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Roman

Ali Smith – How to be both

I know, she says. But it kind of doesn’t matter, does it, that we don’t know his name. We saw the pictures. What more do we need to know? It’s enough just that someone painted them and then one day we came here and saw them. No?

Im ersten Teil geht es um George, eine Jugendliche, die um ihre Mutter trauert, die vor kurzer Zeit wegen eines Unfalls gestorben ist. Der Leser folgt Georges Gedankengängen, die sich an viele Gespräche mit ihrer Mutter erinnert. Diese werden mit Georges Gegenwart verflochten, die hauptsächlich aus Sorgen um ihren Vater und ihren Bruder und mehr oder weniger pflichtbewussten Therapiesitzungen bestehen. Zumindest so lange, bis H(elena) in ihr Leben tritt.

I have this need, H is saying.
What need? George says.
To me more, H says.
More what? George says.
Well, H says and her voice sounds strangely altered. More.

Im zweiten Teil wird das Leben des Künstlers (der Künstlerin?) beschrieben, der das Fresko gemalt hat, von dem Georges Mutter so fasziniert war, dass sie mit ihren beiden Kindern nach Ferrara flog, um es zu bewundern. Dieser Teil ist wirr und teilweise in Fragmenten verfasst, die es schwierig machen, den Überblick zu behalten.

She was repressed and respectable and anarchic and rude and unexpected, she was trivial and wild both at once, like a bad girl from school. And she was lovely. She was attentive, sweet to me. And there was something, some glimmer of something.

Von diesen Fakten abgesehen ist das Buch durchzogen von einer künstlerischen Aura, einem intensiven Blick auf Kunstwerke und deren Bedeutung. Der Titel kann unterschiedlich verstanden werden, es geht darum, wie man gleichzeitig Künstler und Mutter sein kann, aber auch die Lesart Ehepartner und Elternteil oder Tochter und Schwester ist möglich.

Im ersten Zitat geht es um den Künstler, dessen Name nicht bekannt ist. In einem späteren Gespräch stellt George auch die Frage, ob der Künstler auch eine Frau gewesen sein könnte. Für die Zeit, in der das Fresko entstanden ist, wäre das äußerst unüblich, jedoch kann sich der heutige Betrachter dessen keinesfalls sicher sein. An dieser Stelle muss ich einfach dem folgenden Blog Post vorgreifen, weil es so gut passt: Man kann nie wissen, was bleibt.

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Sachbuch

Luise Berg-Ehlers – Unbeugsame Lehrerinnen

Von allen ihren Ausführungen aber scheint eine kaum hinreichende Beachtung gefunden zu haben, vielleicht weil sie gleichermaßen schwer und leicht zu realisieren ist: Lehrerinnen und Lehrer können nur dann überzeugend und einfühlsam wirken, wenn sie sich an ihr eigenes Kindsein, an die Sorgen, Ängste und Freuden erinnern, die ihre Kindheit bestimmten. Oder, wie es Key ausdrückt: „Selbst wie das Kind zu werden, ist die erste Voraussetzung, um Kinder zu erziehen.“

Meine „Ferien“ wollte ich unter anderem dazu nutzen, etwas Sekundärliteratur – in unterschiedlichen Richtungen mit meinem Thema verwandt – zu lesen, um so den Horizont und den Umfang besser erfassen zu können. Möglichkeiten dafür gibt es ohne Ende.

Dieser Band befasst sich mit Frauenpersönlichkeiten in der Geschichte des Lehrens. Wenig überraschend dabei ist, dass sich Frauen, die Lehrerin sein wollten, oft in irgendeiner Form mit der Gesellschaft auseinandersetzen mussten. Erst im 19. Jahrhundert war es für Frauen möglich, einen Universitätsabschluss zu absolvieren. Bildung ist ein zentrales Element für Freiheit, oft waren es Lehrerinnen, die für die Rechte der Frauen und Mädchen kämpften und diesem Kampf ihr Leben widmeten. Ein interessantes Detail ist etwa, dass Frauen als Lehrerinnen in Deutschland lange Zeit zur Ehelosigkeit gezwungen wurden. Mit der Heirat verloren sie ihre staatliche Stelle als Lehrerin – als verheiratete Frau brauchten sie im Verständnis der damaligen Zeit nicht mehr zu arbeiten.

