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Erzählung Kurzgeschichten

Peter Henisch – Baronkarl

CN: Obdachlosigkeit, Krieg, Alkoholmissbrauch, Tod, Erwähnung von Migrant:innenfeindlichkeit im historischen Kontext


Weil ich es anders gerade nicht schaffe, folgt ein Post im Telegrammstil:

  • Der Autor erzählt in diesem Buch die Geschichte des im Grätzl Favoriten zu seiner Zeit sehr bekannten Obdachlosen, der im Volksmund Baronkarl genannt wurde. Er wird als Wiener Original und als eine Art Legende beschrieben, der das Wenige, das er hatte, stets mit anderen teilte.
  • Die „Peripheriegeschichten“ um den Baronkarl und andere Originale der damaligen Zeit glänzen mit Lokalkolorit aus dem vergleichsweise früh von Migrant:innen geprägten Wiener Bezirk Favoriten. Sie vereinen Geschichten aus dem Wien der damaligen Zeit (ca. die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts inkl. Krieg und Zwischenkriegszeit) mit Beobachtungen des Autors zur Zeit der Entstehung des Buchs (Erstveröffentlichung: 1972).
  • In gewisser Weise wird in der Person des Baronkarl die „sozial verträgliche“ Obdachlosigkeit romantisiert. Ein gewisser Zynismus kann beim Lesen übel aufstoßen, wenn die Leser:in bedenkt, dass so viele Jahre später noch immer Menschen ungewollt auf der Straße leben müssen. Womit wir wieder beim Kapitalismus wären, den Rest erspar ich uns allen einfach, ich bin nicht in der Stimmung.

EDIT: Kürzlich habe ich den Matzleinsdorfer Friedhof und dort auch das Grab des Baronkarl besucht. Dabei ist dieses Foto entstanden:

ein Grab auf dem Friedhof, der Grabstein ist aus weißem Marmor mit oben einem Kreuz, das von Efeu umrankt ist, auf dem Stein steht „Baron Karl, 24.01.1882 – 13.10.1948, Er liebte die Menschen und die Freiheit“

 

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Erzählung

Alex Capus – Reisen im Licht der Sterne

Dieses Buch habe ich ursprünglich als Geschenk gekauft. Dann stellte sich spontan heraus, dass die zu beschenkende Person einen anderen Wunsch hatte und das Buch blieb bei mir im Regal stehen. Angesprochen hatten mich daran zumindest drei Dinge:

  1. Das Bild auf dem Titel zeigt im Vordergrund eine felsige Küste, um die die Brandung tost; im dunkel gehaltenen Hintergrund ist ein Schiff gerade noch zu erkennen.
  2. Der Titel Reisen im Licht der Sterne verheißt Abenteuer, Romantik, Naturerlebnisse; allein schon die drei Hauptworte Reisen, Licht, Sterne erzeugen eine Art Sehnsuchtsgefühl.
  3. Der Name des Autors kam mir bekannt vor, tatsächlich habe ich vor einigen Jahren bereits ein Buch von ihm gelesen: Alex Capus – Léon und Louise.

Meine Erwartungshaltung wurde in keinster Weise erfüllt und doch war ich mit dem Leseerlebnis nicht unzufrieden. Erzählt wird im Buch aus dem Leben des Autors Robert Louis Stevenson (Die Schatzinsel), der seine letzten Lebensjahre auf Samoa verbrachte. Eine wichtige Rolle spielt der Kirchenschatz von Lima, der angeblich auf einer Kokos-Insel vergraben sein soll und von Generationen von Schatzsuchern gesucht wurde. Capus verbindet nun die historischen Fakten, die über das Leben Stevensons und seiner Familie bekannt sind, mit Anekdoten und Spekulationen zu einem Gesamtbild, das den Leser am Ende glauben lassen kann, der Autor Robert Louis Stevenson hätte tatsächlich eine Schatzinsel gefunden.

Die Literaturliste am Ende des Buches lässt die umfangreichen Recherchen erahnen, die notwendig waren, um all diese historischen Details zu sammeln und miteinander zu verknüpfen. Ein solches Unterfangen beeindruckt mich nach wie vor sehr und gerade das Zusammenspiel von historischen Geschehnissen mit ein bißchen Spekulation macht den Reiz dieses Buches aus.

