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Roman

David Nicholls – One Day

Erst kürzlich habe ich mich gefragt, ob diese Reading Challenge so eine gute Idee war. Nach knappen 5 Monaten zeichnet sich kein großer Erfolg ab, irgendwie kann ich mir nicht vorstellen, dass ich über den Sommer so viel aufholen werde können, dass sich das irgendwie ausgeht.

Andererseits hat es mir einen neuen Blick in manche Nischen beschert. Da ich in meinen eigenen Beständen und Listen kein Buch mit einer Zahl im Titel finden konnte, habe ich an einem Abend eine entsprechende Liste auf Goodreads durchgeblättert und mich schließlich für dieses Buch entschieden. Hauptsächlich, weil es im englischen Original in der Wiener Hauptbücherei verfügbar war. Und damit habe ich einen echten Glücksgriff getätigt, zu dem ich auf anderem Wege vermutlich nicht gekommen wäre.

Das Buch beschreibt das Leben von Emma und Dexter über einen Zeitraum von insgesamt 20 Jahren. Der dramaturgische Kniff dabei: wir sehen Emma und Dexter jeweils an einem Tag des Jahres, dem 15. Juli, die Zeit dazwischen wird teilweise nacherzählt, großteils jedoch ausgeblendet. Es beginnt am Tag der Abschlussparty, als Emma und Dexter nach einer Party die Nacht miteinander verbringen. Und endet 19 Jahre später. In dieser Zeit erleben beide viele Wendungen in ihrem Leben, auch ihr Verhältnis zueinander erlebt Ups and Downs, andere Menschen treten in die Leben der beiden und verlassen es wieder.

Es gab so viele Momente, in denen ich buchstäblich laut aufseufzen musste, weil eine Chance verpasst wurde oder eine Situation sich so vertraut anfühlte, dass man beim Lesen körperlichen Schmerz verspürt. Das liegt zum einen an der lockeren Sprache, flott und witzig geschrieben, zum anderen daran, dass einem beide Hauptpersonen (obwohl sich Dexter teilweise zu einem ziemlichen Mistkerl entwickelt) so sympathisch sind, dass man sie gerne glücklich sehen will. Ob zusammen oder allein.

Der Autor beschreibt etwa launig Emmas Gefühle bezüglich der in ihrem Freundeskreis multipel auftretenden Familiengründungen. Die freie Singlefrau Anfang 30, scheinbar beneidet von den unausgeschlafenen Müttern:

Of course, she can’t say any of this out loud. There’s something unnatural about a woman finding babies or, more specifically, conversation about babies, boring. They’ll think she’s bitter, jealous, lonely. But she’s also bored of everybody telling her how lucky she is, what with all that sleep and all that freedom and spare time, the ability to go on dates or head of to Paris at a moment’s notice. It sounds like they’re consoling her, and she resents this and feels patronized by it. It’s not like she’s even going to Paris!

Die Bewertung, ob sich Männer eher mit der männlichen Hauptfigur Dexter identifizieren können, muss ich anderen überlassen, mir persönlich war Emma deutlich sympathischer. Sie ist zwar nicht fehlerlos gezeichnet (was ja an sich schon wieder unsympathisch wäre), jedoch macht sie keine offensichtlich gravierenden Lebensfehler wie Dexter, der durch seine TV-Karriere in eine Alkohol- und Drogensucht hineinrutscht, die sein Leben über mehrere Jahre dominiert. Oft hatte ich als Leser das Gefühl, Dexter hätte mehr Glück, als er verdient, während ich Emma jede Wendung zu ihren Gunsten von Herzen vergönnen konnte.

Abschließend sei zu sagen (hoffentlich ohne zu spoilern), dass sich der Autor nicht um ein Ende herumdrückt. Im letzten Drittel hatte ich die dringende Befürchtung, es kann nur auf ein Happy End (im Sinne von endlich zusammen, happily ever after …) hinauslaufen. Diese hat sich nicht bestätigt, das Ende passt perfekt. Leseempfehlung.