Und wenn eine Lehrerin wie Tagrid Yousef an einer Schule arbeitet, die zahlreiche Jugendliche mit Migrationshintergrund besuchen, dann wird sie zu einem Rollenvorbild für all jene Mädchen, die noch ihren Weg zwischen den Welten finden wollen, wie es die junge Tagrid einst erfolgreich tat.

Einen wichtigen Punkt stellt die Vorbildwirkung dar, die Lehrerinnen speziell für Mädchen immer einnahmen und auch heute noch einnehmen. Schon mit Erzieherinnen im Kindergarten aber noch mehr später mit Lehrerinnen in der Schule verbringen Kinder große Mengen an Zeit. Sie prägen entscheidend, wie sich ein Kind in der Gesellschaft wahrnimmt und sind für viele Kinder die erste Bezugsperson außerhalb der Familie.

Im letzten Kapitel befasst sich die Autorin mit der Rolle der Lehrerin oder Erzieherin in Literatur und Film. Die Beschreibung des Lehrpersonals in Harry Potter (und anderer bekannter Figuren wie Mary Poppins) fand ich persönlich etwas plump geraten. Allerdings lassen sich hier Parallelen zu den Erziehungsmetaphern finden und die Rollen analysieren, die Lehrerinnen von den Medien und damit der Gesellschaft zugeschrieben werden. Frauen generell unterliegen ja unterschiedlichsten Erwartungen der Gesellschaft, für Lehrerinnen gilt das noch in besonderem Maße, da sie eine offizielle Vorbildwirkung für ihre Schützlinge haben. Der Lehrberuf ist damit nicht nur bloß ein Arbeitsplatz sondern eine Berufung, die nicht jeder ausfüllen kann.

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Roman

Silvia Bovenschen – Nur Mut

„Du musst dich ständig gestalten und umbauen und dabei kontrollieren, ob dein Selbstentwurf noch auf der Höhe aktueller Vorgaben ist. Du musst permanent darüber nachdenken, was du bist und wie du bist und wie du sein könntest, bis du im Zuge dessen gar nicht mehr dazu kommst, zu sein.“

Vier alte Damen, eine verwirrte Jugendliche und ihr Verehrer in einer Villa. Konfliktpotenzial ist ausreichend vorhanden. Interessant sind hauptsächlich die Probleme und die sehr unterschiedlichen Persönlichkeiten der vier Damen, die kaum etwas gemeinsam haben außer dem Alter. Jede hat ihr Kreuz zu tragen und geht damit auf ihre eigene Weise um. Das geht mehr oder weniger gut, bis es programmgemäß zum Eklat kommen muss.

„Heiliger Bimbam“, sagte Nadine. (Das war auch nicht besser – so etwas sagte man in den fünfziger Jahren, wenn ein Kompottschüsselchen heruntergefallen war.)

Die Dialoge sind spritzig verfasst, es beeindruckt, mit welcher Leichtigkeit die Autorin sowohl die Jugendsprache der desinteressierten Dörte als auch die unterschiedlichen Altersperspektiven der vier Damen einzufangen weiß.

