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Roman

Fabio Volo – Einfach losfahren

Eibe Macro made with Cam+ & Olloclip

Etwas Außergewöhnliches, das befreit werden musste. Ich, der im Käfig Gefangene, wollte hingehen und die Leute befreien. Vielleicht war es ein Automatismus. Da ich mich nicht selbst befreien konnte, versuchte ich die anderen zu befreien, nur dass mir das geeignete Handwerkszeug dazu fehlte.

In diesem Roman beschreibt Fabio Volo den Entwicklungsprozess eines jungen Mannes, der seinen Platz im Leben sucht. Scheinbar leichtfüßig hüpft er zuerst wie ein Grashüpfer durchs Leben. Erst durch den Tod seines Freundes Federico, der sein Leben auf den Kopf gestellt und auf Reisen das Glück gefunden hatte, wacht Michele auf und entdeckt die Leere in seinem Leben.

In dieser Zeit war ich Rassist, ich hasste alle, denen es schlechthin. Nur mein Leid war echt und real, glaubte ich, während Leute mit Liebeskummer zum Beispiel nicht das Recht hatten, auch nur den dicken Zeh ins große schwarze Meer des Schmerzes zu tauchen.

Aus den Trümmern seines bisherigen Lebens bricht Michele nun aus, um die Frau kennenzulernen, die Federiges Leben verändert hat. Mehrere Monate hilft er Sophie beim Aufbau ihrer Posada und lernt dadurch ein anderes Leben kennen. Einfache Arbeit, einfaches Leben, Glück in der Natur finden, Gemeinschaft und schließlich Zufriedenheit mit sich selbst. Dabei geht Michele durch unterschiedlichste Phasen der Trauer um Federico, des Zweifelns an den eigenen Werten und an seinen Beziehungen. Einziger Wermutstropfen aus meiner Sicht ist die beinahe zu perfekte Beziehung, die Michele schließlich mit Francesca findet. In meinen Augen kann niemand ständig so ausgeglichen sein und niemals an seinem Leben oder seiner Liebe zweifeln. Aber lassen wir das Happy End einfach mal so stehen und nehmen wir mit, was uns auf unserem eigenen Weg helfen kann: Manchmal muss man aussteigen, um den Durchblick zu bekommen.

If you don’t know where you are going, any road will take you there.

Lewis Carroll (Alice’s Adventures in Wonderland)

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Roman

Jonathan Tropper – Mein fast perfektes Leben

Radieschen

Ich benenne sie nach ihren Artgenossen aus irgendwelchen Kinderbüchern. Anschließend tue ich alles in meiner Macht Stehende, um ihnen den Schädel einzuwerfen, denn sie führen mir vor Augen, wo ich selbst gerade bin: gestrandet in diesem Leben, das ich niemals geplant hatte.

Wir steigen an einem dunklen Punkt in Dougs Leben ein. Seine Frau Hailey ist bei einem Flugzeugabsturz umgekommen. Doug trauert. Er wirft mit Steinen nach frei laufenden Kaninchen, muss sich mit Haileys pubertierendem Sohn Russ herumschlagen und sich den Hilfsversuchen seiner Familie widersetzen. Zu viel für einen einsamen Witwer?

„Du hast deine Frau verloren, Douglas, und es bricht mir das Herz, mit ansehen zu müssen, wie schlecht es dir geht. Aber ich verliere meinen Mann jeden Tag aufs Neue. Und ich kann noch nicht einmal um ihn trauern.“

Wir verfolgen, wie Doug Schritt für Schritt ins Leben zurückfinden muss. Seine Familienverhältnisse explodieren und lassen nicht mehr zu, dass sich Doug mit seiner Trauer allein in seinem Haus verkriecht. Er übernimmt die Verantwortung für Russ, als dessen Vater mit seiner neuen Frau nach Florida zieht. Seine Schwester Claire verkracht sich mit ihrem Mann Stephen und zieht bei Doug ein. Und schließlich muss er auch einsehen, das seine Mutter mit seinem demenzkranken Vater Tag für Tag leidet. Letztlich geht es um die Akzeptanz der eigenen Gefühle und Gedanken. Denn Doug fühlt sich auch noch schuldig, wenn er langsam wieder ins Leben zurückfindet.

Mein ganzes Leben wird richtig toll, und das alles nur, weil Hailey bei einem Flugzeugabsturz gestorben ist. Ich weiß nicht genau, wann es passieren wird, aber irgendwann wird der Tag kommen, an dem ich die Grenze überschreite. … Der Gedanke, dass ich dieser Mensch werden könnte, der die Zeit nicht zurückdrehen will, selbst wenn er sie dadurch retten könnte …

Das alles beschreibt Jonathan Tropfer mit beißendem Humor und ausreichend Sarkasmus, sodass aus der Trauergeschichte in Züruck ins Leben wird und man die Veränderung in Dougs Verhalten nicht nur liest, sondern sogar spürt. Und dann auch noch eine grandios verschriftlichte Datingkatastrophe, wie man sie sich nicht mal in den schlimmsten RomComs vorstellt … alle Facetten des Lebens und der menschlichen Gefühle spiegeln sich in diesem Roman und seinen detailliert gezeichneten Figuren wieder. Es gibt keine Statisten, selbst der gehörnte Ehemann Dave Potter erhält seinen großen Auftritt. Wie das Leben selbst.