Reading Challenge: A book with a number in the title

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Roman

Mitch Albom – The First Phone Call from Heaven

The living can’t speak to the dead! If they could, don’t you think I would? Wouldn’t I trade my next hundred breaths for one word from my wife? It’s not possible. There is no God who does such things. There is no miracle in Coldwater.

Mitch Albom ist immer wieder ein Garant für inspirierende Geschichten, obwohl mich beim Lesen immer das Gefühl begleitet, keines seiner späteren Bücher käme an Die 5 Menschen, die dir im Himmel begegnen (gelesen lange vor dem Start meiner Aufzeichnungen) heran. Es kann jedoch gut sein, dass meine Erinnerung diesbezüglich etwas verklärt ist, es passte damals einfach sehr gut zur Situation und würde ich es heute lesen, fände ich es vielleicht gar nicht mehr so toll. Natürlich habe ich es längst verschenkt ;-)

In Coldwater erhalten mehrere Menschen Anrufe – scheinbar aus dem Jenseits. Verstorbene Angehörige sprechen mit Zurückgebliebenen, diese nehmen die Botschaften aus dem Jenseits unterschiedlich auf. Die gläubige Katherine Yellin erzählt schließlich in ihrer Pfarre davon, nach ihr trauen sich auch andere, öffentlich zuzugeben, dass sie kontaktiert wurden. Katherine Yellin ist überglücklich über die Botschaften ihrer verstorbenen Schwester und führt nur zu gerne den aus dem Jenseits erteilten Auftrag aus: Erzähl allen Menschen über den Himmel, er ist wunderschön.

Die Reaktionen auf das Wunder sind gemischt, Coldwater wird von einer Masse an Gläubigen und Zweiflern überschwemmt. Mit großem Einfühlungsvermögen beschreibt der Autor, wie sich das Wunder und dessen Folgen auf die Betroffenen auswirkt. Sowohl auf die Glücklichen, die die Anrufe erhalten, als auch auf jene, die ebenfalls jemanden verloren haben, aber nicht kontaktiert werden. Warum wurden sie nicht auserwählt? Stück für Stück analysiert der Autor den Glauben der Menschen und wie sich dieser durch das Wunder verändert.

Höhepunkt ist die TV Show, in der Katherine Yellin live einen Anruf ihrer verstorbenen Schwester mit der Welt teilt. Die Kritik an der Sensationslust der Medien wird verkörpert durch die Reporterin Amy Penn, die in der Geschichte zuerst ihre große Chance sieht, endlich bekannt zu werden, und schließlich vor der großen TV Show erkennt, dass es im Leben um mehr als nur einen erfolgreichen TV-Auftritt geht. Im furiosen Finale wird alles Vorhergegangene wieder über den Haufen geworfen. Der folgende Absatz erscheint mir als passende Zusammenfassung:

At one point after the call had abruptly ended, Elias asked his pastor. “Does this prove, what we believe?” and Warren softly said, “If you believe it, you don’t need prove.” Elias didn’t say much after that.

Reading Challenge: A book from an author you love that you haven’t read yet

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Roman

Edwin A. Abbott – Flatland

Manche Bücher fliegen einem überraschend zu und begleiten einen dann recht lange. Mit diesem eigentlich sehr dünnen Band habe ich Wochen verbracht. Unter anderem weil ich mich einfach in lauter Umgebung nicht auf die Schwierigkeiten konzentrieren konnte: Altmodische englische Sprache, das mathematische Thema, zwischen den Zeilen zu lesen …

Beschrieben wird zuerst die Welt der zweiten Dimension: Flatland. Hier sind Frauen Linien, Männer unterschiedliche Arten von Polygonen. Je Mehr Ecken ein Mann hat, desto höher steht er in der Rangordnung, ein Polygon mit über 500 Ecken wird als Kreis angesehen und gehört zur höchsten Ordnung.

