man mit Leopard begonnen hat, fällt als Erstes die vermeintliche Normalität auf. Leopard beginnt mit einem völlig abgestürzten, desolaten Harry Hole, während Rotkehlchen mit einem zwar leicht suchtgefährdeten, aber im Großen und Ganzen normalen Kommissar beginnt. Was bei mir eine nahezu unerträgliche Spannung ausgelöst hat, wie wohl der Weg von Rotkehlchen zu Leopard weitergehen mag. Hier lernt er die Frau und das Kind, die er in Leopard bereits verloren hat, gerade erst kennen. Wie geht’s weiter? Wieder mal eine Bestätigung für mich, dass man aufeinander folgende Bücher in der richtigen Reihenfolge lesen sollte. Allerdings hätte ich ohne den Amazon-Gratis-Leopard vielleicht gar nicht damit angefangen … wie das Leben so spielt.

Der zu lösende Fall ist ein grandios ausgeklügeltes Rachesystem. In Rückblenden wird die Geschichte von mehreren norwegischen Soldaten erzählt, die für die Deutschen gegen die Russen kämpften und nach dem Krieg als Landesverräter verurteilt wurden. Nicht alle haben überlebt. Manche aber doch. Andere auf unterschiedliche Art. Nicht nur Harry erlebt eine Liebesgeschichte, auch eine Rückblende auf einen Soldaten und eine Krankenschwester im zerbombten Wien bringt vorübergehend Licht ins Dunkel. Doch zuviel braucht nicht verraten zu werden, ich rate jedem, mit dem ersten Harry Hole anzufangen. Demnächst.

Categories
Roman

Thomas Stangl – Ihre Musik

Klagenfurt

Ich erkenne nichts Eigenes in dem Zimmer, nur die ineinander übergehenden, ineinander auslaufenden Räume, der Wohnraum und das Schlafzimmer so langgezogen und leer wie der Vorraum, keine Bücher, keine Zigaretten und Aschenbecher, keine Kugelschreiber, keine Notizen; Worte und Beschreibungen, Verdopplungen und Verschiebungen halten diese Figur nicht mehr zusammen.

Dieser Schreibstil, der Gedanken abbildet: furchtbar anstrengend zu lesen, aber ganz besonders beliebt bei (selbst ernannten) Literaturkritikern. Es entfaltet sich so schnell, dass man sich irre konzentrieren muss und doch passiert fast nichts (zumindest nichts Konkretes). Vieles bleibt der Interpretation des Lesers überlassen. Die Entfaltung der Gedanken ruft zur Entfaltung der eigenen Gedanken auf.

Sie steht in der Mitte des Bahnsteigs, lang bevor der Zug einfährt. Ihre Haut ist durchscheinend, sie bewegt ganz leicht, wie zu einer nur für sie hörbaren Musik (da sind nur dann und wann die verschiedensprachigen Unterhaltungen um sie, unverständliche Lautsprecherdurchsagen, Möwenschreie vom Himmel her), die Hände, als würde sie die Falten eines unsichtbaren weißen Kleides vor ihren Schenkeln glätten, sie weiß jetzt, wie es ist, nicht mehr da zu sein.

Genau genommen könnte man diesen Roman auch kriminalistisch analysieren. Die Spaziergänge führen durch die Wiener Leopoldstadt und auch mal darüber hinaus. Wer die Gegend kennt, kann viele der erwähnten Plätze wieder erkennen und möglicherweise den Wegen der Protagonistin folgen.

Im Augarten sind jetzt schon die Krähen angekommen und legen jeden Abend und jeden Morgen einen dichten schwarzen Schleier und aus vielfältigen Klängen gewebte mächtige Schallteppiche über die kahl werdenden Bäume und die Kieswege, sie geht außen an der Mauer entlang und dann an immer schäbiger werdenden Läden vorbei die Taborstraße bis zum Ende hoch.

Auch ich habe einen neuen Blick gewonnen: auf den Teil des Donaukanals an der Hollandstraße, den ich so oft auf dem Weg zur Arbeit sehe. Man sollte sich wohl öfter mal hinsetzen und die Stadt und das Leben wirklich wahrnehmen anstatt nur daran vorbeizulaufen.

Die Stufen und die Zillen (wenn sie hinuntergeht, die Hollandstraße entlang und nach der Ampel die Treppe am Kanal abwärts, Schritt für Schritt, ans Geländer gestützt, schwer atmend) sehen aus wie sie vor über sechzig Jahren ausgesehen haben; als wäre nichts geschehen, sie weiß jetzt, dass nichts geschehen ist und die unberührte Welt keinen Halt bietet, die Haut der Dinge ist ohne Erinnerung wie ihre eigene Haut ohne Erinnerung ist, keine Empfindung zurückbehalten hat.

Categories
Kurzgeschichten Roman

Friedrich Torberg – Die Tante Jolesch

Prag(c)robertovm/SXC

Man könnte freilich auch sagen, dass das Kaffeehaus etwas von der Tante Jolesch abbekommen hat, dass sie das missing link zwischen talmudischer Ghettotradition und emanzipierter Kaffeehauskultur war, sozusagen die Stammmutter all derer, die im Kaffeehaus den Katalysator und Brennpunkt ihres Daseins gefunden hatten, ob sie’s wussten oder nicht, ob sie’s wollten oder nicht.

Obwohl die titelgebende Tante Jolesch nur im ersten Kapitel in persona auftritt, schwebt sie doch als Typus einer ausgestorbenen Generation über all den Anekdoten, die Friedrich Torberg hier versammelt hat. Allerlei Skurrilitäten, die in ihrer geballten Surrealität wesentlich kompakter wirken, als sie sich vermutlich ereignet haben dürften.

