Categories
English Erfahrungsbericht Sachbuch

Reshma Saujani – Brave, not perfect

We want to be perfect before we even try.

Selten hat mich ein Buch von Anfang an derart persönlich angesprochen. In nahezu allen Geschichten, die Autorin Reshma Saujani als Beispiele bringt, habe ich mich in der einen oder anderen Art wiedergefunden.

Imagine if you lived without the fear of failure, without the fear of not measuring up.

Das Buch beginnt mit einer Analyse, wie schon im Kindesalter Mädchen und Burschen ein unterschiedlicher Umgang mit Herausforderungen und Risiken antrainiert wird. Wenn sich ein Bursch nicht über die Wasserrutsche traut, spornen wir ihn an, wenn ein Mädchen vorsichtig ist, lassen wir sie und überreden sie nicht zum Probieren. Was langfristig dazu führen kann, dass Mädchen und Frauen Projekte und Aufgaben nur dann angehen bzw. übernehmen, wenn sie sich sicher sind, dass sie sie auch bewältigen können. Burschen und Männer hingegen stürzen sich oft selbst bei mangelnder Qualifikation einfach hinein und lernen dann, was ihnen fehlt, während sie es tun.

To get there requires perseverance and comfort with imperfection.

Die Autorin hat das Projekt Girls Who Code ins Leben gerufen, das zum Ziel hat, Mädchen und jungen Frauen den Einstieg ins Programmieren zu erleichtern und somit das Ungleichgewicht in der Tech-Branche zu verändern. Auch hier konnte ich mich selbst sehr deutlich sehen: Beim Programmieren hat mich immer das ständige Überarbeiten genervt, dass es nie ganz fertig sein kann, dass es immer ein Hangeln von einem Fehler zum nächsten ist; aus der Lösung eines Fehlers entstehen potentiell einige neue Probleme. Diese Toleranz und Ausdauer, mit Fehlern bzw. Dingen, die nicht sofort funktionieren, umzugehen, hat mir bisher weitgehend gefehlt und in gewisser Weise auch den Spaß am Programmieren verdorben.

We revise, rework, and refine to get things just right, often to a point ob obsession or frustration that takes us out of the game.

Ein anderer Aspekt ist das Streben nach Perfektion. Mir fällt es schwer, Dinge an die Öffentlichkeit zu bringen, von denen ich selbst nicht überzeugt bin, dass sie perfekt sind. Ich lese meine Blog Posts nur ein einziges Mal zur Korrektur, aber bis ich an diesen Punkt gelangt bin, musste ich sehr hart an mir arbeiten. Bei Texten ist es noch einfacher für mich als bei anderen Dingen. Grafikarbeiten werden so lange überarbeitet, bis ich selbst damit zufrieden bin und es macht mir immer Angst, wenn ich in meinen Augen unfertige Entwürfe verschicke, die dann möglicherweise von den Empfänger*innen gut gefunden werden.

After talking to hundreds of women ranging from teenagers to senior citizens, from all backgrounds and walks of life, I’ve learned that perfectionism isn’t simple or one-dimensional. It’s a complex knot of lifelong beliefs, expectations, and fears.

Mit meinen Freund*innen spreche ich oft darüber, dass es einfach unmöglich ist, als Mutter alles richtig zu machen. Bleibst du bei den Kindern zuhause, lebst du ihnen ein altmodisches Familienbild vor; gehst du arbeiten, bist du eine Rabenmutter. (Erst kürzlich habe ich im Familienkreis erlebt, wie ein Vater, der selbst aktuell 30 Stunden arbeitet, meinte, wenn eine Frau Vollzeit arbeitet, dann hätte sie ja gar nichts mehr von ihrem Kind. Der Hinweis darauf, dass er das von einem Mann ja wohl nicht sagen würde, hat ihn wirkungsvoll zum Schweigen gebracht.) Es werden einfach unerfüllbare Maßstäbe angelegt und wir nehmen diese an, weil wir eben alles richtig machen wollen.