Protagonist ist ein Quadrat, das zuerst seine Welt der zweiten Dimension erklärt, dann einen Ausflug in die erste Dimension – Lineland – macht, wo es mit dem dortigen König aufgrund von Kommunikationsschwierigkeiten aneinander gerät. Der König von Lineland kann sich keine weitere Dimension vorstellen, sieht vom Quadrat nur eine Seite / Linie und will keinesfalls akzeptieren, dass es noch mehr gibt, als die Welt, die ihm bereits bekannt ist.

‘Bass-voiced monstrosity! yes,’ replied the king. ‘How else could the balance of the sexes be maintained, if two girls were not born for every boy? Would you ignore the very Alphabet of Nature?’

Im Vorwort wird unter anderem erklärt, dass das Buch nicht frauenfeindlich gemeint sein soll. Warum es diesbezüglich Beschwerden gab, wird klar, wenn man erstmal ein paar Kapitel hineingelesen hat. In Spaceland sind die Frauen Linien, sie sind den Männern unterlegen, aber doch gefährlich, denn mit ihren spitzen Enden könnten Frauen leicht einen Mann aufspießen, weshalb sie ständig Friedensschreie von sich geben müssen, damit niemand gefährdet wird. Höhere Fähigkeiten haben Frauen vor langer Zeit verlernt, die Männer sprechen mit den Frauen eine einfachere Sprache als miteinander.

… but behind their backs they are both regarded and spoken of – by all except the very young – as being little better than ‘mindless organisms’.

Man muss da wohl auch die Zeit in Betracht ziehen, 1884 war die Welt noch eine andere und der Stellenwert der Frauen in der Gesellschaft in keinster Weise mit der heutigen Situation vergleichbar.

Später erhält das wackere Quadrat Besuch aus der dritten Dimension – Spaceland. Eine kugelförmige Person dringt in seine Wohnung in Flatland ein, das Quadrat sieht zuerst nur einen Kreis und will nicht wahrhaben, dass ein Wesen aus einer anderen Dimension vor ihm steht. Erst Stück für Stück lässt sich das mathematisch bewanderte Quadrat überzeugen, dass es eine Welt außerhalb seiner eigenen Welt gibt, die ihm bisher verborgen war. Nach einigen Unterrichtsstunden will das Quadrat mehr wissen:

But, just as there was the realm of Flatland, though that poor puny Lineland Monarch could neither turn to left nor right to discern it, and just as there was close at hand, and touching my frame, the land of Three Dimensions, though I, blind senseless wretch, had no power to touch it, no eye in my interior to discern it so of surety there is a Fourth Dimension, which my Lord perceives with the inner eye of thought. And that it must exist my Lord himself has taught me.

An dieser Stelle wird es dem kugelförmigen Objekt zu bunt. Selbständiges Denken vom Unterlegenen, das muss man sich wirklich nicht bieten lassen. (Ironie Ende) Zurück in Flatland versucht das Quadrat, seine Mitbürger von der dritten Dimension zu überzeugen und landet wegen seiner aufrührerischen (um nicht zu sagen revolutionären) Ideen im Gefängnis. Es blitzt auch etwas Spitzes im Hinblick auf Religionen hervor, die in der Vergangenheit auch immer wieder versucht haben, andere von der Existenz ihrer Götter oder anderer Welten zu überzeugen, und das oft ohne Rücksicht auf Verluste. Satire aus einer anderen Dimension.

Reading Challenge:
A book more than 100 years old

(Preface to the Second and Revised Edition, 1884)

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Roman

John Irving – Lasst die Bären los

Für einen Moment lang schaltete ich den leisen Leerlauf, lauschte mit ihnen und hielt wie sie Ausschau nach dem einen hochbegabten Tier, das jede Sekunde auftauchen könnte – nachdem es den bestmöglichen Hinderniskurs gelaufen war. Nach dem einen hervorragenden Gibbon vielleicht, der im Handstandüberschlag das Krankenhausgelände durchqueren würde – umringt von Krankenschwestern, von den Balkons mit Rollstühlen bombardiert; schließlich in Gummiatemschläuche verstrickt und mit einem Stethoskop erdrosselt. Eine Gefangennahme, die sich das komplette Krankenhauspersonal und die Patienten als stolzen Verdienst anrechnen würden.