„Vor diesem Schlag war ich ein planendes Wesen. Mit diesem Schlag habe ich mich verbraucht. Nach diesem Schlag werde ich mich für eine sehr kleine Zeit in der neuen Eigenliebe wärmen. Mein Leben hat keine Richtung mehr. Es gibt kein Ziel mehr. Es gibt nichts mehr zu tun. Jetzt bin ich für andere nur noch gefährlich.“

Auf die Katastrophe folgt eine fantastische Episode, die das vorangegangene Gefühl, ein Theaterstück zu lesen, zerstört. Noch während die vier Damen den Salon verwüsten, kann sich der Leser vorstellen, dieses Stück mit Erni Mangold (in der Rolle der Nadine?) in der Josefstadt auf der Bühne zu sehen. Die Rahmenhandlung erscheint mir allerdings nur als halbherzige Rechtfertigung der fantastischen Episode, in der die Lebensfehler der Damen auf den Punkt gebracht werden. Ein unterhaltsames Lehrstück über das Alter mit der Botschaft zwischen den Zeilen: Du wirst eher die Dinge bereuen, die du nicht getan hast, als die, die du getan hast.

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Sachbuch

Laura Schwerzmann – Kleingärten

Das urbane Gärtnern ist Trend und Gegenwelt.

Auch dieses Buch entstammt (wie der letzte Blog Post zum Thema Solidarische Ökonomie) einer Idee, der ich kurzfristig nachrecherchiert habe, bis jetzt aber kaum die Zeit gefunden habe, mich ernsthaft damit zu beschäftigen. Im Prinzip kann man das fast schon als Meta-Recherche bezeichnen, so weit hab ich mich inzwischen vom Thema entfernt.

Dieser Band liest sich wie eine Diplomarbeit (was es möglicherweise auch ist, die Hochschule für Technik Rapperswil, Abteilung Landschaftsarchitektur ist mit Logo auf dem Cover vermerkt). Er untersucht die Geschichte der Kleingärten in unterschiedlichen Formen in den Städten Zürich und Winterthur. Es werden sowohl die geschichtliche Entwicklung der Kleingärten (wie so vieles begann diese zur Zeit der Industrialisierung) aber auch neue Formen des Urban Gardening thematisiert.

Der Zeithorizont entscheidet stark mit, wie die Gärten sich entwickeln. Sind es temporäre Gärten, werden Gefässe bepflanzt und kurzlebige Pflanzen gewählt. Ist der Garten dauerhaft geplant, kann eine parkähnliche Anlage entstehen.

In den beschriebenen Schweizer Städten entstehen moderne Gemeinschaftsgärten (in Abgrenzung von traditionellen Kleingärten, in Österreich Schrebergarten genannt) meist als Zwischennutzung auf Flächen, die zur Bebauung vorgesehen sind. Damit bleiben die Projekte temporär, die Hochbeete müssen abgebaut und transportiert werden können. Eine langfristige Bindung der Teilnehmer an das Projekt ist somit auch nicht möglich.

Meist hat jede Person oder Familie ein eigenes Beet, das sie selbständig bepflanzen kann, daneben gibt es Gemeinschaftsflächen wie beispielsweise einen Kräutergarten oder Frühbeete, die von allen gemeinsam gepflegt werden.

Als eigener Gartentyp wird der interkulturelle Garten besprochen. Hier geht es nicht nur um die klassischen Garten-Vorteile Bewegung und Beschäftigung an der frischen Luft und die Herstellung von Nahrungsmitteln sondern vor allem um den Austausch mit anderen Menschen. Solche interkulturellen Gärten werden oft mit Sprach- oder Kochkursen und anderen gemeinschaftlichen Angeboten angereichert, um den Austausch entsprechend zu fördern.

Wie intensiv ein interkultureller Austausch stattfindet, hängt stark von dem Mass an aktiver Auseinandersetzung mit den Mitgärtnern vor dem Hintergrund des Gartens ab. Je mehr Austausch mit Aktivitäten gefördert wird, umso erfolgreicher ist also ein interkultureller Garten in seinen spezifischen Zielsetzungen.