Because whether we’re consciously aware of it or not, we still buy into some outdated myths about what being perfect will do for us.

Wenn ich nur endlich {10 Kilo abnehmen}, {dieses Projekt hinter mich bringen}, {dies und das erreichen} könnte, dann wäre endlich alles perfekt und ich würde auch den Lohn für all die Mühen ernten. Nur leider kommt dieser Moment nie und der Lohn für all die Mühen schon gar nicht. Denn das Erfüllen von Erwartungen führt nicht zu Lohn sondern zu neuen Erwartungen.

For many of us, our appearance is our armor. If our outfit, hair, makeup, jewelry, shoes, and everything else are perfect, we feel in control. Yet this is an illusion that assumes we have power over how other people view and respond to us.

Für mich steckt hinter dem Streben nach Perfektion auch ein Wunsch nach Sicherheit. Wenn ich ich alles so gut mache, wie es nur irgendwie geht, wenn ich so viel Zeit hineinstecke, dass alle sehen können, dass ich mein absolut Bestes gegeben habe, dann bin ich auf der sicheren Seite. Dann brauche ich mir von niemandem vorwerfen lassen, es wäre doch noch besser gegangen, weil ich ja alles gegeben habe. Dann kann ich mit gutem Gewissen sagen, das Ergebnis ist das Bestmögliche.

Most of all, bravery sets us free. It gives us the power to claim our voice, and to leave behind what makes us unhappy and go for what sparks in our souls. It allows us to see that our gloriously messy, flawed, real selves are in fact the true definition of perfection.

Beim Lesen fühlte ich mich zusehends so, als wäre ich schon immer brave, not perfect gewesen. Gefühlt habe ich mich dabei aber immer unsicher und nicht gut genug. Ich hab lange mit dem Programmier-Coach meines letzten Programmierversuchs darüber gesprochen, dass ich Angst hatte, als Anfängerin nicht in die User Group zu passen, dort nicht willkommen zu sein, nicht gut genug dafür zu sein. Er versuchte, mich davon zu überzeugen, dass es darauf nicht ankommt und alle irgendwann angefangen haben. Als Mann liegt ihm diese Sicht der Dinge offensichtlich näher.

Es fällt mir nach wie vor schwer, damit umzugehen, wenn ich Dinge nicht schnell kann. Gleichzeitig weiß ich aber, dass ich den Kindern in meiner Umgebung immer Mut mache, wenn sie etwas Neues probieren. Ich sage ihnen bewusst: „Am Anfang ist das schwer, aber wenn du es länger probierst, wird es einfacher. Du musst nicht gleich alles können, es ist notwendig, etwas zu üben und dann wird es leichter.“ Mir selbst müsste ich das auch hin und wieder sagen.

Meine große Hoffnung ist, dass es mir in der nächsten Zeit gelingt, den Perfektionismus Schritt für Schritt aus meinem Leben zu verdrängen und das Neue, das Ausprobieren, das Schwierige zu feiern und mich dabei nicht unsicher und nicht gut genug, sondern brave zu fühlen. Wiederum ist es mein eigenes Mindset, das ich verändern muss. Was bekanntlich eines der schwierigsten Dinge überhaupt sind. Aber wie mich das nächste Buch bereits jetzt lehrt: We can do hard things.

Ultimately, your failures give you your edge. They make you stronger, wiser, more empathetic, more valuable, more real. And when you stop demanding perfection of yourself, they become your personal bravery badges of honor.

Categories
Memoir

Maury Laura Philpott – I Miss You When I Blink

My mind seeks the tidiness of a question answered. An agenda complete. A box checked. That’s what harmony feels like in my brain.

