Die einzige Auslandsreise dieses Sommers führte mich nach Berlin (im Nachtzug in einem Einzelabteil, um das Infektionsrisiko möglichst gering zu halten). Das Mittagessen des letzten Tages nutzten wir für einen Spaziergang zu einem meiner liebsten Buchgeschäfte: Shakespeare & Sons. Neben den ausgezeichneten Bagels finde ich dort immer wieder Bücher, die ich entweder extra bestellen müsste (zB Tiny Beautiful Things oder Are You My Mother?) oder die sonst überhaupt nicht meinen Weg kreuzen würden, wie zum Beispiel dieses Werk. Spannende Essay Collections bilden überhaupt einen Schwerpunkt ihres Programms, The Lonely City habe ich ebenfalls dort gekauft. Die Verbindung passt, denn in The Lonely City wird ein Gemälde von Edward Hopper ausführlich analysiert und Edward Hopper spielt auch in Alain de Bottons Reisebetrachtungen eine Rolle.
It is perhaps sad books that best console us when we are sad, and to lonely service stations that we should drive when there is no one for us to hold or love.
Viele von Edward Hoppers Gemälden zeigen einsame Menschen an einsamen Orten. Viele haben auch einen Reisebezug. Der Autor analysiert die Hintergründe einiger Bilder, wie etwa Automat (1927). Eine Frau sitzt an einem Kaffeetisch in einem scheinbar leeren Lokal vor einem großen Glasfenster, draußen ist es sichtbar dunkel. Ihre Kleidung lässt annehmen, dass es außerdem kalt ist. Sie wirkt isoliert an einem öffentlichen Ort. Ein ähnlicher Effekt lässt sich auch in Compartment C, Car 293 (1938) beobachten. Die Reisende sitzt allein in ihrem Zugabteil. Obwohl draußen noch Landschaft in der Dämmerung zu erahnen ist, scheint sie jedoch in ihre Lektüre versunken zu sein und damit gleichwohl isoliert und distanziert in diesem an sich öffentlichen Zugabteil.
The present might be compared to a long-winded film from which memory and anticipation select photographic highlights. […] My layers of experience settled into a compact and well-defined narrative: I became a man who had flown from London and checked into this hotel.
Die Reise beginnt bereits in der Vorbereitung, in der Antizipation, in der Erwartung der Erlebnisse, zu denen die Reise uns führen soll. Im obigen Zitat beschreibt der Autor, dass sowohl die Erwartungen als auch die Erinnerungen an eine Reise jeweils nur einzelne Momentaufnahmen beinhalten, während die Gegenwart, das tatsächliche Erleben, einen Fluss darstellt. Der Fluss beinhaltet nicht nur Highlights, sondern eben auch die alltäglichen Momente, das Banale, das uns an unseren Urlaubsort begleitet.
Curiosity might be pictured as being made up of chains of small questions extending outwards, sometimes over huge distances, from a central hub composed of a few blunt, large questions. […] The blunt large questions become connected to smaller, apparently esoteric ones.
Ein Kapitel befasst sich mit den unterschiedlichen Gründen für Reisen. Alexander von Humboldt verreiste, um jede kleinste Pflanze zu katalogisieren, sein Interesse, seine Neugier kannten kaum Grenzen. Heutige Touristen lassen sich oft von Bussen zu den bekannten Sehenswürdigkeiten bringen, ohne den Ort, den sie besuchen, tatsächlich zu sehen. Wenn ich mir nur die Sehenswürdigkeiten ansehen wollte, dann könnte ich das bequem von zuhause aus tun. Viele Fotos im Internet werden besser sein, als ich sie selbst jemals machen könnte. Wir verreisen aber nicht nur der Sehenswürdigkeiten wegen, sondern wegen des Gefühls. Wir hoffen, uns an einem anderen Ort als anderer Mensch zu fühlen, unsere alltäglichen Sorgen zumindest für den Zeitraum des Aufenthalts hinter uns lassen zu können und uns mit anderen – scheinbar wichtigeren – Fragen auseinanderzusetzen.
And yet De Maistre’s work springs from a profound and suggestive insight: that the pleasure we derive from journeys is perhaps dependent more on the mindset with which we travel than on the destination we travel to.
Im letzten Kapitel stellt der Autor schließlich die Frage, wie wir an unsere gewohnte Umgebung mit den Augen einer Reisenden herantreten können. Gerade jetzt, wo das Reisen so schwierig bis unmöglich geworden ist, könnten wir massiv davon profitieren, wenn es uns gelänge, unsere gewohnte Umgebung mit neuen Augen zu betrachten. Schon im Frühjahr habe ich mich beim Spazierengehen in der Heimatstadt gelangweilt, immer wieder dieselben Wege, immer wieder dieselben Ärgernisse (zB die unübersichtliche Bahnunterführung, die den kürzesten Weg in die Au darstellt). Weitere Wochen später habe ich angefangen, die Häuser auf den gewohnten Wegen ausführlicher zu betrachten und habe Unmengen an interessanten Fenstern gefunden. Dieser Blick ins Detail ist vielleicht sogar nur in einer bekannten Umgebung möglich, weil eine unvertraute Umgebung von den Details ablenkt.
Wie schon Tuk-Tuk to the Road, so habe ich auch dieses Buch hergenommen, um mir das eigene Leid an all den nicht gemachten Reisen dieses Jahr etwas zu lindern. Und trotzdem starre ich manchmal immer noch sehnsüchtig die Karte an der Wand an und träume davon, in einen Zug zu springen und an irgendeine Küste zu fahren. Irgendwann in der Zukunft wird sicher auch das wieder möglich sein. Und bis dahin müssen wir das Beste herausholen aus unserer Gegenwart im Fluss, an die wir später auch nur noch Momentaufnahmen als Erinnerung haben werden.