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Roman

Volker Kutscher – Transatlantik

CN: Gewalt, Mord, Gift, Nationalsozialismus, Drogenmissbrauch, Drogenverkauf, Feuer, Erwähnung Konzentrationslager, Erwähnung sexueller Missbrauch von Kindern


Was für ein beschissenes Geheimnis. Sie merkte, wie einsam sie dieses Geheimnis gemacht hatte. Mit niemandem über Gereon reden zu können.

Da ich letztens irgendwo gelesen habe, dass im Herbst der nächste (und letzte!) Rath-Roman erscheint, hat mich das daran erinnert, dass ich ja dann wohl jetzt Transatlantik in der Onleihe bekommen müsste. Eine Reservierung war notwendig, aber ich musste nicht lange warten. Und alle anderen Leseprojekte wurden vorläufig auf Eis gelegt …

Um nicht zu viel zu verraten, nur ein paar Beobachtungen im Telegrammstil:

  • Es wiederholt sich ein Muster: Menschen, die sich eigentlich nichts zuschulden kommen haben lassen (oder zumindest in bestem Wissen und Gewissen gehandelt haben), werden erpresst. Oft werden ihre Angehörigen bedroht, wenn sie nicht spuren.
  • Selbst der härteste Gangster kann zu Fall gebracht werden. Wenn auch zumeist nicht von der Polizei sondern von der Konkurrenz.
  • Das Geheimnis-Zitat von oben deutet es an: wenn Menschen ihrem engsten Familien- oder Freund:innenkreis nicht mehr trauen können, können sie sich auch nicht gegen Schikanen wehren. Sie sind dem System ausgeliefert.
  • Neben Machtgewinn oder Machterhalt ist Rache ein wesentliches Antriebsmotiv, selbst für die Charaktere, die in diesen Krimis die Sympathieträger:innen sind.

Er hatte inzwischen etwas verstanden: dass die nationale Revolution, die nationale Einigung und soziale Befriedung Deutschlands, die Heilung eines kranken Landes, dass das alles eine riesengroße Lüge war, dass das nur in den Köpfen irgendwelcher naiver Schwärmer existierte, wie er einer war. Oder hoffentlich nicht mehr war.

Da ich über jedes Buch der Reihe hier schon geschrieben habe, dürfte klar sein, dass ich ein Fan bin. In gewisser Weise reicht dieser Band vielleicht nicht an die bisherigen heran. Und ist trotzdem noch herausragende Krimiliteratur in einem bedrohlichen historischen Kontext.

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Erfahrungsbericht Essays

Alain de Botton – The Art of Travel

Die einzige Auslandsreise dieses Sommers führte mich nach Berlin (im Nachtzug in einem Einzelabteil, um das Infektionsrisiko möglichst gering zu halten). Das Mittagessen des letzten Tages nutzten wir für einen Spaziergang zu einem meiner liebsten Buchgeschäfte: Shakespeare & Sons. Neben den ausgezeichneten Bagels finde ich dort immer wieder Bücher, die ich entweder extra bestellen müsste (zB Tiny Beautiful Things oder Are You My Mother?) oder die sonst überhaupt nicht meinen Weg kreuzen würden, wie zum Beispiel dieses Werk. Spannende Essay Collections bilden überhaupt einen Schwerpunkt ihres Programms, The Lonely City habe ich ebenfalls dort gekauft. Die Verbindung passt, denn in The Lonely City wird ein Gemälde von Edward Hopper ausführlich analysiert und Edward Hopper spielt auch in Alain de Bottons Reisebetrachtungen eine Rolle.

It is perhaps sad books that best console us when we are sad, and to lonely service stations that we should drive when there is no one for us to hold or love.

Viele von Edward Hoppers Gemälden zeigen einsame Menschen an einsamen Orten. Viele haben auch einen Reisebezug. Der Autor analysiert die Hintergründe einiger Bilder, wie etwa Automat (1927). Eine Frau sitzt an einem Kaffeetisch in einem scheinbar leeren Lokal vor einem großen Glasfenster, draußen ist es sichtbar dunkel. Ihre Kleidung lässt annehmen, dass es außerdem kalt ist. Sie wirkt isoliert an einem öffentlichen Ort. Ein ähnlicher Effekt lässt sich auch in Compartment C, Car 293 (1938) beobachten. Die Reisende sitzt allein in ihrem Zugabteil. Obwohl draußen noch Landschaft in der Dämmerung zu erahnen ist, scheint sie jedoch in ihre Lektüre versunken zu sein und damit gleichwohl isoliert und distanziert in diesem an sich öffentlichen Zugabteil.