In vielen Erzählungen dieses Memoirs habe ich mich selbst wiedergefunden. Das zeigt sehr schön, dass Menschen viel gemeinsam haben können, obwohl ihre persönliche Vorgeschichte und ihre aktuellen Lebensumstände komplett unterschiedlich sind. Natürlich gibt es übergeordnete Ähnlichkeiten: Mittelklasse, weiße Hautfarbe, freiberufliche Arbeit mit Text/in den Medien. Aber auch bei der generellen Einstellung zum Leben konnte ich einige Gemeinsamkeiten erkennen.

I sense the ticking of an invisible stopwatch in everything I do, because life’s to-do list never seems to get shorter, which means the only hope for feeling some sense of progress is to get through it without delay.

Die Autorin erzählt Begebenheiten aus ihrem Leben, reflektiert über ihre eigenen Handlungen, Entscheidungen und Beweggründe. In mehreren Episoden beschreibt sie ihre Freude am Organisieren, am Aufbrechen von Aufgaben in kleine Teile, die dann erledigt und abgehakt werden können. Die Geschwindigkeit unserer Gesellschaft gibt uns oft das Gefühl, jeden Moment unseres Tages bestmöglich nutzen zu müssen. Aber die Liste der zu erledigenden Dinge wird niemals vollständig abgearbeitet sein. Das wäre das Ende des Lebens. Eine bewusste Reflexion über die Dinge und Menschen, die uns wirklich wichtig sind, kann uns daher eher zu einem Zustand von Zufriedenheit und Harmonie führen, als ein weiteres erledigtes To-do.

I used to think that if only I could make everything perfect, then I could relax and have fun.

Sie beschreibt auch diesen mir sehr gut bekannten gedanklichen Prozess: Wenn ich nur endlich [hier einsetzen, was wir bisher nicht geschafft haben], dann könnte ich endlich [was wir gern wären, aber bisher nicht sind]. Dieser Gedanke hält uns in einem ewig unfertigen Zustand. Wenn wir endlich diese eine Sache geschafft haben (in den Fällen, die tatsächlich realistisch betrachtet zu schaffen sind), dann werden wir uns für einen Moment erleichtert/glücklich/am Ziel fühlen. Dieses Gefühl flaut jedoch zu schnell ab und schon taucht die nächste unerledigte Sache am Horizont auf. Das Leben ist nicht teleologisch. Das Leben ist ein Prozess und wenn wir das Leben als ständige Veränderung akzeptieren können, vermindert das den Druck, etwas anderes sein oder tun zu müssen. (Deshalb geht mir auch die religiöse Idee, Gott als Veränderung zu betrachten, aus Octavia E. Butlers Parable-Serie nicht aus dem Kopf. Meine Gedanken dazu hier: Parable of the Sower. Parable of the Talents.)

If figuring out what step to take next meant we immediately had to figure out every step afterward, too, then taking the next step would be impossible.

Dieses Zitat hat mich gerade in der aktuellen Situation sehr angesprochen. Wir leben in einer Zeit der Unsicherheit, wir wissen nicht, wie sich die Situation um Covid19 weiter entwickeln wird. Selbst diejenigen von uns, die sich in einer unkritischen Situation befinden (was in meiner hier angewandten Definition auf alle zutrifft, die gesund sind, ein sicheres Zuhause haben und ausreichend finanzielle Mittel, um keine unmittelbaren Existenzängste haben zu müssen), schauen mit einer gewissen Skepsis in die Zukunft. Alle Einschätzungen darüber, wie wir in 3 Wochen, 3 Monaten oder 3 Jahren leben werden, sind von so vielen Faktoren abhängig, dass jede langfristige Planung völlig unmöglich erscheint.

Genau genommen ist das aber immer so, es ist uns im Alltag (wie wir ihn vor der Krise erlebt haben) nur nicht so bewusst. Katastrophen können jederzeit völlig unerwartet eintreffen und unsere Pläne durcheinander werfen. Dagegen hilft nur eine gelassene Einstellung zum Leben und die Flexibilität, auf neue Situationen zu reagieren und uns so schnell wie möglich darauf einzustellen. Wenn wir die aktuelle Situation dafür nutzen, diese Fähigkeiten bewusst zu trainieren, können wir persönlich gestärkt aus dieser Krise hervorgehen.

