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English Krimi Roman

Louise Penny – All The Devils Are Here

CN dieses Buch: Mord, Folter-Erwähnung, Holocaust-Erwähnung
CN dieser Post: Holocaust-Erwähnung


If this was the right thing to do, why did it feel so wrong? But no, it didn’t feel wrong. It felt wretched. Horrific. A nightmare. But somethimes “right” felt like that.

Da ich gerade erst das vorherige Buch der Armand-Gamache-Reihe gelesen hatte, konnte ich hier sehr deutlich sehen, wie sich das im letzten Buch angedeutete Thema in diesem Buch weiter entwickelte: Dort wurde die Frage gestellt, was der Vater Armand Gamache alles bereit wäre zu tun, wenn das sein Leben eines seiner Kinder auf dem Spiel stünde. Wie reagieren Menschen, wenn sie mit der größten Angst ihres Lebens konfrontiert werden?

In diesem Buch wird diese Frage Realität, denn nun ist die Gamache-Familie gleich auf mehrere Arten in den aktuellen Mordfall verwickelt. Das Aufwachsen von Armand Gamache wird thematisiert: mit seiner Großmutter Zora (auf deren Verurteilung der Mörder*innen der Nazizeit er seine Entscheidung für die Arbeit bei der Sûreté zurück führt) und seinem Onkel Stephen, der nun nach einer Attacke auf offener Straße im Krankenhaus um sein Leben kämpft. Diese Einblicke in das Leben des jungen Armand tragen dazu bei, den Charakter weiter zu vertiefen und seine Handlungsmotivationen zu verstehen.

If there was one thing the senior police officer [Gamache] understood, it was that everyone had strengths. And weaknesses. The important thing was to recognize them. And not expect something from someone who didn’t have it to give.

Weiters wird die Beziehung zwischen Armand und seinem Sohn Daniel intensiv beleuchtet. Der Graben, der die beiden schon seit einigen Büchern trennt, wird nun zuerst größer und dann im Rahmen der dramatischen Ereignisse schließlich überbrückt. Diese Emotionen klingen in der Beschreibung so logisch, so klar und deutlich und doch waren sie für mich als Leserin absolut nicht absehbar. Das Rätsel dieser komplexen Vater-Sohn-Beziehung ist beinahe so spannend und verwirrend wie der eigentliche (Mord-)Fall, bei dem letztendlich ein finanzielles Motiv aufgedeckt wird.

Eine ausgezeichnete Fortsetzung der Serie. Einziger Wermutstropfen: die sympathischen Charaktere aus Three Pines kommen nur in wenigen Andeutungen vor. Stattdessen gibt es Paris.

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Roman

Leon de Winter – Hoffmans Hunger

Handymast im Ernstbrunner Wald, NÖ / made with Cam+

Der echte Schlaf erlöste einen auch von der eigenen Identität und vom eigenen Charakter. Nur Rudimente blieben übrig, während man schlief, ein vages Bewusstsein von einer kreatürlichen Existenz, ohne die unmöglichen Paradoxe des menschlichen Geistes. Zwanzig Jahre war er nun schon ununterbrochen bei sich selbst zu Gast, und er hatte angefangen, den Gastgeber zu hassen.

21 Jahre nach der Erstveröffentlichung in den Niederlanden wirkt dieser Roman aktueller denn je. In die Spionagewirren zur Zeit des Mauerfalls fällt die Geschichte eines Mannes, dessen Leben zu einem verstümmelten Gerüst verkommen ist, das jeden Moment zusammenbrechen kann. Er selbst kann jeden Moment zusammenbrechen. Seine Psyche hat mit dem Tod seiner Töchter unwiderruflichen Schaden genommen. Dass er mit seinem Geist und seinen Erinnerungen nicht mehr klarkommt, äußert sich zusehends auch in körperlichen Problemen. Seit Jahren kann Felix Hoffman nicht mehr schlafen. Seine Nächte verbringt er mit Spinoza und Fressattacken.

Mit Hoffmans Geschichte ist das Leben zweier weiterer Männer verknüpft. Freddie Mancini, ein übergewichtiger Amerikaner auf Europaurlaub, beobachtet durch Zufall die Entführung eines amerikanischen Agenten und wird dadurch zum Ziel des amerikanischen Geheimdienstes. Als ihn nach vielen gemeinsamen Ehejahren seine Frau verlässt, verlangt er eine überraschende Gegenleistung für seine Dienste fürs Vaterland. Sein Gegenüber ist der Agent John Marks. Er hatte vor Jahren eine Affäre mit Hoffmans Frau Marian und trauert ihr noch immer hinterher. So schließt sich ein fantastisches Dreieck an Verbindungen, das sich dem Leser erst nach und nach erschließt und so von Seite zu Seite die Geschichte verwickelter werden lässt.

Beinahe mit Genuss beschreibt Leon de Winter die Einzelheiten der Ess- und Verdauungsstörungen von Hoffman und Mancini. Mancini wird in Prag überfallen, als er spätnachts nach Essen sucht. Seine Gier und sein schwacher Körper machen ihn zum leichten Opfer sowohl für die Räuber als später auch für den gewitzten Agenten John Marks. Hoffman selbst gleicht die Leere in seinem Leben mit seinem nächtlichen Ritual aus. Der Tod seiner Tochter Esther – sie starb im Kindesalter an Leukämie – hat die Familie auseinander gerissen. Ihre Schwester Miriam kommt Jahre später um – drogensüchtig und prostituiert. Felix und seine Frau Marian sind über die Jahre zusammen geblieben, haben jedoch keinerlei Gemeinsamkeiten mehr. Sie wahren die Fassade, um den lukrativen Botschafterposten nicht zu gefährden.

Er tauchte ab unter den Platz und nahm auf einem blitzsauberen Bahnsteig die U-Bahn zum Praterstern, jenseits des Donaukanals, und wartete dort ein paar Minuten, bis sich die Tore zum Volksprater öffneten.

Es gelingt mir in diesem Fall nicht, die Genialität der Geschichte zu erläutern, ohne zuviel zu verraten. Die Lektüre lohnt sich in jedem Fall, auch wenn es zeitweise erschreckend scheint, was der menschliche Geist ertragen kann (oder manchmal auch nicht). Es entfaltet sich nicht nur ein Zeitdokument des Aufbruchs zur Zeit des Mauerfalls sondern auch ein Psychogramm, das eindrucksvoll schildert, wie Tragödien Menschen und ihre persönlichen Lebensumstände verändern.