„So ist das Leben nun mal. Es gibt keine Happy Ends, nur glückliche Tage, glückliche Momente. Das einzige Ende ist der Tod, und glaub mir, niemand stirbt glücklich. Solange man noch nicht sterben muss, zahlt man dafür eben den Preis, dass sich alles ständig ändert. Das Einzige, worauf man sich verlassen kann, ist die Tatsache, dass man sich auf nichts verlassen kann.“

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Roman

José Saramago – Alle Namen

Enten in Kaisermühlen

Der Grund ist sehr einfach, ich habe niemanden, mit dem ich sprechen kann. Sr. José betrachtete die Frau, sie betrachtete ihn, es lohnt nicht, Wörter zu verschwenden und den Ausdruck zu beschreiben, der in ihrer beider Augen lag, wichtig ist nur, dass er nach einer Weile des Schweigens sagen konnte, Ich auch nicht.

Wie dieses Buch auf meine Leseliste kam, weiß ich nicht mehr, solang stand es schon drauf. Die Schreibweise Saramagos macht dieses Buch anfangs etwas schwer zu lesen. Er benutzt wenig Satzzeichen, lange Sätze und trennt oft selbst in Dialogen die Aussagen zweier Personen nur durch Beistriche und Großbuchstaben. So muss man auch mal zurücklesen, ob man nun noch die richtige Personenverteilung im Dialog hat oder möglicherweise einen Wechsel verpasst hat. Die überlangen Sätze und fehlenden Absätze machen ein Pausieren zwischendurch außerdem schwer. Doch mit zunehmendem Eintauchen in die Geschichte wird der Schreibstil scheinbar zwingend, es gibt kaum eine Atempause in Senior Josés Suche nach der geheimnisvollen Frau.

Der arme Mann warf sich aufs Bett und fragte sich selbst, warum er nicht das tat, was der Apotheker ihm mit kaum verhohlenem Sarkasmus geraten hatte, Ich an Ihrer Stelle hätte das Problem längst gelöst, Wie, hatte Sr. José gefragt, Indem ich im Telefonbuch nachschlage, in diesen modernen Zeiten ist das der einfachste Weg, jemanden zu finden, Vielen Dank für diesen Vorschlag, …

Durch Zufall stößt Senior José auf die Karteikarte der unbekannten Frau. Dem Leser bleibt sie tatsächlich unbekannt, ihr Name wird nie genannt, auch ihre Geschichte wird nur bruchstückhaft enthüllt. So könnte man schnell entdecken, dass es um sie gar nicht geht, dass Senior José sie schließlich findet, wenn auch nicht so, wie er es sich zuerst vorgestellt hat, zerstört die Entwicklung nicht, es erscheint eine logische Folge. Denn in Wirklichkeit geht es um Senior José, seine Kontakte zur Außenwelt, die Überwindung seiner selbst, die er auf der Suche nach der unbekannten Frau Stunde um Stunde leistet. Einbruch in eine Schule, Übernachten auf dem Friedhof, Erkennen, dass seine Suche erfolgreich und doch erfolglos bleibt.

…, Es sind Millionen, murmelte er, dann denkt er an die riesige Menge Platz, die man hätte sparen können, wenn die Toten im Stehen begraben worden wären, Seite an Seite, dicht beieinander, wie ein Herr in Habachtstellung, und jeder hätte als einziges Zeichen seiner Anwesenheit dort einen Steinwürfel auf dem Kopf, auf dessen fünf sichtbaren Seiten die wichtigsten Daten aus dem Leben des Verstorbenen eingemeißelt wären, fünf Steinquadrate wie fünf Seiten, Resümee eines ganzen Buches, das nicht hatte geschrieben werden können.

Letztendlich bleibt es beim Fund der Aufgabe von Senior José: die Toten ins Leben zurückholen. Und auch das geschieht auf andere Art, als Senior José oder der Leser es sich vorher vorzustellen vermag. Inspiriert.

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Sachbuch

Klaus Raab – Wir sind online – wo seid ihr?

Tautropfen made with Olloclip and CAM+

Eines haben wir eben doch ganz unzweifelhaft gemeinsam, egal ob wir 16 oder 32 sind: dass wir zu Beginn des digitalen Zeitalters groß geworden sind und die neuen Möglichkeiten selbstverständlich zu nutzen verstehen, ohne zwangsläufig alle wahnsinnig technikaffin und immer nur erreichbar zu sein. Und dass die fortschreitende Digitalisierung für uns gleiche Bedingungen schafft, unter denen wir die Gesellschaft, in der wir leben wollen, organisieren.

