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(Gefahr der Ansteckung mit Reisefieber ;-)
Im Ringturm in Wien war bis vor Kurzem eine Architekturausstellung zum Thema Bahnhöfe zu sehen. Anlass war die Eröffnung der ersten Eisenbahnlinie in England, die vor „ziemlich genau 200 Jahren“ (lt. Klappentext) stattfand (und damit das „Geburtsjahr“ mit dem sponsornden Versicherungsunternehmen teilt). Zur Ausstellung gibt es einen Katalog in Buchform, ich wollte alles nochmal genau nachlesen und konnte nicht widerstehen …
Das Buch zeigt dem Untertitel gemäß „Stationen in Europa“. Ein großer Schwerpunkt widmet sich etwa der Metropole Paris, die gleich mit sechs Bahnhöfen vertreten ist (von denen einer heute als Museum genutzt wird – das Musée d’Orsay). Den Weg zwischen den nahegelegenen Bahnhöfen Gare du Nord (hier fahren etwa die Eurostar-Züge Richtung Norden ab) und Gare de l’Est (wo unter anderem die Nachtzüge von und nach Wien ankommen und abfahren) habe ich selbst schon mehr als einmal zurückgelegt.
Aber nicht nur die Pariser Bahnhöfe haben in mir Erinnerungen geweckt. Ich war beim Besuch der Ausstellung überrascht, dass ich einige der erwähnten Bahnhöfe quer durch Europa sofort zuordnen konnte.
Ein Fokus der Ausstellung (und des Buchs) liegt auf den Bahnhöfen der ehemaligen Donaumonarchie. Es ist auch eine große Übersichtskarte über „Österreich-Ungarn’s Eisenbahnen“ zu sehen. Die Karte stammt aus dem Jahr 1910 und war damals bereits in der 79. Auflage erschienen.
Spannend fand ich die verschiedenen „Bauformen“, die für die porträtierten Bahnhöfe angegeben wurden. Leider ist die Klassifikation nicht ordentlich abgerenzt. Wikipedia unterscheidet Bahnhöfe nach verschiedenen Kriterien, die im Buch unter dem Überbegriff „Bauform“ miteinander vermischt werden. Die Unterscheidung nach Grundrissform ist vermutlich vielen Leser:innen bekannt:
- Kopfbahnhof (alle hereinführenden Gleise enden im Bahnhof, die Züge können nur mit einem Fahrtrichtungswechsel den Bahnhof wieder verlassen)
- Durchgangsbahnhof (die Hauptgleise verlaufen durch den Bahnhof, der Bahnhof kann von beiden Seiten angefahren und wieder verlassen werden)
Im Buch werden unter dem Label „Bauform“ noch folgende andere Begrifflichkeiten verwendet:
- Trennungsbahnhof: Lt. Wikipedia zweigen hier eine oder mehrere Eisenbahnstrecken von einer durchgehenden Strecke ab. Im Buch kommt die Bezeichnung beim Bahnhof Zagreb Glavni Kolodvor vor. Für mich ergibt die Beschreibung Knotenbahnhof eher Sinn, von der Grundrissform her müsste es dann eigentlich ein Durchgangsbahnhof sein, das ist aber hier nicht vermerkt.
- Ein Tunnelbahnhof/Tiefbahnhof (Bahnhof unter dem Normalniveau der Umgebung, oft in Kombination mit U- oder S-Bahnen) wird bei Wikipedia als besondere Bauform angegeben. Das Buch bezeichnet den Gare de l’Aeroport Charles de Gaulle 2 TGV als Tunnelbahnhof, der noch im Bau befindliche Bahnhof Stuttgart 21 wird als Tiefbahnhof angegeben. Wikipedia fasst diese beiden Begriffe zusammen.
- Für den Bahnhof Firenze Santa Maria Novella (Florenz) wird als Bauform „Aufnahmegebäude“ angegeben, das findet sich sonst nicht im Buch und sagt auch nichts über die Lage der Gleise aus. Lt. Wikipedia handelt es sich um einen Kopfbahnhof.
- Für den Bahnhof Pilsen wird als Bauform „Mittelbahnhof“ genannt. Das ist keine verbreitete Form, ergibt aber Sinn, da hier das Hauptgebäude zwischen den Gleisen gelegen ist:
Durch die Weitung der Gleisanlagen kommt es gleichsam zu einer Insel, in deren Mitte das Bahnhofsgebäude steht.
Leider sind die Ungenauigkeiten bei den Klassifikationen nicht der einzige Kritikpunkt. Die Bilder sind im Buch durchgehend zu dunkel abgedruckt (in der Fachsprache: die Bilder saufen ab). Auf nahezu allen Bildern, wo Bahnhöfe von innen zu sehen sind, sind auch bei genauerem Hinsehen keine Details zu erkennen.
Auf der positiven Seite möchte ich die schöne Gestaltung des Umschlags erwähnen, der Titel ist in Goldschrift aufgeprägt, darunter ist die schematische Ansicht einer Bahnhofshalle in dunkler Farbe auf dem anthrazitfarbenen Buchdeckel aufgeprägt. Die unterschiedlichen Materialien geben dem Buch ein sehr wertiges Gefühl.
In den Texten, die hauptsächlich sachlich die architektonischen Highlights oder die historischen Hintergründe der Bahnhöfe erläutern, verstecken sich hier und da augenzwinkernde Bemerkungen wie diese zu fehlenden Einkaufsmöglichkeiten im Bahnhof Ostrava-Vitkovice:
Entsprechend des in den damaligen kommunistischen Ländern gültigen Wirtschaftskonzeptes der 5-Jahrespläne, die privatem Konsum keinen Stellenwert einräumten, waren auch keine Geschäftsflächen vorgesehen, was eine Nüchternheit erzeugte, nach der man sich heute vielerorts sehnt.
Zum Abschluss habe ich auch noch einige architektonische Fachbegriffe mitgenommen:
- Esplanade kommt aus dem Französischen und bedeutet ursprünglich eine eingeebnete, als Schussfeld dienende freie Fläche vor einer Zitadelle. […] Esplanade nennt man auch allgemein Plätze und Promenaden vor einem größeren öffentlichen Gebäude (Wikipedia).
- Das Wort Estakade bezeichnet eine Rohr- oder Gerüstbrücke, aber auch ein Pfahlwerk zur Sperrung von Flusseingängen oder Häfen. („Estakade“, bereitgestellt durch das Digitale Wörterbuch der deutschen Sprache, abgerufen am 02.12.2024.)
- Der Risalit ist in der historischen Architektur ein vor die Flucht des Hauptbaukörpers über alle Stockwerke hinweg vorspringender Bauteil, der auch höher sein kann und oft ein eigenes Dach hat. (Wikipedia)
- Polonceau-Träger benannt nach dem französischen Eisenbahningenieur Jean-Barthélémy Camille Polonceau. Es handelt sich um „doppelte Streben, die wie ein umgedrehtes V angeordnet sind“ und als „tragendes Element zum Beispiel für Decken- oder Dachkonstruktionen“ genutzt werden.
Da die Ausstellung neben den Tafeln mit den Informationen zu den Bahnhöfen nur wenige Elemente (Schaukästen mit Büchern und Ansichtskarten, einen kurzen Film zu Stuttgart 21) enthielt, stellt das Buch eine ausführliche Dokumentation der Ausstellung dar. Ich fand darin außerdem reichlich Inspiration für zukünftige Reisepläne!