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Klassiker Roman

Benito Perez Galdos – Dona Perfecta

Himmel

Man sah nichts. Aber wer in Gedanken versunken ist, sieht alles, und Rey, dessen Augen sich in die Finsternis bohrten, sah zu, wie sich auf ihr die verworrene Landschaft seiner Missgeschicke abzuzeichnen begann. Die Dunkelheit gestattete es ihm nicht, die Blumen der Erde zu sehen und auch nicht die Sterne, die Blumen des Himmels.

Totale Vernichtung. Eine Familientragödie epischen Ausmaßes. Auf heutige Beziehungsprobleme umgelegt, macht dieses Drama schlicht einen seltsamen Eindruck. Wer kann sich heute vorstellen, sich in einen Menschen zu verlieben nur aufgrund der Optik und ein paar gesagten Nettigkeiten? Und dann diese Liebe so zu überhöhen, dass sich beide Partner ins Unglück stürzen. Es erinnert nahezu an Romeo und Julia. Nebenbei steht der Vater der unglücklichen Tochter, der hilf- und ahnungslos mitansieht, wie seine Frau die Liebe der Tochter sabotiert und diese Tochter schließlich wegen des Todes ihres Angebeteten im Irrenhaus landet. Auch für die Nebenfiguren geht die Geschichte nicht gut aus.

Gesellschaftliche Dramen sind in ihrer Intensität und Ausprägung von den zeitlichen Rahmenbedingungen abhängig und doch erkennt man die Motive wieder. Unerfüllte Liebe, die Familie ist nicht einverstanden mit dieser Liebe, Aufstand/Revolution verhindern außerdem das Liebesglück. Im Großen und Ganzen finden sich dann wahrscheinlich doch spannendere Romane zum selben Thema. Verzichtbare totale Vernichtung.

Damit sind wir am Ende. Das ist alles, was wir für den Augenblick von den Menschen sagen können, die gut erscheinen und es nicht sind.

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Roman

Philippe Dijan – Erogene Zone

Berlin

Dieses Mädchen, wenn es einen anlächelt, dann hat man das Gefühl, ihre Augen verfärben sich, und ich bin in diese Vorgänge regelrecht verliebt, auch wenn mich das zu einer leichten Beute macht, sagen wir so, ich trage mein Kreuz.

Es könnte sich autobiographisch anfühlen, oder wie eine Hommage an Bukowski. Ein arbeitsloser Schriftsteller schlägt sich durchs Leben, das sich als eine Abwechslung von Schreibphasen mit Nichts-Tun-Phasen entfaltet. Bier und Zigaretten sind in jeder Phase mit dabei. Frauen bestimmen immer wieder seine Gedanken, letztlich steht er vor der Entscheidung zwischen seinem Roman und einer Frau. Der Ich-Erzähler zeigt sich als zielloser Herumtreiber, der nicht weiß, was er vom Leben will. Auch die Partynächte scheinen ihm keinen großen Spaß zu bereiten, die schönen Erlebnisse existieren nur in seiner Vorstellung.

Ich schwitzte und schnatterte zugleich, jetzt einfach ins Wasser gehen und danach in aller Ruhe nach Hause schlendern, ein Handtuch über den Schultern, ich hätte wer weiß was dafür gegeben, nur einmal das Gleiche tun können wie alle anderen auch, unter die Dusche springen und widerlich nach Sonnenöl riechen.

Es hat ein bißchen den traurigen Beigeschmack der Weiterentwicklung des Lebens. Selbst wenn das Leben nur aus Parties besteht, macht einen das nicht langfristig glücklich. Ein bißchen wie der Geschmack im Mund nach einer durchfeierten Nacht. Man kann sich damit identifizieren, aber es ist nicht unbedingt ein angenehmes Gefühl.

Und zu guter Letzt wieder Mal Kerouac. Es ist wie bei einer dieser Apps, die Musikverwandschaften darstellen (mein aktueller Favorit Discovr am iPad). Man kann durch drei Klicks von den Rolling Stones zu den Foo Fighters kommen. Kerouac ist der Kevin Bacon unter den Autoren.

Das Mädchen warf ihm einen wütenden Blick zu, bevor sie sich über ihre Spaghetti hermachte, und bis zum Ende der Mahlzeit ignorierte sie ihn völlig. Sie redete in einem fort, und ich rauchte und hörte mit halbem Ohr zu, ich bekam mit, dass sie in Ferien waren und dass sie drei volle Tage für 250 Kilometer gebraucht hatten, das sind vielleicht alles Arschlöcher hier in der Gegend, sagte sie, sowas hab ich noch nie erlebt, die letzten 200 Kilometer haben wir hinten auf der Ladefläche von ‘nem LKW verbracht, auf Kartoffelsäcken, so eine Scheiße, ich frag mich, wie Kerouac das gemacht hat.