John Irvings erster Roman zeigt bereits alle seine Fähigkeiten in der überzeugenden Charakterisierung seiner Protagonisten. Meiner Ausgabe des Romans ist ein Interview mit dem Autor nachgestellt, in dem er unter anderem davon spricht, dass er die Obsessionen seiner Charaktere kennen muss. Wer eine Obsession hat, die er nicht kontrollieren kann, bricht aus der Norm aus und wird dadurch interessant. Diese Aussage scheint mir einer längeren Betrachtung wert, da steckt doch ein tieferer Sinn dahinter, der über die Erfindung von Romanfiguren hinausgeht.

Wie so oft steckt dahinter der Begriff „normal“ und die Frage, was ist überhaupt normal und kann überhaupt irgendetwas oder irgendjemand normal sein? Ist eine Mode automatisch normal, wenn sie von einer größeren Menge an Personen angenommen wird? Wie groß muss diese Menge sein? Welche Obsession treibt den an sich normalen Menschen aus seiner Normalität heraus? Wann wird eine Obsession so stark, dass der Mensch sie nicht mehr kontrollieren kann?

Der Roman erzählt von den Studenten Siggi und (Hannes) Graff. Siggi ist voller Energie und wirrer Ideen und überredet Graff zu einem Trip mit dem Motorrad. Graff ist ein eher stiller Typ, ein Mitläufer, der etwas ziellos durchs Leben stolpert und sich vom temperamentvollen Siggi mitreißen lässt. Siggi erfindet den Plan, die Tiere im Tiergarten Schönbrunn zu befreien. Graff nimmt ihn nicht ernst, doch nachdem Siggi bei einem Unfall ums Leben kommt, kann Graff an nichts anderes mehr denken, als Siggis verrückten Plan in die Tat umzusetzen. Bei der sich entfaltenden Katastrophe spielt der Asiatische Kragenbär eine wesentliche Rolle.

Zwischen Siggis Plänen (Zoowache) erfahren wir seine Familiengeschichte. Dafür recherchierte sich John Irving tief in die jugoslawische Geschichte vor und während des zweiten Weltkriegs, um die Geschichte von Siggis Vater und dessen Reise nach Wien zu erklären. Siggis Familiengeschichte zeigt deutlich die Verzweiflung, die Ausweglosigkeit er Kriegsjahre, die sich wiederum auf die Gefangenschaft der Tiere im Tiergarten reflektieren lässt.

Zwischen den Zeilen darf Siggi auch noch einige Lebensweisheiten von sich geben, die sein sprunghaftes Wesen konterkarieren. Ecken und Kanten. Obsessionen. Ein von einem Amerikaner geschriebener und trotzdem zutiefst österreichischer Roman.

Die Zahlen ergeben eine bestimmte Summe, ganz egal, wie man sie addiert.

Reading Challenge: A book written by someone under 30
(zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Buchs 1968 war John Irving, 1942 geboren, 26 Jahre alt)

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Roman

Joey Goebel – Ich gegen Osborne

Am liebsten hätte ich eingeworfen, dass Woolworth nur auf diejenigen herabsah, die es nicht anders verdient hatten, doch man musste sich an die Etikette halten.

Dieses Buch hatte ich schon seit Ewigkeiten auf der Liste, Joey Goebel hatte mich in der Vergangenheit noch nie enttäuscht (Heartland, Vincent). In der Bücherei hatte ich Glück und das Buch war gerade verfügbar.

Er hatte Recht. Ich war immer wieder erstaunt, wie grausam andere sein konnten.

Wir begleiten James Weinbach an einem Tag durch sein Highschool-Leben. James ist ein Außenseiter. Er ist in seine beste Freundin Chloe verliebt, sein Vater ist vor Kurzem gestorben, er trägt täglich einen Anzug seines Vaters und fällt allein schon deshalb aus der Rolle. Chloe, bis vor Kurzem selbst Außenseiterin, hat jedoch den Spring Break mit den coolen Kids an einer Party Location verbracht und nun werden über sie die wildesten Gerüchte verbreitet. Im Literaturkurs wird James Text kritisiert. Um nicht zu sagen von den anderen Schülern vernichtend auseinander genommen. James rastet aus.

