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Bildband Sachbuch

Rainer Metzger (Hg.) – Wien um 1900

CN: Suizid Erwähnung (nur im Buch)


Aus Recherchegründen (mein Hinterkopf bastelt weiter an einem Geocache-Rätsel, das ich gern schon längst fertig hätte) hatte ich mir gleich drei Bücher zum Thema Jugendstil aus der Bücherei geholt, die dann ewig als Stapel auf meinem Kreativtisch herumgelegen sind. Immerhin dieses eine habe ich jetzt noch gelesen, bevor die Frist der Verlängerungen endgültig abläuft.

Das Wien um 1900 findet vielfach statt in einer solchen Interferenz von Zeitschichten, in denen die verschiedenen Epochen geradezu sedimentiert scheinen.

Genau kann ich noch nicht festlegen, warum mich gerade diese Epoche so interessiert, aber ein paar Hinweise haben sich inzwischen angehäuft:

  • Bestätigen konnte ich hier wiederum, dass mir die Kunst der damaligen Zeit einfach optisch gefällt. Otto Wagners Kirche am Steinhof ist eine Pracht, daran erinnerte ich mich erst kürzlich wieder, weil mein lieber Freund M. nun in Hietzing wohnt und von seinem Balkon im dritten Stock tatsächlich die Kuppel der Kirche sehen kann.

Ihre Reform1 sollte nicht nur eine dringend nötige Erneuerung des Kunstbegriffs in die Wege leiten, sondern die Einheit von Kunst und Leben an sich.

  • Die Einheit von Kunst und Leben an sich. Für die Künstler der Wiener Secession (ja, damals leider nur Männer) war es wichtig, dass sich die Künste zu einem Gesamtbild vereinten. Auf die gewünschte Erneuerung des Kunstbegriffs verweist auch der Titel der Zeitschrift Ver Sacrum (Heiliger Frühling), die von der Wiener Secession herausgegeben wurde. Malerei, Architektur und Plastik sollten als Gesamtkunstwerk zusammenarbeiten.

„Wir kennen keine Unterscheidung zwischen ‘hoher Kunst’ und ‘Kleinkunst’, zwischen Kunst für die Reichen und Kunst für die Armen. Kunst ist Allgemeingut“, ist im Editorial der ersten Ausgabe von Ver Sacrum zu lesen, […].

  • Eine Demokratisierung der Kunst zeichnete sich ab. Was zuvor dem Adel vorbehalten war, wurde nun auch dem Bürgertum zugänglich.
  • Nicht zuletzt habe ich gelernt, das die Begrifflichkeit der „fröhlichen Apokalypse“ aus dem Buch Hofmannsthal und seine Zeit stammt, das Hermann Broch (1886–1951) verfasste. Es beschreibt die Weltuntergangsstimmung des Liberalismus und der Moderne, die dann in weiterer Folge in den ersten Weltkrieg führte. Ich kannte den Begriff als Titel aus dem Musical Elisabeth, in dem eine frühere Epoche abgehandelt wird. Dabei sitzen Männer im Kaffeehaus, lesen aus der Zeitung vor und langweilen sich. Auf der Bühne wurde das damals dynamisch dargestellt: die Kaffeehaustische befanden sich in Autodrom-Wagen, es sah aus, als würden die Darsteller diese Wägelchen durch Drehen an den Tischen lenken. Bei jüngerem Publikum (Theater der Jugend-Abo) rief das reproduzierbar Erheiterung hervor.
  • Eine interessante Herleitung fand ich am Ende des Essays Böser Dinge hübsche Formel von Herausgeber Rainer Metzger. Er beschreibt die Sehnsucht der Secessionszeit nach dem Gesamtkunstwerk, das aber trotzdem noch individualistische Züge haben durfte. Nach dem 1. Weltkrieg folgte die Zeit der Masse, es entsteht ein kollektiver Wille, wie Sigmund Freud diagnostiziert:

Es ist die Masse. Damit sie funktioniert, sagt Freud, muss an eine Instanz delegiert werden, durch die eine Art kollektiver Wille entsteht. Die Masse wird das Schlüsselwort, das Schlüsselphänomen für die kommende Epoche. Derjenige, der den kollektiven Willen auf eine Weise in seine Bahnen lenken wird, die bis dahin unvorstellbar war, ist seinerseits ein Produkt des Wien um 1900.

Mit dieser Epoche bin ich noch nicht fertig. Ich habe den Bildband über Antoni Gaudí neben mir liegen, der mich schon seit Jahrzehnten begleitet. Gerade erst habe ich auf LitHub einen Artikel über Ernst Haeckel und seine Kunstformen der Natur gelesen, die vielen Künstler:innen als Inspiration dienten. Bin gespannt, was ich demnächst alles aus der Bücherei nach Hause trage (und hoffe, dass ich diesmal auch mehr davon lesen werde).