Auch der regionalen Vertragslandwirtschaft, wie ich sie aus den Erzählungen der Kaltmamsell über das Kartoffelkombinat kenne, ist ein Kapitel gewidmet. Dabei organisiert ein Verein oder eine Genossenschaft den Anbau von Gemüse, das dann an die Abonennten verteilt wird. Im Kartoffelkombinat wird auch der gemeinschaftliche Aspekt betont, die Abonennten helfen etwa beim Packen der Ernteanteile oder beim Einkochen von Sugo für die kalte Jahreszeit.

Zum Abschluss liefert die Autorin Argumentationshilfen über die Vorteile von städtischen Gartenprojekten. Der Trend zum Urban Gardening ist zwar nicht mehr neu, hat aber vermutlich seinen Zenit noch nicht erreicht. Jedes Fleckchen Grün in der Stadt ist zu begrüßen.

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Sachbuch

Elisabeth Voß – Wegweiser Solidarische Ökonomie

Manchmal erstaunt es mich ja selbst, auf welche literarischen Abwege mich meine wirren Projektideen führen. Dieser dünne Band hat mir zwar nicht wirklich bei meiner Projektplanung weitergeholfen, aber trotzdem einige interessante Einsichten gebracht.

Es beginnt mit der Definition des Begriffs Solidarische Ökonomie. Das Leitthema ist: jeder darf nicht nur auf seinen eigenen Vorteil achten, sondern sollte so handeln, dass es für alle gut ist. Die aktuell vorherrschende Wirtschaftsweise wird als das genaue Gegenteil charakterisiert: Wenige profitieren von der Ausbeutung von Vielen. Ökonomische Ausbeutung ist die materielle Basis von Herrschaft, Ökonomie ist die materielle Basis gesellschaftlicher Verhältnisse. Bei der solidarischen Ökonomie stehen hingegen Menschen und ihre Bedürfnisse im Mittelpunkt: Ökonomie ist für die Menschen da (und nicht umgekehrt).

Die herrschende, an Kapitalinteressen orientierte Wirtschaftsweise ist nicht in der Lage, weltweit menschenwürdige Lebensverhältnisse herzustellen. Sie lässt sich weder unter sozialen, noch unter ökologischen, noch unter ökonomischen Gesichtspunkten rechtfertigen.

In weiteren Kapiteln werden einige Merkmale solidarischer Projekte erläutert. Nutzen steht vor Gewinn: Das Befriedigen konkreter menschlicher Bedürfnisse steht als Motiv und Antrieb hinter dem Projekt. Menschen arbeiten für sich selbst und nicht für den Profit anderer. Die Auswirkung von Privatisierungen auf die Infrastruktur werden ebenso thematisiert wie die Regionalbewegung (lokal sozial und ökologisch handeln). In loser Folge werden weiters verschiedene Projektformen mit Beispielen aufgezählt, ohne auf die zugrundeliegenden Strukturen näher einzugehen.

Denn die Fähigkeit zur Selbstorganisation aus eigener Kraft ist ein Privileg derer, die über die notwendigen materiellen und immateriellen Voraussetzungen verfügen.

Oft fehlt es gerade denen, die am meisten Selbsthilfe benötigen würden, an den Mitteln, um das auf die Beine zu stellen. Daher hat dieses ganze Mikrokredit-Konzept, wie es Muhammad Yunus etwa mit seiner Grameen Bank umsetzt, so gut funktioniert. In dem Moment, in dem die Menschen dieses winzige bißchen Kapital hatten, konnten sie sich damit selbst etwas aufbauen.

Die Vorhaben solidarischer Ökonomien sind Experimente, immer im Werden, nie perfekt. Sie sind angreifbar und gefährdet, denn der kapitalistische Markt mit seiner objektiv ökonomischen Macht und seinen subjektiv psychischen Auswirkungen stellt eine permanente Bedrohung dar. Es ist wichtig, sich dessen bewusst zu sein und aktiv gegenzusteuern.