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Biografie Sachbuch

Martin Gregor-Dellin – Richard Wagner

Kugelflower

Wagner ging auf den Fluchtplan ein, und Abraham Müller, dieser wunderliche Königsberger Mephisto, den ein Faustus-Autor in Wagners Lebensgeschichte hineingeschmuggelt zu haben scheint und der daraus alsbald für immer verschwinden wird, reichte ihm noch einmal hilfreich die Hand.

Lebensgeschichten sollten eigentlich eine spannende Materie sein und ich finde es immer wieder interessant, in das Leben eines „echten Menschen“ einzutauchen anstatt in die Gefühlswelten von Romanfiguren. Leider gerät Martin Gregor-Dellins Beschreibung der Lebenswelt Richard Wagners über alle Maßen trocken. Poetische Anwandlungen wie das folgende Zitat mischen sich nur äußerst spärlich in die detaillierte Beschreibung der Lebenswelt des Komponisten.

Die Seligkeit solcher Produktivität spannte ihn wie einen Bogen. Das Bewusstsein zu leben griff so tief in ihn, dass er sich vorkommen musste wie mit leerem Magen vor einer brechend vollen Tafel.

Man fragt sich unvermittelt, wie intensiv der Autor in das Leben des Autors eintauchte. Immer wieder ergibt sich der Eindruck, die Freunde des Komponisten wären ihm schon persönliche Freunde geworden. Zeitgenossen wie Friedrich Nietzsche und Thomas Mann webt er in die Geschichte ein, als würden sie täglich bei ihm zum Kaffee vorbeikommen.

Doch nicht das war das eigentlich Neue am Lohengrin. Wenn Thomas Mann schwärmend von der blau-silbernen Schönheit der Lohengrin-Musik sprach, so bezeichnete er damit unbewusst den Schritt vom Tannhäuser zum Lohengrin: die Entdeckung der Farbe. Wagner erschloss sich die koloristische Dimension der Musik und der Instrumentierung.

Für Gregor-Dellin scheinen nicht nur Wangers musikalische Ergüsse den Maßstab darzustellen. Auch seine Aufzeichnungen zur Gestaltung des Theaters an sich kommen ausführlich zur Sprache. Wagner war offenbar nicht nur ein genialer Komponist sondern gleichfalls ein Bühnen-Perfektionist in einer Art und Weise, die Stanley Kubrick Jahrzehnte später auf seine Filme anwandte. (Kürzlich hörte ich die Anekdote, dass er einen geplanten Film vor seinem Tod nicht mehr drehen konnte, weil er unbedingt mit dem Setting angemessenem Kerzenlicht drehen wollte und es damals keine Kameratechnik gab, die seinen Ansprüchen genügte. Er gab dafür die Entwicklung einer Speziallinse in Auftrag und wollte mit dem Film warten, bis seine Vorstellungen technisch umgesetzt werden konnten.) Auch Wagners Bühnenkonstruktionen dürften die Maßstäbe der damaligen Zeit sowohl in finanzieller Hinsicht als auch in ihrer Dimension gesprengt haben.

Erstaunlich ist nur, wie unbemerkt ihm blieb, dass er die Utopie verfehlte: er schuf gar nicht das Drama der Zukunft, das eine griechische Klassik evoziert, sondern episches Theater. Seine Helden sind nicht eigentlich Dramenfiguren, das unterscheidet ihn sehr von Shakespeare und Verdi.

Und dann finden sich bisweilen auch noch Perlen, die direkt einem Standard-Artikel, der sich mit der experimentellen Inszenierung einer Wagner-Oper beschäftigt, entstammen könnten.

Der große Vergessenmacher seiner selbst erneuerte sich aus dem, was andre längst vergessen hatten, und stellte sich aus den Antagonismen seines Lebens stets wieder her zu lebenden Bildern aus Ästhetik, Philosophie und Politik: zur gefälligen Bedienung. Die dogmatischen Wagnerianer waren desavouiert, bevor sie noch recht Tritt gefasst hatten.