Es ist schwierig, die Geschichte irgendwie zusammenzufassen, weil es eigentlich die Erkenntnisse sind, die zwischen den Zeilen stehen, die die Geschichte so faszinierend machen. Erst im letzten Drittel des Buches wurde mir klar, wie gefinkelt der Autor das alles angelegt und geplant hat. James ist ein totaler Gutmensch. Er hält sich selbst für besser und schaut auf seine Schulkollegen herab. Und ist deshalb ein arroganter Arsch. Und tatsächlich ist er gar nicht so viel anders als seine Schulkollegen, denn als seine Gefühle verletzt werden, schlägt er wild um sich und lässt seinen Rachegelüsten freien Lauf.

Mir missfiel, dass ich Chlors frühere Einstellung gegenüber Sweeney verraten hatte, was eine Kränkung Chlors und nicht gentlemanlike war. Er sorgte dafür, dass ich unter mein Niveau sank. Wie ich ihn hasste. … Das Gesicht eines Knaben, der wahrscheinlich Hass auf seine Eltern empfand, es war der Gesichtsausdruck eines Menschen, dessen Psyche in einer Art dauerhaftem Freitagabend feststeckte.

Der Leser hört James immer wieder darüber nachdenken, wie schlecht seine Kollegen nicht sind, wie niedrig ihre Sprache ist, wie er ihre niveaulose Musik und alle ihre niedrigen Aktivitäten verabscheut. Als Erwachsener kann man stückweise mit ihm mitfühlen, erkennt aber gleichzeitig, dass diese Einstellung zwangsläufig zu einer Katastrophe führen muss. James erkennt schließlich, dass er seine Mitschüler ständig be- und verurteilt, ohne ihre persönlichen Lebensumstände zu kennen.

Am Ende des Tages kommt es zu einem versöhnlichen Gespräch zwischen James und Chloe, in dem sie ihm diese Frage stellt:

Willst du denn nicht, dass die Leute frei sind?

Mit dem Unterton, dass die Menschen frei sein sollten, um auch schlechte Entscheidungen zu treffen. Mit der Botschaft, dass Menschen nur dann denken und selbständig leben können, wenn sie die Freiheit haben, selbst zu entscheiden, und mögen es noch so schlechte Entscheidungen sein, die sie den Großteil der Zeit treffen. Gute Entscheidungen können genauso nur aus Freiheit entstehen.

Reading Challenge: A book set in high-school

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Krimi Roman

Donna Leon – Beweise, dass es böse ist

Vor ewigen Zeiten hatte ich mir mal diese Zeilen aus einem Interview mit Donna Leon notiert, das ich in einer Zeitung gelesen hatte. Es passt an dieser Stelle recht gut, weil gerade bei diesem Buch es genau so wirkt: als hätte sie sich vorher nicht überlegt, wer die böse Nachbarschaftshexe ermordet haben könnte.

Sie sagen, dass Sie beim Schreiben nie wissen, wie ein Fall ausgehen wird …
Ich denke nicht darüber nach, das kommt von selbst.

Was gibt Ihnen diese Sicherheit?
Ich verlasse mich darauf, dass ich als Studentin Hunderte solcher Werke gelesen habe. Es ist wie mit einer Haydn-Sinfonie: Wenn Sie 103 gehört haben und die 104. erklingt, wird Sie nichts überraschen, Sie wissen blind, wohin Sie welcher Ton führt.

Roter Faden sind die sieben Todsünden, die in den Gesprächen zwischen Brunetti und seiner Frau immer wieder gestreift werden. Leider muss ich sagen, dass dies für mich wirklich der langweiligste Brunetti-Roman ever ist. Zwei (geerbte) Bände stehen immer noch auf dem Regal der ungelesenen Bücher. Vielleicht packe ich sie gleich in einen Karton …

Reading Challenge 2015: A book you own but have never read

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Roman Science Fiction

Daniel Suarez – Influx

A sudden influx of innovation could disrupt social order, and disruption of social order is not to be taken lightly, Jon.

