CN: Es werden rassistische, antifeministische und homophobe Einstellungen der Epoche 1900–1930 thematisiert.
Ende November letzten Jahres besuchte ich mit dem Fotografen eine Fotoausstellung in der Galerie Westlicht (Bericht hier unter der Buchbesprechung). Der Fotograf musste sich natürlich auch die vielen Fotobildbände im Shop der Galerie ansehen. Also blätterte ich auch kurz durch die Bücher und dann fiel mir dieses in die Hände. Es handelt sich um einen Begleitband zur Ausstellung „Von der Pose zum Ausdruck. Theaterfotografie von 1900 bis 1930“ des Österreichischen Theatermuseums. Das Buch versammelt also Fotografien, die in dieser Ausstellung zu sehen waren und kombiniert sie mit Texten, die verschiedene Aspekte von Theater und Fotografie behandeln.
Es werden unterschiedliche Entwicklungsstufen der Fotografie behandelt, die mit ihren technischen Gegebenheiten die Möglichkeiten der fotografischen Aufnahmen prägten. Während frühe Theateraufnahmen ausschließlich im Atelier gestellt wurden (die Darsteller:innen durften sich nicht bewegen), konnten mit fortschreitender technologischer Entwicklung (inkl. besserer Beleuchtung der Theaterräume) auch tatsächliche Szenenbilder aufgenommen werden. Dabei fand ich interessant, dass die Fortschritte laut einem Text von Gerald Pfiffl zumeist aus der Riege der leidenschaftlichen Amateurfotograf:innen stammten:
Technische und bildmäßige Innovationen gingen immer von Amateuren und ihren Vereinen aus, denen vor allem der technische Fortschritt wichtig war. […] Das Gros der Berufsfotografen war dem konstant guten Bildergebnis verpflichtet. Sie konnten es sich nicht leisten, sich auf Experimente mit neuen Methoden einzulassen.
Im selben Text thematisiert Gerald Pfiffl auch eine Kontroverse bezüglich der Gestaltung von Theateraufnahmen aus dem Jahr 1926. Während der Amateurfotograf Hans Böhm sein System der Aufnahme von Szenenbildern mit Authentizität verteidigte, wurde er von Maximilian Kartitschnigg intensiv kritisiert. Kartitschnigg vertrat eine Position, die dem Fotografen einen wesentlichen gestalterischen Anteil an einer Fotografie zusprach. Er wollte das Licht für eine Aufnahme neu einrichten und überflüssige oder störende Elemente aus der Komposition entfernen. Ohne diese persönliche Einflussnahme wären die entstandenen Fotografien rein „technisch“ und nicht „künstlerisch“.
In dieser Phase der umfassenden Orientierungslosigkeit, geprägt von der Krise nach dem Zusammenbruch des Habsburgerreichs, die gleichermaßen alte Werte und Wertesysteme ungültig macht, werden zugleich Möglichkeiten und Räume eröffnet, in Frage gestellt und Alternativen geschaffen.
Sehr interessant fand ich einen Textbeitrag von Julia Danielczyk, in dem es um „Problemstücke der zwanziger Jahre“ geht. Als problematische Themen werden hier unter anderem Homosexualität, Schwangerschaftsabbruch, die sich verändernde Rolle der Frau und die Nutzung so genannter Schauobjekte angesprochen. Als Schauobjekte versteht die Autorin hier schwarze Statist:innen, während die weiße Hauptdarstellerin schwarz angemalt wird, um als – in der damaligen Diktion – „Halbblut-Negerin“ aufzutreten.
An diesem Text gefällt mir auch sehr gut, wie die Autorin aus den Bildern herausliest. Aus der Pose zweier Darsteller:innen liest sie zum Beispiel einen eindeutigen „Verweis auf eine außergewöhnlich gefährliche Macht dieser Unbekannten, inszeniert eine dämonische Stimmung“. Diese Art der Bildbeschreibung versuche ich selbst in meinem Alternativtexten umzusetzen und auch in Bilderzählungen, wenn ich etwas aus Urheberrechtsgründen nicht zeigen darf.