Realistisch betrachtet wird kaum ein solidarisches Projekt tatsächlich die Weltwirtschaft verändern. Aber es muss auch nicht im kleinen Rahmen bleiben, wie etwa die Fair Trade-Bewegung in den letzten Jahrzehnten bewiesen hat. Dass das Ziel ein unerreichbares Ideal ist, sollte uns nicht davon abhalten, auf dieses Ideal hinzuarbeiten und auf diesem Weg die Welt ein Stück weit zu verbessern.

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Biografie Memoir

Susi Nicoletti – Nicht alles war Theater

Theater ist für mich Therapie. Wenn ich Text lerne, eine Rolle erarbeite, mich in eine andere Figur – im wahrsten Sinne des Wortes – versetze, verdränge ich meine privaten Sorgen und Probleme.

Mir war Susi Nicoletti nur ein vager Begriff. Als meine Theaterzeit (als Zuschauer versteht sich, nicht auf der Bühne) begann, neigte sich ihre Karriere bereits dem Ende zu. Bekannt war mir jedoch, dass Pia Douwes, Wiens erste Musical-Elisabeth, bei Susi Nicoletti Schauspielunterricht hatte. Sie erwähnte das auch in dem Interview, das ich 2005 für Blickpunkt Musical mit ihr führte. Diese Lehrtätigkeit wiederum erwähnt Susi Nicoletti in ihren von Gaby von Schönthan aufgezeichneten Erinnerungen nur kurz. Sie hat jedoch eine deutliche Vorstellung davon, wie unterrichtet werden soll(te).

Wir sind sehr wohl mitverantwortlich, was aus Menschen wird, die wir unterrichten. Haben Sie außer ihrer Begabung und dem erlernten Handwerk die Kraft, die Disziplin, die starken Nerven und die Gesundheit, die ständige Neugierde, etwas Neues auszuprobieren – und auch den Willen, freiwillig und selbstverständlich, ohne Druck, gelassen auf viel Privatleben zu verzichten?

Ihre Biografie ist ein enorm spannendes Zeitdokument. Neben launigen Anekdoten (bei ihrer ersten Hochzeit etwa rief der Pfarrer beim entscheidenden Satz falsche Namen auf – eine Geschichte für die Ewigkeit) entfaltet sich die geschichtliche Entwicklung des letzten Jahrhunderts. Der Leser erlebt den Anschluss Österreichs an Deutschland aus der Perspektive einer arrivierten Schauspielerin. Ihre Existenz ist im Vergleich zu vielen anderen großteils gesichert, doch dazu ist sie ständig unterwegs zwischen Arbeit und Familie.

Bei Fliegeralarm Ruhe bewahren. Es ist Vorsorge getroffen, dass alle Besucher Platz in den Luftschutzräumen finden. Richtungspfeile beachten. Die Sitzplätze ohne Hast verlassen und allen Anordnungen der Luftschutzorgane Folge leisten. Garderobe wird erst nach der Entwarnung ausgegeben.

In ihren Erzählungen aus der Kriegszeit erscheint zuerst faszinierend, wie lange der Theaterbetrieb aufrechterhalten wurde. Obwohl die Lebensmittel und Heizmaterial bereits knapp wurden, obwohl bereits jederzeit Fliegeralarm drohte, im Theater wurde gespielt. Einerseits muss es immer noch ausreichend Menschen gegeben haben, die es sich leisten konnten, in diesen entbehrungsreichen Zeiten Geld für Unterhaltung auszugeben. Andererseits sollte das Volk unterhalten und abgelenkt werden, um den Kriegszustand nicht zu hinterfragen. Truppenbetreuung, Lazarettbetreuung – Schauspieler waren weiterhin gefragt. Erst im August 1944 wurde die Schließung aller Theater angeordnet. Die Alliierten befanden sich bereits an allen Fronten im Vormarsch.