Disclaimer: Wer das Buch lesen will oder darüber nachdenkt, sollte sich diesen Artikel sparen und gleich zum Buch greifen ;-)

Wie schon bei seinen früheren Romanen, lässt Daniel Suarez seinen Lesern keine Zeit für einen ruhigen Einstieg. Jon Grady und seine Kollegen haben in ihrer Forschung zur Schwerkraft einen Durchbruch erzielt, als ihr Labor Ziel eines Terroranschlags wird. Als Grady jedoch erwacht, findet er sich im Hauptquartier einer staatlichen Organisation wieder. Deren Chef behauptet, seine Aufgabe sei die Kontrolle von Innovationen, um die Gesellschaft zu schützen. Jon Grady weigert sich, daran mitzuarbeiten und wird in einem hochtechnologischen Gefängnis eingekerkert.

Die weiteren Kapitel, in denen beschrieben wird, wie Jon Grady von einer grausamen artifiziellen Intelligenz gefoltert wird, sind definitiv das Verstörendste, was ich bisher gelesen habe. Jon will nicht aufgeben, er versucht alles, um mental stabil zu bleiben und seine Forschungsergebnisse nicht preiszugeben. Und verliert dadurch seine wichtigsten Erinnerungen.

Hackers gonna hack. Die Pointe des gruseligen ersten Teils dieses Buches ist, dass die Technik dem menschlichen Geist immer noch unterlegen ist. Jon ist nicht der einzige Gefangene, manche von ihnen sind bereits Jahrzehnte eingesperrt und haben die Technik überlistet. Sie konnten ihr Leben erträglich gestalten, haben jedoch keine Möglichkeit, zu entkommen. Bis Jon Grady für die Verantwortlichen so wichtig wird, dass sie in aus dem Gefängnis zurückholen.

Nun beginnt der actiongeladene Wettlauf, den wir aus den früheren Suarez-Romanen kennen. Schritt für Schritt kämpft sich Jon vor, um seine Kollegen aus dem Gefängnis zu befreien und die Macht der Organisation zu brechen.

He studied her for a moment. ‘Your intelligence, your appearance, your life span, your physical prowess – the organization gave you all those things. Your genetic sequence is proprietary. You need our permission to make copies of it. Otherwise you’re stealing.’

Vorgestern habe ich begonnen, in Judith Schalanskys Taschenatlas der abgelegenen Inseln zu stöbern. Daher musste ich herausfinden, ob an den im Buch erwähnten Koordinaten der Gefängnisinsel tatsächlich eine Insel ist. Die Koordinaten liegen jedoch mitten im Atlantischen Ozean. Falls dort eine Insel sein sollte, ist sie also noch nicht entdeckt ;-) Die nächst gelegene Insel ist St. Helena.

Reading Challenge: A book with non-human characters
(Die artifizielle Intelligenz Varuna, die eine Art Gefühle entwickelt, ist ein genialer literarischer Schachzug.)

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Roman

Gavin Extence – Das unerhörte Leben des Alex Woods

Ich glaube, eine Geschichte zu erzählen, ist der Versuch, die Komplexität des Lebens begreiflicher zu machen. Es ist das Bemühen, Ordnung von Chaos zu trennen, Muster von Willkür. Andere Mittel dafür sind Tarot und Wissenschaft.

Dieses Buch wurde in der Zeitschrift Wiener erwähnt, rückblickend finde ich das eine sehr interessante Wahl. Es erscheint mir streckenweise beinahe wie ein Jugendroman, obwohl das Thema Krankheit und Sterbehilfe für manche Jugendliche möglicherweise etwas zu schwierig sein könnte.

Der titelgebende Alex Woods ist ein starker Charakter und das von Beginn an. Als Zehnjähriger trifft ein Meteorit sein Haus, Alex wird davon getroffen und wird zu einer kleinen Medienberühmtheit. Als Langzeitwirkung trägt er eine Epilepsie davon, die er in den kommenden Jahren zu beherrschen lernen muss.