Julia Danielczyk thematisiert in ihrem Text auch die weiter oben beschriebene Unterscheidung zwischen Kunst und Technik und schlägt sich dabei auf die Seite von Maximilian Kartitschnigg. Für sie ist es ein besonderer Wert, wenn Fotos nicht nur als Dokumente der tatsächlich stattgefunden habenden Vorstellung dienen:
Das bedeutet die Reflexion der Wirkung des Bildes bei der Konzeption, so dass das Arrangement der Personen nicht dem zufälligen Moment eines Theaterabends unterlag, sondern gezielt für den Augenblick der Aufnahme eingerichtet wurde. Und genau hier tritt eine Duplizierung ein: Ziel ist die Inszenierung des Ausdrucks, die Zurschaustellung der großen, theatralischen Geste, die Abbildung, das Festhalten eines Zeitgefühls. Die Bilder verfügen über eine eigenständige Aussagekraft, über die Dokumentation einer Inszenierung hinaus. Sie stellen selbst gezielt inszenierte Posen dar.
Dazu bietet auch ein Text von Herausgeberin Barbara Lesak noch eine Verbindung an. Hier befasst sie sich mit Theaterexpressionismus und magischem Realismus in Berlin, einer Epoche, die nur von 1917 bis etwa 1924 dauerte, für die Theaterfotografie jedoch einen bedeutenden Fortschritt darstellte:
Die fotografische Abbildung und das Bildhafte der expressionistischen Szene standen in engster Beziehung zueinander. Fast schien es, als wäre die expressionistische Bildsprache nur dafür entworfen, um speziell ins fotografische Medium umgesetzt zu werden. In kongenialer Weise bedingten sie einander: Der Fotograf war konfrontiert mit einer ganz und gar künstlichen Welt, wie sie außerhalb der Theatermauern nicht vorzufinden war, und konnte daher exklusive und ungewöhnliche Bilder machen, während im Gegenzug dazu die expressionistische Scheinwelt in der fotografischen Abbildung an Realität und Glaubwürdigkeit gewann.
Trotz der Tatsache, dass ich mit dieser Epoche des Theaters bisher nur wenig Berührungspunkte hatte, fand ich auch einige für mich interessante Fakten:
- Zwei Fotos aus einem Schauspiel namens „Chicago“ von M. Watkins, das tatsächlich die Grundlage für das spätere Musical ist. Sie wurden 1928 in den Wiener Kammerspielen aufgenommen und erinnerten mich sofort an das Musical. Auf dem ersten Foto ist eine der Protagonistinnen zu sehen, sie steht erhöht inmitten einer Gruppe von Männern in Anzügen, die ihr allesamt Geldscheine entgegen strecken. Darunter ein Foto aus dem Zellenblock, auf dem fünf Frauen in unterschiedlichen Positionen zu sehen sind.
- Ein Text von Dagmar Saval beschäftigt sich mit Aspekten der Revue oder Revue-Operette. Diese in den 1920er-Jahren sehr beliebte Unterhaltungsgattung zeichnet sich unter anderem durch kreative Kostüme aus, weshalb dieser Text mit sehr interessanten Bildern illustriert ist. Darsteller:innen sind hier zum Beispiel als Parfumflakon und Lippenstift kostümiert. Spektakulär finde ich ein Bild einer Darstellerin, die als Stephansdom verkleidet ist (aus der Revue Alles aus Liebe von Karl Farkas und Ernst Marischka, Stadttheater, Wien 1927). Auf dem Kopf trägt sie den überdimensionalen Südturm des Stephansdoms, links und rechts ihrer Hüften erstreckt sich das Kirchenschiff mit dem charakteristischen Zickzack-Dachziegel-Muster. Es erscheint unwahrscheinlich, dass sich diese Darstellerin noch bewegen konnte.
- Für mich neu war auch, dass Das Weiße Rössl lange vor dem großen Film-Erfolg (1960) eine Revue-Operette (so wird es im Buch genannt) bzw. ein Singspiel (1930, Wikipedia) war und auf einem noch älteren Text (Lustspiel) von Oskar Blumenthal und Gustav Kadelburg basiert. In Wien inszenierte Karl Farkas Das Weiße Rössl und trat in der heute noch bespielten Kabarettbühne Simpl mit seinem Schwarzen Rössl auf.
- Im letzten Text fiel mir das (mir unbekannte) Wort Kubofuturismus ins Auge. Dazu Wikipedia:
Der Kubofuturismus ist eine Stilrichtung der Bildenden Kunst, die sich in Russland in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg entwickelte. Dabei wurden Erfahrungen und Elemente des Kubismus und des Futurismus miteinander verschmolzen. Typisch für den Kubofuturismus ist die Zerlegung eines gegenständlichen Motivs in zylindrische Formelemente.