When I feel pressure to do the one exactly right thing – which I feel all the time because I am human and a perfectionist – I remember all the selves I simultaneously have been, am, and will be. I miss you when I blink means I know all my selves are here with me, and I know we can do this.

Isolation Tag 16. 29. März 2020

Nach einem gefühlsmäßigen Einbruch am Anfang der Woche (ausgelöst durch von anderen vorgebrachte düstere Erwartungen für die fernere Zukunft) hat sich eine Art Isolationsalltag eingestellt. Ich achte auf Routinen, plane Spaziergänge und Mahlzeiten, habe mit Yoga-Videos auf Youtube begonnen. 

Gestern war ich insgesamt über sieben Stunden online mit Menschen im Gespräch. Das ist nicht dasselbe wie das persönliche Beisammensein und natürlich langfristig auch nicht genug. Aber es wird auch so langsam zu einer Gewohnheit. 

Categories
Roman

Charlotte Roche – Schoßgebete

So ist man doch, wenn man wirklich liebt, man ist ja dann nicht selbstsicher und sagt sich: Klar, kein Problem, du kommst sowieso wieder.

Gerade wird mir klar, dass auch das literarische Umfeld, in dem ein Buch gelesen wird, beeinflusst, wie es wahrgenommen wird. Wenn ich My Year of Rest and Relaxation nicht direkt im Anschluss an A Little Life gelesen hätte, wäre ich vielleicht anders damit umgegangen. Mit Schoßgebete habe ich vor einigen Wochen an einem „verlorenen“ Abend begonnen, an dem ich mich zu keiner „anspruchsvollen“ Lektüre mehr aufraffen konnte. Beendet habe ich es nun in diesem Umfeld, wo sich erstaunliche Parallelen zu My Year of Rest and Relaxation auftun, die mir vor einer Woche gar nicht auffallen hätten könnten und in ein paar Wochen vielleicht schon nicht mehr aufgefallen wären.

Die erzählende Protagonistin stellt ein Klischeebild einer modernen Frau dar: unsicher, perfektionistisch, die eigenen Bedürfnisse verleugnend, um ihrem Mann zu gefallen. Aus feministischer Sicht ließe sich hier einiges kritisieren und zerpflücken, aber hier ist (zumindest mir) so deutlich klar, dass es sich um eine Paraodie handelt, dass ein „Ernstnehmen“ gar nicht in Frage kommt. Die Autorin macht sich lustig darüber, wie die Gesellschaft den Frauen vorgaukelt, wir müssten ständig perfekt gepflegt sein, uns vegetarisch oder noch besser vegan ernähren, ein umweltschonendes Elektroauto fahren und für den Partner jederzeit sexuell verfügbar sein.

Wenn ich mich aber darauf konzentrieren kann, was Gutes zu machen, zum Beispiel Vegetarierin zu werden, dann geht es mir besser.

Ein großes Thema ist auch das Verhältnis zur abwesenden Mutter, geprägt von einem Autounfall, bei dem zwei Brüder der Autorin ums Leben gekommen sind, die Mutter jedoch schwer verletzt überlebt hat. Hier bricht das parodistische Narrativ etwas, die Erzählung untersucht, wie die Beziehung der eigenen Mutter das weibliche Rollenerleben prägen kann, im positiven wie im negativen Sinn. Weibliches Konkurrenzdenken kommt in der Rolle der nur am Rande erwähnten Freundin der Protagonistin zum Ausdruck. Über allem schwebt jedoch immer das Streben nach Perfektion, nach Fehlerlosigkeit oder zumindest dem Verstecken der eigenen Mängel dort, wo niemand anders sie sehen kann. Ein Unterfangen, das unwiderruflich zum Scheitern verurteilt ist.