Auf der Flucht vor den starken Sportlercharakteren seiner Schule, die ihn sekkieren, landet er im Garten von Mr. Petersen. Nach einigen Startschwierigkeiten finden der alte allein lebende Herr und der naive, introvertierte Schüler in Kurt Vonnegut einen gemeinsamen Freund. Alex ist von seinen Büchern so begeistert, dass er einen Vonnegut-Lesekreis gründet. Obwohl die Bücher nur am Rande gestreift werden, habe ich jetzt den Eindruck, ich hätte möglicherweise eine existenzielle Ebene der Vonnegut-Bücher übersehen.

„Also glauben Sie nicht, dass Gott das Gehirn erschaffen hat?“, wollte ich wissen.
„Nein, das glaube ich nicht“, antwortete Dr. Enderby. „Ich glaube, das Gehirn hat Gott erschaffen. Denn das menschliche Gehirn, wie wunderbar es auch sein mag, ist immer noch fehlbar – wie wir beide sehr gut wissen. Es ist ständig auf der Suche nach Antworten, aber selbst wenn es so funktioniert, wie es sollte, sind die Erklärungen, die es liefert, nur selten vollkommen – besonders wenn es sich um die großen, komplizierten Fragen des Lebens handelt. Das ist der Grund, warum wir es pflegen müssen. Wir müssen ihm Raum geben, damit es sich entwickeln kann.“

Alex versucht immer, die bestmöglichen Entscheidungen zu finden und das Richtige zu tun. Das Leben stellt ihn auf eine harte Probe, als bei Mr. Petersen eine tödliche Krankheit diagnostiziert wird, deren Verlauf nur verlangsamt, aber weder aufgehalten noch rückgängig gemacht werden kann. Bevor es ihm gelingt, die richtige Entscheidung zu treffen, treffen sowohl Alex als auch Mr. Petersen einige falsche Entscheidungen.

Ein großartig geschriebener Roman mit fein ausgearbeiteten Charakteren, der ein schwieriges Thema behandelt, ohne dabei religiöse Gedanken auch nur vorkommen zu lassen. Moral hat mit Religion nichts zu tun. Man braucht keine Religion, die einem sagt, was das Richtige ist. Ein Loblied auf die Freiheit, selbst über sein Leben zu bestimmen.

Reading Challenge: A popular author’s first book
(Es ist der Debütroman von Gavin Extence, der inzwischen in England sehr populär ist. Das muss gelten ;-)

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Roman

Nicole Krauss – Die Geschichte der Liebe

Nachdem sie weg war, brach die Welt zusammen. Kein Jude war mehr sicher. Es gab Gerüchte über unfassbare Dinge, und weil wir sie nicht fassen konnten, glaubten wir sie nicht, bis wir keine Wahl mehr hatten und es zu spät war.

Obwohl einer der Alternativtitel für das Buch im Buch „Wörter für alles“ lautet, fehlen mir beinahe die Worte, um zu beschreiben, wie sehr mir dieser Roman gefallen hat. Ich werde drei bis fünf Exemplare kaufen müssen, um sie an alle zu verschenken, denen das auch gefallen könnte.

Das Buch beginnt und endet mit Leo Gursky, polnischer Jude, als Junge überlebte er die ersten Überfälle der Nazis auf sein Heimatdorf Slonim, später konnte er nach Amerika flüchten. Seine Gedanken sind immer bei Alma, in die er verliebt ist, die bereits vor ihm nach Amerika auswandern konnte. Als er sie schließlich findet, ist sie mit einem anderen verheiratet.

Auf einer weiteren Zeitebene lernen wir Alma Singer kennen. Ihr Vater ist vor Jahren gestorben, ihr Bruder erinnert sich kaum noch an ihn und sucht Zuflucht in intensiv gelebtem jüdischem Glauben, er hält sich für einen möglichen nächsten Messias. Almas Mutter ist in ihrer Arbeit versunken und existiert nur als Schatten ihrer selbst, bis sie von einem Unbekannten den Auftrag erhält, „Die Geschichte der Liebe“ zu übersetzen. Das Buch, das sie von Almas Vater geschenkt bekommen hat.