Ich habe eine – für mich sehr angenehme – Einstellung meinen Gefühlen gegenüber. Wenn eine Beziehung gut und tief und echt ist, muss der Betreffende nicht unbedingt „zum Angreifen“ nahe sein. Meine Gefühle haben absolut nichts mit Entfernung zu tun. Beziehungen sind unabhängig von Zeit und Raum.

Vor dem Leser liegen die Erinnerungen einer alten Dame, die ein bewegtes Leben hinter sich hat. Es erscheint nur logisch, dass sie auf lange Zurückliegendes milde zurückschaut (Claus Peymann – Burgtheaterdirektor 1986–1999 – jedoch ausgenommen). Mir stellt sich die Frage, ob ein Mensch mit so einer Einstellung zu den eigenen Gefühlen geboren werden kann oder ob sich dies im Verlauf des Lebens ergibt. Als stets berufstätige Schauspielerin, „Einspringerin vom Dienst“, wie sie selbst sagt, und in Kriegszeiten Alleinunterhalterin ihrer Familie war sie naturgemäß oft von ihren Kindern getrennt. Auch von ihrer zweiten Ehe mit Ernst Haeussermann beschreibt sie hauptsächlich ihrer beider Arbeit und die Organisation des Lebens darum herum. Erst als sie von seiner Krebserkrankung erzählt (die sie ihm bis zu seinem Tod erfolgreich verschwiegen hat!), spürt man die Belastung, ja, auch die Trauer um diesen Menschen, der sie einen Großteil ihres Lebens begleitet hat.

Selbst ohne jegliches Interesse am Theater kann eine Leserin in diesem Buch die Geschichte einer starken Frau finden, der es in schwierigen Zeiten gelungen ist, sich selbst zu verwirklichen und gleichzeitig für ihre Familie zu sorgen. Wer sich auch noch für das Theater interessiert, findet viele interessante Details und Anekdoten, wie die Folgende über das 1924 neu eröffnete Theater in der Josefstadt:

Die Sensation bildete der große Luster aus Murano-Glas von Lobmeyer ausgeführt, der in der Höhe der ersten Galerie hängend zu Beginn des Spieles unter langsamem Verlöschen des Lichtes, sechs Meter zur Decke emporschwebt. Diesen Lüster gibt es heute noch, und es ist ein einmaliger Eindruck, wenn diese schimmernde Murano-Pracht im sich verdunkelnden Zuschauerraum in die Höhe schwebt.

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Sachbuch

Dee Joy Coulter – Original Mind

Im Jänner hatte ich irgendwie zwei Tage so viel Luft, dass ich mich mit Feuereifer auf eine neue (Schnaps-)Idee stürzen und sofort zum Recherchieren in die Bücherei laufen musste. Dass ich in den darauf folgenden Wochen dann nicht mal Zeit hatte, die ausgeliehenen Bücher überhaupt zu lesen, geschweige denn anderweitig an der Schnapsidee zu arbeiten, ist schon wieder eine andere Geschichte …

Dieses Buch hatte ich mir geholt, weil es an das Entwicklungsthema anknüpft, das mich im Rahmen eines anderen Projekts beschäftigt hat. Viele Wissenschaftler haben versucht, Stufen zu definieren, in denen die Entwicklung des Menschen abläuft. Einer der bekanntesten ist wohl Jean Piaget. Er forschte unter anderem nach den Stufen des moralischen Urteils und stellte Theorien über die Stadien der kognitiven Entwicklung auf.

Dee Joy Coulter untersucht das Thema mit einem etwas populärwissenschaftlicheren Ansatz. Sie hat Erfahrungen in unterschiedlichsten pädagogischen Bereichen gesammelt und lässt diese Erkenntnisse überblickshaft in dieses Buch einfließen. In den ersten Kapiteln geht es vorrangig um die Entwicklung der Wahrnehmung bei Säuglingen. Die Autorin gibt auch immer wieder Tipps zu Übungen, die der Leser durchführen kann, um seine eigene Wahrnehmung zum kindlichen Geist zurückzuführen.