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Erzählung

Nick Flynn – Bullshit Nights

Jedes Jahr seines Lebens ist ein Kapitel, das Leben selbst ist ein Buch.

Was tun, wenn der eigene Vater obdachlos wird? Selbst wenn dieser Vater abwesend war, keine Alimente zahlte, sich nicht um seine Kinder kümmerte, bleibt er doch der Vater? Diese Frage stellt sich der Autor Nick Flynn, der in diesem Buch (laut Klappentext) seine eigene Lebensgeschichte in manchmal blumige (ein Theaterstück über betrunkene Weihnachtsmänner und ihre Töchter) und manchmal weniger blumige (die Beschreibungen der Prozeduren im Obdachlosenheim) Worte fasst.

Auch hier zeigt ein Episodencharakter, dass es sich um Erinnerungen handelt und nicht um eine stringente Romanhandlung: Fragmente von Kindheitserinnerungen, Geschichten und Fotos, Momentaufnahmen eines Lebens, an die man sich auch Jahrzehnte später noch erinnert, weil sie sich emotional eingegraben haben. Bei den geradlinig erzählten Kapiteln stellt sich so schnell das Gefühl ein, hier einen erfundenen oder zumindest geschönten Teil vor sich zu haben.

Zwischen den Zeilen findet sich dann die wahre Geschichte: die Ziellosigkeit, die mit Obdachlosigkeit einhergeht. Es gibt keine Zukunft jenseits der Nacht, die der Obdachlose überstehen muss, ohne dass ihm auch noch die letzten Besitztümer geraubt werden. Dieselbe Ziellosigkeit prägt auch die Mitarbeiter des Obdachlosenheims. Nur sehr wenige Obdachlose schaffen es nach einer längeren Zeit auf der Straße wieder zurück in ein geregeltes Leben. Die Arbeit im Obdachlosenheim besteht also auch nur im Erhalten eines unbefriedigenden Status quo. Eine Verbesserung, irgendwelche Möglichkeiten für die Zukunft sind nicht in Sicht. Und doch muss es jeden Tag weiter gehen. Je nach Blickwinkel eine hoffnungslose oder hoffnungsvolle Aussicht. Es kommt immer ein neuer Tag.

Mein Vater, der in einem Pappkarton geschlafen hat, besteht auf zwei Millionen, besteht auf eine Scheune, um das Projekt, das sein ganzes Leben bestimmt, das Buch, an dem er schon vor meiner Geburt schrieb, anfangen oder vollenden zu können.

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Erzählung

Paulus Hochgatterer – Eine kurze Geschichte vom Fliegenfischen

Julian schaut ein wenig verwirrt. „Es gibt Menschen, die haben keine Seele“, sagt der Ire, „wenn man auf sie hinhaut, ist es Sachbeschädigung.“

Zuerst habe ich mich gefreut, als ich relativ problemlos den Literaturcache über Paulus Hochgatterer zuordnen konnte. Kein Wunder, eines der gesuchten Werke habe ich schon gelesen (und – ich bin mir ziemlich sicher – auch besessen). In der Hausbibliothek hab ich es dann nicht gefunden, aber wozu haben wir denn die Büchereien Wien?

Die kurze Geschichte erzählt von drei Freunden, die gemeinsam am Wochenende zum Fliegenfischen fahren und ist angefüllt mit Psychologenwitzen und psychologischen Insiderscherzen, die mit dem Fach Vertraute vermutlich auf jeder Seite schallend lachen lassen. Man kann es spüren, dass zwischen den Zeilen deutlich mehr versteckt ist, leider fehlt mir das Wissen über Symbole und Traumdeutung und all die Zwischentöne der Männerfreundschaft. Da wird über das Mädchen fantasiert, dass das Frühstück bringt, die Frage geklärt, ob der Fisch überhaupt getötet werden darf, Konkurrenzkampf laut und heimlich ausgelebt und auch tüchtig getrunken. Wenn man mehr von Psychologie versteht, dürfte das Buch ein richtiger Knüller sein, für mich war es zumindest eine kurzweilige Unterhaltung (und natürlich ein Drittel des Weges zum Cache!).