Und ich möchte nicht verhehlen, dass ich angesichts dieses langatmigen Werkes wieder mal Verständnis empfinde für die Internetgeneration, die selten etwas Längeres als durchschnittliche Wikipedia-Artikel liest. Biografien eignen sich wohl kaum als Material für Leseeinsteiger.

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Roman

Kurt Vonnegut – Cat’s Cradle

Regen im Wiener Prater, Regenschirme, Riesenrad, Atmosphäre

„That’s why she married him. She said his mind was tuned to the biggest music there was, the music of the stars.“ He shook his head. „Crap.“

I guess „Cat’s Cradle“ can be called an American classic. It starts as an attempt to write a strange biography about the so called father of the atomic bomb (fictional Felix Hoenikker). The narrator is on a journey to find the family and visit people who worked with him. His journey leads him to the country San Lorenzo where he not only finds a strange kind of love but also the Hoenikker family in all their strangeness.

In San Lorenzo the narrator is getting to know a religion named „Bokononism“. It’s illegal but eventually he finds out that everyone on the island follows the mysterious man named Bokonon who is chased by San Lorenzos president Papa Monzano.

While writing this I have to say that it’s worthless to describe the storyline. If you can live with strange stories that don’t care about limits imposed by sheer physics. The story introduces a lot of interesting theories about religion and politics and Bokonon’s quotes have the qualities of the wisdom of a true spiritual leader.

Peculiar travel suggestions are dancing lessons from God.

It was the first book that I read on the iPad Kindle App and the experience was satisfying. I love the „popular highlights“ functions of the Kindle App and the possibility to add my own notes and copy these. Although I had to type the quotes because it’s not possible to copy text from the book. But at least I can add my own notes right on the iPad and copy them to MarsEdit for the blog post afterwards. And of course the built-in dictionary is wonderful for reading books in a foreign language. I think I’ll try a spanish book soon.

„Everything must have a purpose?“ asked God.
„Certainly“, said man.
„Then I leave it to you to think of one for all this,“ said God. And He went away.

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Kurzgeschichten

Etgar Keret – Pizzeria Kamikaze / Der Busfahrer, der Gott sein wollte

FlowerPower(c)jusone/SXC

„Sag mal“, forschte Uzi nach, „stimmt das, was gesagt wird, dass sie dir bei euch, bevor du so eine Aktion startest, siebzig geile nymphomanische Jungfrauen in der nächsten Welt versprechen? Nur für dich, Solotanz?“ – „Tun sie“, erwiderte Nasser, „und schau dir an, was daraus wird. Ich bin auf Alkohol herabgesackt.“ – Dann warst du am Ende also der Depp, Nasser“, sagte Uzi schadenfroh. „Bei Gott“, Nasser nickte, „und du, was haben sie dir versprochen?“

Es wird an der Zeit, wieder mal ein uneingeschränktes Loblied zu singen und niemand hätte es mehr verdient, als der geniale Etgar Keret. Allein schon die Idee, eine Geschichte in einer Welt spielen zu lassen, die nur von Selbstmördern bevölkert wird. Menschen, die aus einer ihnen unwirtlich gesinnten Welt fliehen, landen in einer Welt, die auch um nichts besser ist und noch dazu zusammen mit lauter Menschen, die ebenfalls keinen Sinn im Leben sehen. Wer würde sich da nochmal umbringen? Freundschaften entwickeln sich, die Bewohner dieses seltsamen Ortes werden schubladisiert nach der Art, in der sie sich töteten und demnach Körperschäden erlitten. Am besten haben es da die unversehrten Tablettenopfer. Als ob diese schräge Welt nicht schon genug wäre, bevölkert Keret diese auch noch mit Persönlichkeiten, die allesamt mehr oder weniger plausible Gründe zum Selbstmord hatten, und schickt diese in Situationen, die sie mit dem trockensten Humor bewältigen, den die Welt außerhalb Großbritanniens jemals erlebt hat.

Viele der weiteren Kurzgeschichten sind so kurz wie prägnant und amüsieren oder verstören, jedoch kaum etwas dazwischen. Je nachdem, welches Gefühl sich der Autor gerade ausgesucht hat, genau mit diesem lässt er den Leser zurück. Brutal oder poetisch beschreibt er menschliche Abgründe und scheiternde Existenzen. Ohne jedoch zu vergessen, dem Leser hin und wieder einen Lichtblick zu erlauben: Nicht alles auf der Welt ist schlecht. Betrachtet man das Leben und die Gesellschaft mit dem notwendigen Schuss schwarzen Humors, lässt sich aus jeder noch so sauren Zitrone ein sensationelles Gefühl ziehen. Pflichtlektüre. Punkt.