  1. Anm.: Gemeint ist die von der Wiener Secession durch deren Gründung vorgenommene Reform. Die beteiligten Künstler spalteten sich von ihrer Standesvertretung ab und gründeten ihre eigene Vereinigung Bildender Künstler Österreichs. ↩︎
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English Krimi Roman

Louise Penny – The Long Way Home

CN dieses Buch: Gewalt, Tod, Mord, Sterben
CN dieser Post: –


This new Peter was willing to try. Willing to fail.

Nachdem der vorhergehende Band mit einem ziemlichen Knalleffekt, gefolgt von einer Art Epilog geendet hat, wäre fast ein Ende der Serie zu befürchten gewesen. Zum Glück wusste ich bereits, dass es noch einige weitere Bücher aus der Reihe gibt.

Im Rahmen ihrer Trennung hatten Clara und Peter Morrow vereinbart, sich nach einem Jahr in ihrem früheren gemeinsamen Zuhause wieder zu treffen und zu sehen, wie sich ihre Leben getrennt voneinander entwickelt haben. Und ob sie wieder zusammen leben wollen. Als Peter zu diesem Treffen nicht erscheint, wälzt Clara Zweifel, die sie jedoch schließlich auf die Suche nach der Antwort treiben. Eine künstlerische Spurensuche beginnt, die die Perspektive der Suchenden immer wieder in Frage stellt.

In diesem Band liegt der Fokus eindeutig auf der Frage nach dem künstlerischen Wert von Schöpfungen; der Entwicklung, die Künstler:innen durchmachen; auf den Fragen und Zweifeln, die eine künstlerische Laufbahn prägen. Viel Interpretation, viel Umdenken, viel Hinterfragen sind nötig, um Peters Weg nachzuvollziehen und der Lösung des Rätsels auf die Spur zu kommen. Und auch diese Reise endet mit einem Überraschungseffekt.

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English Krimi Roman

Louise Penny – The Cruelest Month

CN dieses Buch: Krankheit, Sterben, Tod, Mord
CN dieser Post: Mord


Gamache knew people were like homes. Some were cheerful and bright, some gloomy. Some could look good on the outside but feel wretched on the interior. And some of the least attractive homes, from the outside, were kindly and warm inside.
He also knew the first few rooms were for public consumption. It was only in going deeper that he’d find the reality. And finally, inevitably, there was the last room, the one we keep locked, and bolted and barred, even from ourselves. Especially from ourselves.

Der dritte Kriminalroman im beschaulichen Städtchen Three Pines zählt zu seinen wichtigsten Protagonist*innen unter anderem das Haus, das bereits in den ersten beiden Geschichten eine wichtige Rolle spielte. Daher war es mir wichtig, die Hausmetapher aus dem obigen Zitat zu notieren. Die Suche nach der Person, die für den Mord verantwortlich ist, erfordert diesmal ein Eindringen in diese persönlichen Räume, die wir vor allen anderen und oft auch vor uns selbst verstecken.

Eine zweite längere Notiz habe ich gemacht über ein Gespräch das Inspektor Gamache mit der Buchhändlerin und früheren Psychologin Myrna führt. Sie erklärt ihm dabei das Konzept des near enemy (deutsch: naher Feind). Damit sind Begrifflichkeiten gemeint, die sich zwar in Aspekten nahe stehen, aber doch grundlegend verschieden sind. Es geht dabei aber eben nicht um Gegensätze wie hell und dunkel oder laut und leise. Sondern um Begrifflichkeiten aus dem emotionalen Bereich, die im Verhalten der Menschen auch ähnlich aussehen können, aber eben unterschiedliche Auswirkungen haben. Es sollte aus den drei Bespielen, die Myrna gibt, klarer werden:

  • Pity / Compassion: Mit dem englischen Begriff Compassion habe ich immer noch meine Schwierigkeiten, weil mir dafür kein passendes deutsches Wort einfällt. Am ehesten lässt sich diese Unterscheidung vermutlich mit den deutschen Begriffen Mitleid und Mitgefühl verdeutlichen. Wer Mitgefühl empfindet für eine andere Person, für den steht diese Person auf derselben Stufe, wir fühlen uns ihr ebenbürtig. Mitleid hingegen empfinden wir für Menschen, die wir als unter uns stehend betrachten. Wir halten uns für besser.
  • Attachment / Love: Hier erzählt Myrna als klassisches Beispiel von elterlicher Liebe. Eltern wollen ihre Kinder darauf vorbereiten, dass sie allein in der Welt klar kommen und das Beste aus ihrem Leben machen können. Das Gegenbeispiel sind Eltern, die an ihren Kindern hängen, die versuchen, ihre Kinder an sich zu binden, anstatt ihnen die Freiheit zu geben, für sich selbst zu entscheiden.
  • Indifference / Equanimity: Equanimity scheint auch ein Begriff zu sein, für den es keine eindeutige deutsche Übersetzung gibt. Während sich Indifference in meinen Augen ziemlich mit dem deutschen Begriff Gleichgültigkeit deckt, zeigt mir das Wörterbuch für Equanimity die Begriffe Gleichmut oder Gelassenheit, die zu Myrnas Erklärung im Buch nicht recht passen wollen. Ihre Argumentation beruht darauf, dass es Menschen gibt, die selbst die schwersten Schicksalsschläge überwinden. Sie sind nicht gleichgültig, aber sie haben einen inneren Kern, an dem sie sich festhalten können und der sie weitermachen lässt. Es ist keine Gleichgültigkeit gegenüber dem Leben oder den Ereignissen, die ihnen diese Kraft gibt, sondern eine Art Glaube an die Zukunft.