Speziell interessant fand ich das Kapitel über die Phase des Sprechenlernens. Es gibt zwei Sprachareale im Gehirn, die das Verstehen (Wernicke-Areal) und das Selbst-Ausdrücken (Broca-Areal) steuern. Die Fähigkeit des Verstehens entwickelt sich schneller als die eigene Sprachfähigkeit. Ein dritter Sprachbereich steuert das innere Sprechen, also das Nachdenken vor dem Sprechen. Kinder, die gerade sprechen lernen, müssen neue Worte erst innerlich verarbeiten.

Wenn ein Kind neue Begriffe lernt, bewegt es sich hin und her zwischen der äußeren Welt, in der es den neuen Worten begegnet, und der inneren Welt, wo es den Worten nachspürt und sie zuordnet.

Kinder, die schon sprechen können, können teilweise Regeln verstehen und auch wiederholen, sind aber nicht in der Lage, sie einzuhalten.

Es kann für die Bezugspersonen schwer zu begreifen sein, dass diese Kinder zwar Regeln wiederholen können, ihr Gehirn jedoch noch nicht fähig ist, diese einzuhalten. … Um sich entsprechend zu verhalten, muss die innere Sprachregion erst stärker sein als die ach so verlockenden motorischen Impulse. Dazu muss das Kind erst besser sprechen lernen, und das dauert seine Zeit. Bis dahin halten sich Kinder nur aus Angst vor dem Ärger der Erwachsenen an Regeln und nicht aus eigenem Antrieb.

In einem weiteren Kapitel beschäftigt sich die Autorin mit schriftunkundigen Kulturen und den kognitiven Veränderungen, die sich ergeben, wenn Menschen erst als Erwachsene mit dem Konzept Schrift in Berührung kommen.

Die Schriftkundigen lebten jetzt in zwei Welten: der Welt der erlebten Erfahrung, der primären Realität, die sie mit der schriftunkundigen Bevölkerung gemeinsam hatten, und in der sekundären Realität des geschriebenen Wissens, welches sie aus Büchern gewonnen hatten. Ihre Kenntnis geschriebener Geschichten verwandelte auch die innere Ordnung ihrer Erinnerungen und förderte ihre Fähigkeit zum zukunftsorientierten Planen.

Es folgt in diesem Kapitel ein übersichtlicher Abriss der Entwicklungen, die der Buchdruck auslöste. Zuerst wurde die Bibel gedruckt und verbreitet, auch in andere Sprachen übersetzt und damit auch für die Bevölkerung lesbar. Die Menschen beginnen, lesen zu lernen. Der nächste Schritt im kulturellen Wandel geht dann über zum lesen, um zu lernen. Es folgt das Zeitalter der Aufklärung (ab der Mitte des 17. Jahrhunderts). Die Menschen beginnen, das Gelesene in Frage zu stellen. Durch den Buchdruck konnten Wissenschaftler ihre Ergebnisse vervielfältigen und verteilen, umfangreichere Dokumentationen wissenschaftlicher Arbeit wurden möglich.

Die Denkmuster der neu schriftkundigen Bevölkerung wurden schnell abstrakter. Die Menschen begannen, alles, was sie lasen oder dachten, mit dem Verstand zu prüfen. Die Philosophen fingen an, die religiösen Überzeugungen zu hinterfragen.

Der entscheidende Punkt dieses Kapitels ist, wie sich der Übergang von einer oralen Kultur auf eine Schriftkultur auf die Gesellschaft und die einzelnen Menschen ausgewirkt hat. Alles, was man niederschreiben kann, muss man sich nicht mehr merken. Man hat also nicht mehr den Zwang, alles exakt wiedergeben zu müssen und hat daher mehr geistige Ressourcen, um neue Ideen zu generieren. Das könnte eine Erklärung dafür sein, warum es so hilfreich ist, sich einen Plan für die Woche zu machen. Alles, was dann aufgeschrieben ist, muss man sich nicht mehr merken und kann später nachschauen und dann ist der Kopf frei für andere Ideen.