Weitere Informationen: Etgar Keret – personal websitePerlentaucherLyrikwelt

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Krimi Roman

Colin Cotterill – Dr. Siri sieht Gespenster

Puppe(c)oliviaebe/SXC

Er überquerte die staubige Kreuzung in der Dorfmitte und schlenderte zum Fluss hinunter. Dort angekommen, folgte er dem Wasserlauf, der sich cremigbraun dahinwälzte wie zähflüssiger Milchkaffee. Er achtete sorgfältig auf seine Schritte, um nicht versehentlich auf eine Hundefurzblume zu treten. Die sinkende Sonne wanderte am anderen Ufer vor sich hin und verschwand immer wieder hinter Bäumen. Die tristen Hügel vor den Toren Luang Prabangs waren mit frisch gedroschenen Feldern übersät, die von fern wie schmerzhafte Hautverpflanzungen aussahen.

Der unverwüstliche Pathologe Dr. Siri wird von einem neuen Abenteuer überwältigt. In diesem lernt er nicht nur den ehemaligen König kennen und wird als Schamane Yeh Ming wiederum von Geistern verfolgt. Auch seine Assistentin Dtui, die heimlich für ein Medizinstipendium büffelt, muss sich mit allerlei Geistern und Wertigern herumschlagen. Über den gemütlichen und spannenden Stil Colin Cotterills muss ich nach der ersten Rezension nicht mehr viel sagen. Die bekannten und sympathischen Figuren begegnen uns wieder und ein paar geisterbewohnte Puppen zeigen mehr Persönlichkeit als so mancher Mensch im kommunistischen Regime in Laos.

Diese Geste kannte er von dem kahlköpfigen König in dem Hollywoodfilm, der Siam beleidigt und die Pathet Lao deshalb über die Maßen begeistert hatte.

Und nicht nur mir ist die Hundefurzblume (die nicht existiert, was eine kurze Google-Suche offensichtlich macht) ins Auge gestochen. Auch die Deister- und Weserzeitung lobt die sprachliche Gewandtheit des Autors.

Weitere Informationen: Deister- und WeserzeitungKrimi-Couch.deLiteraturblog Duftender Doppelpunkt

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Roman

Paolo Giordano – Die Einsamkeit der Primzahlen

Viola(c)gklinek/SXC

Es waren die anderen, die zuerst bemerkten, was Alice und Mattia selbst erst viele Jahre später begreifen sollten. Sie lächelten nicht und blickten in verschiedene Richtungen, als sie das Zimmer betraten, doch sie hielten einander fest an den Händen, und so war es, als flössen ihre Körper durch die sich berührenden Arme und Finger unablässig ineinander über.

Alice und Mattia sind Außenseiter – beide leiden unter einem Kindheitstrauma und haben Schwierigkeiten, sich in die Gesellschaft einzugliedern. Das führt sie schließlich zusammen. Beide haben keine anderen Bezugspersonen und sind so gewissermaßen aufeinander angewiesen. Mattia hat als Kind seine Zwillingsschwester Michela im Park zurückgelassen und leidet deshalb an unüberwindbaren Schuldgefühlen. Alice erlitt bei einem Skiunfall eine Beinverletzung und hinkt seither. Ihre Komplexe bekämpft sie durch Magersucht. Mattia öffnet sich schließlich und erzählt Alice von seiner verlorenen Schwester. Kurz darauf nimmt er eine Stelle im Ausland an und lässt Alice zurück.

So saß er da und verlor langsam den Kontakt zu dem Geschriebenen; die Symbole, die kurz zuvor noch durch die Bewegung seines Handgelenks aufs Papier geflossen waren, kamen ihm nun fremd vor, erstarrt in einem Raum, zu dem ihm der Zugang verwehrt war. Im Dunkel des Zimmers füllte sich sein Kopf wieder mit düsteren, bedrängenden Gedanken, und meistens griff er dann zu einem Buch, schlug es an einer beliebigen Stelle auf und begann zu lernen.

Alice arbeitet in einem Fotogeschäft und heiratet den jungen Arzt Fabio. Als dieser jedoch Kinder haben möchte, zerbricht die Beziehung. Der Kontakt zwischen Alice und Mattia ist langsam abgerissen. Als Alice jedoch glaubt, Mattias Schwester gesehen zu haben, ruft sie ihn zurück und Mattia kommt prompt.