Es ist eine sehr spezielle Art von Krimi, die die Autorin ins Leben gerufen hat. Mir gefällt das gerade sehr gut.

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English Krimi Roman

Louise Penny – Still Life

CN dieses Buch: Mord
CN dieser Post: Mord


When the prayer stick got back to Myrna she offered it to the Golden Retriever. For the first time in a week, since Jane had died, Clara saw Lucy’s tail wag. Once. She gently took the stick in her teeth. And held it there. Her tail gave another tentative wag.

Die Aussicht auf eine Reihe von aktuell 17 Büchern hat mich zu dem Zeitpunkt irgendwie gerade angesprochen. Bekannte Charaktere für eine längere Zeit lang um sich zu haben, hat definitiv etwas für sich. Und was für Charaktere die Autorin hier erschaffen hat … sowohl das Team der Kriminalist*innen, als auch jede*r einzelne Dorfbewohner*in wird als Persönlichkeit mit Stärken und Schwächen, Träumen und Ängsten gezeigt. Für den zweiten Teil stehe ich auf der Warteliste.

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Roman

Nina George – Die Mondspielerin

Sunflower made with Cam+

Komm runter vom Jammerkreuz, wir brauchen das Holz.

Marianne hat genug vom Leben. Sinnlos erscheint ihr ihre trostlose Existenz unter der Fuchtel ihres Mannes Lothar, der ihr keine Luft zum Atmen lässt. Ihr Selbstmordversuch durch einen Sprung in die Seine schlägt fehl. Trotzdem kann sie nicht in ihr altes Leben zurück. Mit einer gemalten Fliese macht sie sich auf den Weg nach Kerdruc in der Bretagne, um das Meer zu sehen und sich anschließend darin zu ertränken.

Marianne spürte plötzlich eine unendliche Furcht, vorzeitig zu sterben. Nicht satt zu werden, bevor ihr letzter Tag gekommen war. Satt vom Leben bis obenhin und über den Rand hinaus. Nie hatte sie so einen Hunger nach Leben verspürt: Ihr Herz drohte zu zerbersten vor Qual, zu viel versäumt zu haben.

Doch Kerdruc und das Meer verzaubern Marianne. Obwohl sie kein Wort Französisch oder Bretonisch spricht, stolpert sie in die Küche eines Restaurants und wird dort vom Fleck weg als Küchenhilfe engagiert. Sie lernt Menschen kennen, mit denen sie sich nur schwer verständigen kann und wird doch von allen freundlich aufgenommen. Und lernt ein neues Leben kennen. Ein Leben, das mit jedem Tag lebenswerter erscheint. Von Seite zu Seite scheint in Kerdruc die Sonne, und schließlich lernt Marianne auch den Maler der Fliese kennen und lieben. Aber nicht nur Marianne findet eine neue Liebe, auch andere Personen in Kerdruc lernen durch Mariannes Beispiel, das man sein Leben nicht vergeuden und seine Liebe niemals geheimhalten sollte.

Als er seine Geliebte beobachtete, erneuerte er ein Versprechen mit sich, das er lange vergessen hatte: nichts Triviales mehr. Alles sollte auf der Höhe der Leidenschaft, des Lebens sein; wer etwas Höheres nach dem Leben erwartete, der vergaß, dass das Leben bereits das Höchste ist. Yann hatte es vergessen, und er wollte wieder mit aller Kraft und ohne Scheu leben. Lieben. Malen. Lieben. Nichts Triviales mehr, das sein Blut ermüdete und seine Seele beleidigte.

Natürlich kommt es schließlich zum Showdown mit Mariannes Mann Lothar, der ihr nach Kerdruc folgt und sie zurückholen will. Niemand kann sein Leben einfach verlassen ohne jemanden oder etwas zurückzulassen. Aber die wesentlich wichtigere Botschaft bleibt unmissverständlich: Es ist nie zu spät, dein Leben zu ändern.

Man kann der Liebe nicht sagen: Komm, und bleib für immer. Man kann sie nur begrüßen, wenn sie kommt, wie der Sommer, wie der Herbst, und wenn die Zeit um ist und sie geht, dann geht sie.