Einer der sechs Brüder hatte sich – noch zu des Vaters Lebzeiten – von einem Aufenthalt in Paris allerlei Modetorheiten mitgebracht, … und eine Vorliebe für Artischocken, was nun vollends als mondäne Verstiegenheit gewertet wurde. … Daran gewöhnte sich allmählich auch das skeptische Familienoberhaupt, ohne indessen seine abweisende Haltung zu ändern. Wie tief sie in ihm verwurzelt war, erwies sich, als man sich eines Sonntags um den Tisch versammelte und die Artischocke noch nicht auf dem üblichen Platz stand. „Mutter!” rief da der Vater Taussig in die Küche. „Wo ist das Gestrüpp für den Buben?“

Zentrales Thema und Schauplatz ist das Kaffeehaus, das in dieser Form hauptsächlich in Wien existiert und international zwar kopiert werden mag, aber das Wiener Flair niemals erreichen wird. Gleichzeitig behaupte ich, dass das Kaffeehaus in seiner damaligen Form nicht mehr existiert. Heute wohnen nicht mal die Bohemians, die per Laptop im WLAN arbeiten, wirklich im Kaffeehaus. Damals hatten die Literaten wohl tatsächlich nichts anderes zu tun als den Austausch von Neuigkeiten im Kaffeehaus. Zumindest vermittelt uns Torberg, der auch als Journalist tätig war, diesen Eindruck.

In ihrer Wohnung schliefen sie nur. Ihr wirkliches Zuhause war das Kaffeehaus.
Warum ist es das nicht mehr? Auch für jene nicht, die konstitutionell dafür geeignet wären? Liegt es an ihnen, dass sie im Kaffeehaus nicht mehr arbeiten können? Liegt es am Kaffeehaus?

Der titelgebenden Tante Jolesch werden im Volksmund allerhand Aussprüche zugeschoben, als Beispiel sei hier das Thema Männer, Affen und Luxus genannt. Torbergs Anekdotensammlung hat jedoch einiges mehr als die bekannten Sprüche zu bieten und hat mir mehr als einmal ein Lächeln auf in mein Gesicht gezaubert. Hier handelt es sich definitiv um einen Klassiker, der seine Zeit bei weitem überlebt hat und auch heute noch begeistern und unterhalten kann.

Categories
Krimi Roman

Eva Rossmann – Evelyns Fall

Kellergasse_(c)_Adolf-Riess/PIXELIO

Sie schaut mich bedauernd an. „Die Post kommt jetzt ja immer so spät. Da war schon die Barbara Karlich Show im Fernsehen. Unglaublich, wie die Welt heute ist. Die reden da über Sachen, die hätten wir uns nicht einmal zu denken getraut.“

Die Journalistin Mira Valensky und ihre wackere Freundin Vesna begeben sich diesmal auf die Spur eines Mordes, der zuerst gar keiner zu sein scheint. Vesnas Tochter Jana ist mit der aufstrebenden Sängerin Celine befreundet. Deren Mutter scheint durch einen Unfall ums Leben gekommen zu sein, doch Celine will das nicht glauben. Auf der Suche nach dem Mobiltelefon, das der erklärte Liebling der Verstorbenen war, wird Indiz um Indiz aufgedeckt, das schließlich zur Enthüllung von allerhand Geheimnissen führt.

Ich programmiere mein Navi, und Vesna mokiert sich über die seltsame Computerstimme. Ich nenne sie Susi. Und Susi führt uns sicher zur eingegebenen Adresse. Ein schicker Bau. Weiß und Glas, quadratisch, zweistöckig, sicher noch keine zwei Jahre alt. Ein Parkplatz vor dem Haus, im ersten Stock sind tatsächlich einige Fenster erleuchtet.

Solche Einzelheiten sind es, die die Mira Valensky-Krimis spannend machen. Kaum ein Navigationssystem kommt ohne einen verniedlichenden Namen aus, von Susi bis Beate habe ich schon unzählige Namen gehört, die die geneigten Benutzer und Besitzer den nervenden Computerstimmen zuweisen.

Lange scheint es, als hätte die verstorbene Evelyn einfach nur viel Pech in ihrem Leben gehabt. Mit 42 Jahren übergewichtig und krank, daher nicht mehr arbeitsfähig, delogiert, einsam und allein. Soll dieser Frau tatsächlich das Wunder passiert sein, im Lotto einen Gewinn zu erzielen? Stück für Stück setzen Mira und Vesna das komplizierte Puzzle zusammen, dabei kriegt nicht nur Mira sondern auch ihr Lebensgefährte Oskar mal einen Schlag ab. Erst im großen Finale offenbart sich schließlich die wahre Geschichte der Evelyn Maier und ihres vorzeitigen Todes, der sie auf eine Art auch aus ihrem einsamen und armen Leben errettet haben mag.

Viel Sozialkritik lässt Eva Rossmann in diesem Krimi mitschwingen. Wie kann es sein, dass in einem Sozialstaat wie Österreich Menschen in derart ärmlichen Verhältnissen leben müssen, wie es bei der toten Evelyn Maier der Fall war. Wie konnte sie durch alle sozialen Netze fallen, sodass ein Lottogewinn schließlich ihre letzte Rettung hätte sein können? Eine kurzweilige Geschichte aus dem Mira-Valensky-Universum, tauglich als Unterhaltung zwischendurch.

Weitere Informationen: LiteraturgeflüsterLeseLustLiteraturBlog