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Erzählung Kurzgeschichten

H. C. Artmann – Mein Erbteil von Vater und Mutter

Schon vor Jahren hatte ich mit meinem ersten Literaturcache begonnen. Den Autor H. C. Artmann hatte ich recht schnell identifiziert, dann zeigten sich jedoch die ersten Schwierigkeiten. In den letzten Wochen habe ich die Recherchen zu den Literaturcaches wieder aufgenommen und unter anderem dieses Buch aus dem Magazin der Hauptbücherei ausheben lassen. Sozusagen eine Rarität und wahrscheinlich noch das einfachste von den vier zu findenden Werken.

Die Geschichten aus Lappland sind blutrünstig und grausam, da wird mit einem Augenzwinkern Menschen die Haut abgezogen, Verwandte werden verspeist, auch der Fuchs hat eine sehr sadistische Ader. Hand aufs Herz, hier handelt es sich wieder um eine astreine Erweiterung der eigenen Filterblase, auf dieses Buch wäre ich sonst sicher nie gekommen, empfehlen kann ich es auch nicht wirklich, wenn man nicht das Wesen der Literatur an sich untersucht. Bin schon gespannt auf die weiteren Artmann-Werke.

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Erfahrungsbericht Erzählung

Peter Handke – Wunschloses Unglück

Selten wunschlos und irgendwie glücklich, meistens wunschlos und ein bißchen unglücklich.

Ein Geocaching-Literatur-Rätsel stieß mich auf Peter Handke. Ich bin mir ziemlich sicher, dass seinerzeit im Deutsch-Unterricht eine(r) meiner SchulkolegInnen ein Referat darüber gehalten hat, erinnern konnte ich mich jedoch nur mehr daran, dass Handke darin vom Leben seiner Mutter erzählt.

Fein säuberlich schickte sie ihm eine beglaubigte Testamentskopie per eingeschriebenem Brief, noch am selben Abend beging sie Selbstmord durch eine Überdosis Tabletten. Auf den ersten Seiten geht Peter Handke darauf ein, dass das Aufschreiben der Geschichte für ihn auch therapeutische Wirkung hat, im weiteren Verlauf schreibt er einmal auch über die Schwierigkeit, die richtigen Formulierungen zu finden, die aber die Geschichte keinesfalls verfälschen dürfen. Eine schwierige Aufgabe, wenn man über lange zurückliegende Geschehnisse schreibt, die man selbst gar nicht oder nur sehr peripher (als kleines Kind) erlebt bzw. wahrgenommen hat.

Aufwachsen in der Großfamilie auf dem Land, keine eigenen Bedürfnisse haben dürfen, keine Möglichkeiten. Dem neugierigen Mädchen wird vom Großvater der Wunsch etwas zu lernen, einfach nur irgendwas abgeschlagen, immer wieder vom Tisch gewischt. Bis sie mit 15 Jahren schließlich geht und sich im Tourismus vom Stubenmädchen aus hocharbeitet. Der Anschluss an Deutschland und bald darauf der Krieg kommt dazwischen, eine erste Liebe, eine schnelle Schwangerschaft, Heirat mit einem anderen, den sie jedoch nicht liebt (das Kind braucht einen Vater). Der Krieg trennt die Familie, erst 1948 kehrt die Mutter in ihr Heimatdorf zurück, weitere Kinder folgen. Ausscheren ist auf dem Dorf nicht gern gesehen:

Spontan zu leben – am Werktag Spazierengehen, sich ein zweites Mal verlieben, als Frau allein im Gasthaus einen Schnaps trinken–, das hieß schon, eine Art von Unwesen treiben; „spontan“ stimmte man höchstens in einen Gesang ein oder forderte einander zum Tanz auf.

Schließlich leidet sie unter immer stärkeren Kopfschmerzen, jeder tägliche Handgriff wird zur Qual. Sie stößt sich an Ecken und Kanten, erinnert sich an nichts mehr, verirrt sich beim Spazierengehen, verliert jedes Zeit- und Ortsgefühl. Aus heutiger Sicht würde man wohl eine akute Depression diagnostizieren, damals vermutete der Arzt einen eingeklemmten Nerv. Sie wird schließlich von einem Nervenarzt behandelt, eine Zeitlang geht es ihr besser. Doch wie es weiter vorn im Buch heißt, wusste sie wohl, dass ihre Zukunft bereits vorbei war.