Jeder zusätzliche Hinweis auf den kunstvoll verschlungenen Inhalt würde zu viel verraten. Ganz grob erinnert die Storyline (jüdischer Hintergrund, Verlust der Familie, Suche nach den verloren geglaubten Verwandten) an ein Buch, das ich letztes Jahr gelesen habe: Solange am Himmel Sterne stehen. Im Vergleich dazu fehlen hier der Zuckerguss und die Sterne, dafür sind die Charaktere fein gezeichnet und jeder lose Faden führt am Ende zu einem perfekten Ganzen. Definitiv die bessere Geschichte. Eben die Geschichte der Liebe. Leseempfehlung.

Reading Challenge: A book that was originally written in a different language
(Die Originalausgabe erschien 2005 unter dem Titel „The History of Love“ bei W.W. Norton & Company, New York)

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Krimi Roman

Volker Kutscher – Die Akte Vaterland

Sie ahnte, nein, wusste mit einer plötzlichen Bestimmtheit, dass Worte zu wenig waren angesichts der unglaublichen Unverschämtheit, die sich die Reichsregierung in diesem Augenblick herausnahm. … Die preußische Demokratie hatte soeben ihr Ende gefunden.

Die Bücherei hat es mir angetan. Den Bookworm habe ich zwar noch immer nicht gefunden, aber trotzdem (oder gerade deshalb) gefällt mir die Hauptbücherei am Urban-Loritz-Platz so gut, dass ich mir die Bücher gerade lieber von dort hole, als sie weiterhin in der Onleihe auszuborgen. Einen Teil meiner Bücherliste habe ich kürzlich daraufhin gecheckt, welche der Bücher es überhaupt in der Hauptbücherei gibt. Jetzt brauche ich kurzfristig nur mehr die Verfügbarkeit zu checken. Außerdem darf man die Papierbücher für 4 Wochen ausleihen während man für die digitalen Exemplare bekanntlich zur zwei Wochen Zeit hat. Ein weiterer Vorteil.

Unter anderem habe ich mir den 4. Teil der Gereon-Rath-Reihe ausgeliehen. Mir gefällt nach wie vor der geschichtliche Aspekt sehr gut. Die Geschichte ist im Berlin der 20er-Jahre angesiedelt, die Machtergreifung durch die Nazis steht kurz bevor, in diesem Roman sorgt die Aufhebung des Verbots der SA für Wirbel, ein Putschversuch enthebt die aktuelle Polizeiführung ihres Amtes.

Von all dem bekommt unser Protagonist Gereon Rath kaum etwas mit, er weilt im masurischen Treuburg, versinkt beinahe im Moor und wird dann von dem des Mordes verdächtigten „Indianer“ gleich mehr als einmal gerettet. Seine Beziehung mit Charly, die nach ihrer Rückkehr aus Paris als Kommissaranwärterin einen holprigen Start ihrer Karriere hinnehmen muss, geht ebenfalls in die nächste Phase.

Sowohl das politische Thema als auch Charlys Probleme, als Frau in der Polizeimannschaft ernst genommen zu werden, thematisiert der Autor nicht mit dem Holzhammer, sondern er lässt die betroffenen Figuren zweifeln und hadern und teilweise auch dazulernen. Zum Glück ist der fünfte Fall auch bereits erschienen und in der Hauptbücherei zu haben ;-)

„Haben Sie vielen Dank, dass wir uns treffen konnten“, sagte Rath, obwohl es ihm widerstrebte, sich bei einem Unterweltkönig wie Marlow zu bedanken. Aber er war auf dessen Hilfe angewiesen und so biss er in den sauren Apfel. Immer mal wieder. Jedes Mal schmeckte der Apfel saurer. Und jedes Mal hatte er sich ein bisschen mehr an den sauren Geschmack gewöhnt.

Reading Challenge: A mystery or thriller
(leider passt nichts anderes …)