So sah man es in Filmen, und so geschah es in der Wirklichkeit, tagtäglich. Die Menschen nahmen sich, was sie haben wollten, klammerten sich an die meist wenigen Gemeinsamkeiten und bauten darauf ihr Leben auf. Hier bin ich, musste er zu Alice sagen oder wieder gehen, abreisen mit dem ersten Flug, verschwinden, zurück an jenen Ort, wo er in all den Jahren keinen festen Grund unter die Füße bekommen hatte.

Die düstere Stimmung dieses Romans reicht bis zur letzten Seite, ein Happy-End ist den beiden einsamen Protagonisten nicht vergönnt. Bis ins kleinste Detail beschreibt er die Abgründe, die sich in den Seelen seiner Personen auftun. Auch wenn beide schließlich einen Weg finden, ein scheinbar normales Leben zu führen, bleiben ihre Beziehungen zu anderen Menschen stets oberflächlich und unbefriedigend. Ein trauriges Stück, das unsere Gesellschaft widerspiegelt, in der unangepasste Menschen kaum eine Chance haben.

Weitere Informationen: Paolo Giordano @ Wikipediaaus.gelesenRezension und ausführliche Inhaltsangabe von Dieter Wunderlich

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Klassiker Roman

Leonhard Frank – Die Räuberbande

Wald(c)ezagury/SXC

Über der Stadt hing Rauch und Dunst. Es war schon fast dunkel. Eine Kirchenglocke läutete. Oldshatterhand war bedrückt; er spannte alle Muskeln an und hielt den Atem zurück, bis die Luft „pfa!“ aus seinem Munde fuhr. Es wurde ihm aber nicht leichter davon.

Eine Gruppe von Jugendlichen träumt im verschlafenen Würzburg von der großen, weiten Welt. In einer Höhle horten die Räuber ihre Beute und verüben allerhand Jungenstreiche. Der Roman erzählt vom Erwachsenwerden der Buben und wie sich die Freundschaften verändern und letztendlich zerbrechen, da sich jeder in eine unterschiedliche Richtung orientiert. Da entwickelt sich der Bleiche Kapitän zum disziplinierten Bodybuilder und Mädchen werden zunehmend wichtiger als die ehemaligen Freunde.

Oldshatterhand versucht als Einziger, den Plan vom Hinausziehen in die große Welt Wirklichkeit werden zu lassen und in München die Malerei zu erlernen. Bis ans Meer nach Italien führt ihn schließlich sein Weg, doch gerade der Träumer scheitert am Leben und an der Welt.

Etwas Positives kann man über diese Geschichte kaum sagen, einerseits lässt man sich von der anfänglichen Beschreibung der jugendlichen Lebenswelten einlullen und muss sich dann mit der Enttäuschung von Oldshatterhand auseinandersetzen, als dessen Freunde zu neuen Ufern aufbrechen, während er noch rätselt, was er mit seinem Leben anfangen soll. Genau genommen sind die Probleme der Jugendlichen heute genau dieselben: Ziellosigkeit, fehlende Perspektiven. Und das macht das Ganze eigentlich noch trauriger.

Weitere Informationen: Ausführliche Inhaltsangabe und Rezension von Dieter WunderlichRezension von André HerrmannLeonhard Frank @ Wikipedia

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Sachbuch

Barbara Hodgson – Die Krinoline bleibt in Kairo

Pyramide(c)leonardobc/SXC

Reisen ist … eines der traurigsten Vergnügen des Lebens. Wenn man sich in einer fremden Stadt wohl fühlt, so ist es immer, weil man schon anfängt, dort einheimisch zu werden. Aber unbekannte Länder durchstreifen, eine Sprache reden hören, die man nur notdürftig versteht, menschliche Gestalten sehen, die sich weder an unsre Vergangenheit noch an unsre Zukunft knüpfen: das ist Einsamkeit und Absonderung ohne Ruhe und ohne Würde. (Mme. de Stael)

Passenderweise hat mich dieses Buch auf meiner österlichen Wochenendreise begleitet. Von Stockerau aus über Wien, Linz, Golling-Abtenau nach München und anschließend wieder retour haben ausgereicht, um sich mit reisenden Frauen von 1650 bis 1900 zu beschäftigen. Nach heutigen Massstäben erscheint es äußerst faszinierend, dass Menschen sich ohne Notwendigkeit all diesen Strapazen aussetzten. Heute sind so viele Menschen ständig mit dem Auto unterwegs und finden die öffentlichen Verkehrsmittel unzureichend und unbequem. Da möchte man doch manchmal an die äußerst unbequeme Postkutsche erinnern, mit der man Wien nach Linz seinerzeit länger brauchte als heute von Wien nach New York.