Auf den letzten Seiten versammelt der Autor Erinnerungen, Anekdoten, Reflexionen, jetzt ist er nicht mehr der Erzähler, jetzt erinnert er sich an die Frau, die seine Mutter war. Ein schmerzhaftes, persönliches Buch.

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Erzählung

Alejandro Zambra – Bonsai

Beide wussten, dass das Ende, wie es heißt, bereits geschrieben steht, ihrer beider Ende, das der jungen traurigen Leute, die gemeinsam Romane lesen, die mit Büchern unter der Decke verstreut aufwachen, die viel Gras rauchen und Songs hören, die nicht dieselben sind, die jeder für sich allein hört.

Eine seltsame Liebesgeschichte haben mir die Empfehlungen in die Leseliste gespült. Julio und Emilia verbringen einige Zeit miteinander, die beide lügen sich gegenseitig vor, sie hätten Proust gelesen. (Das Buch suggeriert, dass die Nichtlektüre in literarischen Kreisen als Bildungslücke gilt.) Die Beziehung der beiden scheint den Weg alles Irdischen zu gehen: der Alltag kehrt ein. Schließlich trennen sie sich.

Julio jedoch denkt nach Jahren noch immer an Emilia. Aus der Idee eines Autors, den Julio trifft, entwickelt er seine eigene Liebesgeschichte, die sich am Symbol des Bonsai entzündet. Zu Ehren Emilias schreibt er die Geschichte, zu Ehren Emilias beginnt er schließlich selbst, einen Bonsai zu züchten.

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Erzählung

Christoph Ransmayr – Damen & Herren unter Wasser

Mit Christoph Ransmayr verbinde ich nach wie vor eine ganz persönliche Nostalgie, immerhin war das erste Buch meiner Aufzeichnungen Die Schrecken des Eises und der Finsternis.

Diese Bildergeschichte habe ich nun schon ewig auf der Liste stehen, weil sie schon immer vergriffen war. Sie gehört zur Reihe Spielformen des Erzählens, in der Christoph Ransmayr bereits die Festrede, die Tirade und das Verhör untersucht hat. Diese Bildergeschichte stützt sich nun auf sieben Unterwasserfotografien von Manfred Wakolbinger, die Christoph Ransmayr als Ausgangspunkt für seine Protagonisten dienen.

Der Erzähler und Ex-Museumswärter Herr Blueher findet sich plötzlich als Großflossen-Riffkalmar in den Tiefen des Ozeans wieder. Er weiß weder, was ihm geschehen ist, noch, ob es einen Weg zurück gibt. Die animalischen Instinkte zwingen ihn zum Überleben, seinen Geist versucht er mit philosophischen Untersuchungen wachzuhalten. Stück für Stück lernt er andere Meeresbewohner mit menschlicher Vergangenheit kennen und erforscht ihre Geschichten auf der Suche nach einer Art Sinn in ihrer Verwandlung. Ein unaufgeregt vor sich hin philosophierender Riffkalmar erforscht das Meer und sucht nach dem Sinn des Lebens. Ein Lesevergnügen.

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Erzählung Klassiker

Fjodor Dostojewski – Der Spieler

Roulette(c)rasto/SXC

Sie blieb stehen, der Zorn nahm ihr den Atem. Bei Gott, ich weiß nicht, ob sie da schön war, doch ich hatte es immer gern, zu sehen, wie sie so vor mir stehenblieb, und darum lockte ich gern ihren Zorn hervor. Vielleicht hatte sie das bemerkt und wurde absichtlich böse. Das sagte ich ihr offen.

Alexej, der Erzähler dieser traurigen Spielerkarriere, ist als Assistent des Generals im noblen Spielerort stets am Puls der Geschehnisse. Seine Liebe gilt der Kinderfrau Polina, die ihm jedoch „kalt-warm gibt“ und ihn stest im Unklaren über ihre eigenen Gefühle lässt. Der General selbst hofft auf eine baldige Heirat mit der schönen Französin Mademoiselle Blanche, zu diesem Zweck ist aber erst der Tod seiner Großmutter Babuschka erforderlich, daher wartet der General Tag für Tag auf das erlösende Telegramm. Statt dem Telegramm erscheint jedoch – wer hätt’s gedacht? – Babuschka selbst!