Noch ein Manifest aus der und für die Netzgemeinde. Mit den aus Christian Stöckers Nerd Attack bekannten Elementen, die dann zumeist zu einer Rechtfertigung irgendeines Teils der so genannten Netzkultur führen:

– Verherrlichung der guten alten Zeit, als nicht jeder Trottel einen Computer hatte:

Man konnte Mixtapes lesen wir persönliche Briefe. Sie kündeten vom Suchen und Finden der Freundschaft und manchmal auch der Liebe. Wer Musik kopiert, hat demnach Freunde und geht früher oder später eine Bindung ein, aus der irgendwann einmal Kinder hervorgehen, die dann auch Musik kaufen

– Rechtfertigung oder zumindest Erklärungsversuch, warum die Netzgemeinde von Männern dominiert wird:

Ob Lillifee und Hartplastikmachos der Grund dafür sind, dass Frauen später geschlossen in der Küche stehen und Männer in den Krieg ziehen wollen – ich weiß nicht so recht. Vielleicht wird da der Einfluss des Rests der Gesellschaft etwas unterschätzt.

– Anglizismen und das Treiben von Schindluder mit der deutschen Sprache:

Es gibt allerdings Bedeutungsunterschiede zwischen den Anglizismen und den vermeintlichen restdeutschen Synonymen, weshalb man nun einmal sagen kann, dass „Fun“ und „Womanizer“ das deutsche nicht zurückdrängen, sondern reicher machen: Es bereitet Vergnügen, an einem lauen Sommerabend auf dem mit edlem Efeu gezierten Balkon zu sitzen, eine Schale schmackhafter gebratener Auberginen vor sich, und sich an Schopenhauers Wutreden zu laben. Fun ist es dagegen, RTL2 zu sehen. Und George Clooney ist ein Womanizer. Schürzenjäger treten bei Hansi Hinterster auf.

Offen bleibt die Frage, für wen diese Bücher eigentlich geschrieben werden. Braucht die Netzgemeinde diese Rückblicke und Analysen ihrer eigenen Geschichte und ihres eigenen Lebens. Will man den „Offline“ das Internet mittels eines Buches erklären? Das erinnert an „Internet for Dummies“ … Die heutige Jugend rebelliert nicht mehr? Kann man die Jugend nicht Jugend sein lassen … andererseits dürfte die Jugend sich für derartige Schreibwerke ohnehin nicht interessieren. Entbehrlich.

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Roman

Alex Capus – Léon und Louise

Melly in der Lammach

Ich liebe Dich und bin in großer Sorge um Dich, mein Léon, das habe ich noch gar nicht gesagt; hoffentlich, hoffentlich tun Dir die Nazis nichts an. Pass auf Dich und die Deinen auf und halt Dich von allen Gefahren fern, sei vorsichtig und so glücklich als möglich, spiel nicht den Helden und bleib gesund und vergiss mich nicht!

Eine Liebesgeschichte zu Zeiten des zweiten Weltkriegs. Erst kürzlich auf meiner Liste gelandet, das Taschenbuch ist gerade erschienen, ich habe stattdessen das Kindle-Buch gekauft. Beim Lesen fiel mir zum ersten Mal eine überraschende Häufung von Weltkriegsgeschichten auf. Nur in meiner Lesewelt oder zeichnet sich da ein allgemeiner Trend ab? Die meisten meiner Bücher sind ja nicht frisch erschienen, also vielleicht doch eine unbewusste Wahl …

Dieser schlingende, grunzende Moloch musste die ganze Zeit in der strengen Wärterin gewartet haben, die Yvonne während der Kriegsjahre gewesen war; diese Wächterin wiederum hatte zuvor in der lasziven Diva gesteckt, jene in der zerquälten Ehefrau und diese schließlich in der koketten Braut; Léon fragte sich, mit welchen Metamorphosen ihn diese Frau in Zukunft noch überraschen würde.

Zwei Frauen gibt es in Léons Leben. Louise hat er bereits als junger Mann kennengelernt, doch gerade als die beiden sich näherkommen, werden sie durch den Krieg auseinandergerissen. Jeder hält den anderen für tot, falsche Auskünfte machen jede Hoffnung zunichte. Erst Jahre später laufen sie sich in Paris zufällig über den Weg und sind beide überrascht, den anderen am Leben zu finden. Doch Léon ist inzwischen verheiratet mit Yvonne, einer starken Frau, die er auf eine andere Art liebt. Das Leben reißt Léon und Louise auseinander und führt sie doch wieder zusammen, auch wenn sie nicht zusammen leben können. Eine Geschichte über eine Liebe, die Jahre, Kriege und Einsamkeit überdauert. Eine Geschichte, die Hoffnung macht.