Wer sich wirklich intensiv wissenschaftlich mit Entwicklungsfragen beschäftigen will, wird Coulters Ausführungen teilweise etwas esoterisch finden. Viele ihrer Anleitungen für die Erweiterung des Geistes haben auch mich kopfschüttelnd zurückgelassen. Es gelingt ihr jedoch, eine Brücke zu schlagen und die wissenschaftlichen Fakten übersichtlich zu präsentieren und mit der Lebensrealität des Lesers zu verknüpfen.

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Roman

Markus Zusak – I am the messenger

Usually we walk around constantly believing ourselves. ‘I’m ok,’ we say. ‘I’m all right.’ But sometimes the truth arrives on you, and you can’t get it off. That’s when you realize that sometimes it isn’t even an answer – it’s a question. Even now, I wonder how much of my life is convinced.

Es gibt Geschichten, die kann man einfach nicht ansatzweise wiedergeben, weil man ohne zu spoilern das Feeling nicht einfangen kann. Das ist definitiv so eine Geschichte. Es ist unmöglich, den Protagonisten Ed und seine Veränderung im Rahmen der Geschichte zu beschreiben, ohne zu viel zu verraten. Eine großartig erzählte Geschichte. Es gibt kaum eine Wendung, die der Leser kommen sehen kann, jede Seite hält eine neue Überraschung bereit, mit der unmöglich zu rechnen war.

Zu behaupten, das Buch wäre selbst eine Nachricht (message) wäre zu plakativ und würde der Geschichte nicht gerecht. Leseempfehlung.

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Jugend Roman

Carlos Ruiz Zafón – Der Mitternachtspalast

Die Erfahrung hatte sie gelehrt, dass die Zukunft ihr unerträglich viel Zeit geben würde, die Fehler der Vergangenheit zu bereuen.

Dieses Buch steht seit über zwei Jahren bei mir im Regal (damals hatte ich mir tatsächlich eine Kaufnotiz per Post-It ins Buch geklebt, eine Angewohnheit, die sich nicht lange gehalten hat). Zur Ablenkung brauchte ich eine Geschichte, die unterhält, ohne zu viel Hirnkapazität zu erfordern und Carlos Ruiz Zafon erschien mir hier als passend. Erst während des Lesens hatte ich mich daran erinnert, dass das letzte Buch, das ich von ihm gelesen hatte (Der dunkle Wächter), mich nicht sonderlich begeistert hatte.

Auch bei diesem Buch handelt es sich um einen klassischen Schauerroman. Es beginnt als Krimi, stellt sich jedoch bald als Gruselgeschichte heraus. Gleich mehrere Versionen hat sich der Autor für die Vorgeschichte der Protagonisten Ben und Sheere einfallen lassen, die von den beiden und ihren Freunden im Verlauf des Buches aufgedeckt werden. Unerwartete Wendungen, spannende Szenen in einem verfallenen Bahnhofsgebäude und ein Phantom, das direkt aus den Katakomben der Oper entfleucht sein könnte, garantieren eine hohe Verfilmbarkeit des Materials. (Während ich nach einer potentiellen Verfilmung im Internet suche, stelle ich fest, dass es sich dabei wohl um den zweiten Teil der Nebel-Trilogie handelt, dessen dritten Teil ich bereits gelesen habe. Die Trilogie scheint jedoch keine direkten Verknüpfungen untereinander zu haben.)

Wer sich an der Existenz von Geistern und deren Rachegelüsten nicht stört (oder sich vielleicht sogar daran erfreut), kann mit diesem Buch ein paar unterhaltsame Stunden verleben. Nicht mehr und nicht weniger.