Auf der oberen Plattform, vor dem breiten Hotelportal, saß in dem Sessel, den man hinaufgetragen hatte, umgeben von Dienern, Zofen und dem vielköpfigen diensteifrigen Hotelpersonal, in Gegenwart des Empfangschefs, der herbeigeeilt war, da eine Ankunft mit so viel Getöse, mit eigener Dienerschaft, mit einer Unzahl von Taschen und Koffern auf einen hohen Gast wies … also da saß, da thronte – Babuschka!

Die resolute Gräfin mischt das Nobelhotel gründlich auf. Alexej, als ihr erkorener Begleiter, führt sie ins Roulettespiel ein. Wie es der Teufel will, hat Babuschka mit ihrer verrückten Vorliebe für Zero vorerst Glück, in weiterer Folge verliert sie natürlich alles bisher Gewonnene und im Gesamten den Großteil des Vermögens, auf das der General so verzweifelt hofft. Dadurch wird auch Polinas Stellung gefährdet. Alexey begibt sich selbst ans Roulette und gewinnt in einer Nacht ein kleines Vermögen.

Ich beachtete sie nicht weiter. In der Alle war es so finster, dass man die Hand vor Augen nicht sah. Bis zum Hotel hatte ich eine halbe Werst zu gehen. Nie hatte ich mich vor Dieben und Räubern gefürchtet, nicht einmal als Kind; auch jetzt dachte ich nicht an sie. Übrigens weiß ich gar nicht, woran ich unterwegs dachte; da waren keine Gedanken.

In diesem Augenblick verfällt er dem Spiel. In weiterer Folge erzählt Alexej, wie es den handelnden Personen weiter ergeht, er selbst bleibt fortan ein Spieler und hangelt sich durchs Leben ohne Highlights außer den sporadischen Gewinnen am Spieltisch.

„Der Spieler“ ist eine spannende Geschichte mit interessanten Charakteren, über denen die exzentrische Babuschka in ihrem Rollstuhl thront. Menschliche Abgründe haben schon immer eine gute Basis für Liebesgeschichten abgegeben und Dostojewski ist definitiv ein Meister in der Kunst, dies umzusetzen.

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Erzählung Roman

Anna Gavalda – Ich habe sie geliebt

Rose(c)hirekatsu/SXC

Ich hatte sie zutiefst verletzt. Sie hob den Kopf und sah mir in die Augen. Es war das erste Mal seit Jahren, dass wir uns so lange anschauten. Ich versuchte, etwas Neues in ihrem Gesicht zu entdecken. Unsere Jugend vielleicht … Die Zeit, als ich sie noch nicht zum Heulen brachte. Als ich noch keine Frau zum Heulen brachte und als mir allein die Vorstellung, an einem Tisch zu sitzen und über Liebesgefühle zu plaudern, unvorstellbar erschienen war.

Chloé wurde von ihrem Mann verlassen. Ihren Schmerz ertränkt sie im Haus ihres Schwiegervaters. Sie bemitleidet sich selbst und lässt dem Hass auf ihren Mann freien Lauf. Natürlich kann sie nicht fassen, warum ihr Mann Adrien sie und die gemeinsamen Töchter verlassen hat, um mit einer anderen Frau neu anzufangen.

Ihr Schwiegervater Pierre, den sie als mürrischen, alten Mann kennt, erzählt ihr schließlich eine Geschichte aus seinem eigenen Leben. Auch er hat sich in eine andere Frau verliebt. Doch den Mut, seine Frau zu verlassen, hat er nicht aufgebracht. Er zeigt Chloé und dem Leser eine andere Perspektive aus dem Beziehungsuniversum. Er hat nicht nur seine Frau verletzt, sondern auch seine Geliebte, die lange vergeblich auf ihn wartete.

Was uns diese Geschichte zeigt, ist, dass es in der Liebe nicht immer nur Schwarz und Weiß gibt, die Grautöne sind oft entscheidend. Und jede Entscheidung kann falsch oder richtig sein. Meistens bekommt man nur eine Chance. Viel zu oft wird man das erst Jahre später erkennen.