Frauen unterschiedlicher Nationalitäten begaben sich bereits damals auf die Reise, um unbekannte Gegenden auf unserer Welt zu erforschen und schreckten im Ernstfall auch nicht davor zurück, sich ohne Begleitung durch den Amahonas-Dschungel zu quälen. Krankheiten forderten gerade auf Schiffsreisen oder in tropischen Gebieten unzählige Todesopfer unter den Reisenden. Gerade in fortgeschrittenem Alter mussten die Reisenden daher immer wieder damit rechnen, die Heimat nicht wiederzusehen. Und doch erlangten gerade die Reiseberichte von Frauen eine derartige Popularität, dass sich immer neue Pionierinnen fanden, die die Welt erkundeten.

Bei der Krinoline handelt es sich übrigens um den in dieser Zeit üblichen Reifrock, den man zur Besteigung der Pyramiden besser nicht tragen sollte.

NOTE: Erstes Buch im Kindle-App am iPhone (Kurt Vonnegut: Cat’s Cradle). Erste Eindrücke brauchbar, wenn auch nicht sonnengeeignet.

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Kurzgeschichten Roman

Friedrich Torberg – Die Tante Jolesch

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Man könnte freilich auch sagen, dass das Kaffeehaus etwas von der Tante Jolesch abbekommen hat, dass sie das missing link zwischen talmudischer Ghettotradition und emanzipierter Kaffeehauskultur war, sozusagen die Stammmutter all derer, die im Kaffeehaus den Katalysator und Brennpunkt ihres Daseins gefunden hatten, ob sie’s wussten oder nicht, ob sie’s wollten oder nicht.

Obwohl die titelgebende Tante Jolesch nur im ersten Kapitel in persona auftritt, schwebt sie doch als Typus einer ausgestorbenen Generation über all den Anekdoten, die Friedrich Torberg hier versammelt hat. Allerlei Skurrilitäten, die in ihrer geballten Surrealität wesentlich kompakter wirken, als sie sich vermutlich ereignet haben dürften.

Einer der sechs Brüder hatte sich – noch zu des Vaters Lebzeiten – von einem Aufenthalt in Paris allerlei Modetorheiten mitgebracht, … und eine Vorliebe für Artischocken, was nun vollends als mondäne Verstiegenheit gewertet wurde. … Daran gewöhnte sich allmählich auch das skeptische Familienoberhaupt, ohne indessen seine abweisende Haltung zu ändern. Wie tief sie in ihm verwurzelt war, erwies sich, als man sich eines Sonntags um den Tisch versammelte und die Artischocke noch nicht auf dem üblichen Platz stand. „Mutter!” rief da der Vater Taussig in die Küche. „Wo ist das Gestrüpp für den Buben?“

Zentrales Thema und Schauplatz ist das Kaffeehaus, das in dieser Form hauptsächlich in Wien existiert und international zwar kopiert werden mag, aber das Wiener Flair niemals erreichen wird. Gleichzeitig behaupte ich, dass das Kaffeehaus in seiner damaligen Form nicht mehr existiert. Heute wohnen nicht mal die Bohemians, die per Laptop im WLAN arbeiten, wirklich im Kaffeehaus. Damals hatten die Literaten wohl tatsächlich nichts anderes zu tun als den Austausch von Neuigkeiten im Kaffeehaus. Zumindest vermittelt uns Torberg, der auch als Journalist tätig war, diesen Eindruck.

In ihrer Wohnung schliefen sie nur. Ihr wirkliches Zuhause war das Kaffeehaus.
Warum ist es das nicht mehr? Auch für jene nicht, die konstitutionell dafür geeignet wären? Liegt es an ihnen, dass sie im Kaffeehaus nicht mehr arbeiten können? Liegt es am Kaffeehaus?

Der titelgebenden Tante Jolesch werden im Volksmund allerhand Aussprüche zugeschoben, als Beispiel sei hier das Thema Männer, Affen und Luxus genannt. Torbergs Anekdotensammlung hat jedoch einiges mehr als die bekannten Sprüche zu bieten und hat mir mehr als einmal ein Lächeln auf in mein Gesicht gezaubert. Hier handelt es sich definitiv um einen Klassiker, der seine Zeit bei weitem überlebt hat und auch heute noch begeistern und unterhalten kann.