The present might be compared to a long-winded film from which memory and anticipation select photographic highlights. […] My layers of experience settled into a compact and well-defined narrative: I became a man who had flown from London and checked into this hotel.

Die Reise beginnt bereits in der Vorbereitung, in der Antizipation, in der Erwartung der Erlebnisse, zu denen die Reise uns führen soll. Im obigen Zitat beschreibt der Autor, dass sowohl die Erwartungen als auch die Erinnerungen an eine Reise jeweils nur einzelne Momentaufnahmen beinhalten, während die Gegenwart, das tatsächliche Erleben, einen Fluss darstellt. Der Fluss beinhaltet nicht nur Highlights, sondern eben auch die alltäglichen Momente, das Banale, das uns an unseren Urlaubsort begleitet.

Curiosity might be pictured as being made up of chains of small questions extending outwards, sometimes over huge distances, from a central hub composed of a few blunt, large questions. […] The blunt large questions become connected to smaller, apparently esoteric ones.

Ein Kapitel befasst sich mit den unterschiedlichen Gründen für Reisen. Alexander von Humboldt verreiste, um jede kleinste Pflanze zu katalogisieren, sein Interesse, seine Neugier kannten kaum Grenzen. Heutige Touristen lassen sich oft von Bussen zu den bekannten Sehenswürdigkeiten bringen, ohne den Ort, den sie besuchen, tatsächlich zu sehen. Wenn ich mir nur die Sehenswürdigkeiten ansehen wollte, dann könnte ich das bequem von zuhause aus tun. Viele Fotos im Internet werden besser sein, als ich sie selbst jemals machen könnte. Wir verreisen aber nicht nur der Sehenswürdigkeiten wegen, sondern wegen des Gefühls. Wir hoffen, uns an einem anderen Ort als anderer Mensch zu fühlen, unsere alltäglichen Sorgen zumindest für den Zeitraum des Aufenthalts hinter uns lassen zu können und uns mit anderen – scheinbar wichtigeren – Fragen auseinanderzusetzen.

And yet De Maistre’s work springs from a profound and suggestive insight: that the pleasure we derive from journeys is perhaps dependent more on the mindset with which we travel than on the destination we travel to.

Im letzten Kapitel stellt der Autor schließlich die Frage, wie wir an unsere gewohnte Umgebung mit den Augen einer Reisenden herantreten können. Gerade jetzt, wo das Reisen so schwierig bis unmöglich geworden ist, könnten wir massiv davon profitieren, wenn es uns gelänge, unsere gewohnte Umgebung mit neuen Augen zu betrachten. Schon im Frühjahr habe ich mich beim Spazierengehen in der Heimatstadt gelangweilt, immer wieder dieselben Wege, immer wieder dieselben Ärgernisse (zB die unübersichtliche Bahnunterführung, die den kürzesten Weg in die Au darstellt). Weitere Wochen später habe ich angefangen, die Häuser auf den gewohnten Wegen ausführlicher zu betrachten und habe Unmengen an interessanten Fenstern gefunden. Dieser Blick ins Detail ist vielleicht sogar nur in einer bekannten Umgebung möglich, weil eine unvertraute Umgebung von den Details ablenkt.

Wie schon Tuk-Tuk to the Road, so habe ich auch dieses Buch hergenommen, um mir das eigene Leid an all den nicht gemachten Reisen dieses Jahr etwas zu lindern. Und trotzdem starre ich manchmal immer noch sehnsüchtig die Karte an der Wand an und träume davon, in einen Zug zu springen und an irgendeine Küste zu fahren. Irgendwann in der Zukunft wird sicher auch das wieder möglich sein. Und bis dahin müssen wir das Beste herausholen aus unserer Gegenwart im Fluss, an die wir später auch nur noch Momentaufnahmen als Erinnerung haben werden.

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Roman

Katja Lange-Müller – Drehtür

Zu helfen weckt ein seltsames Verlangen in dir, aber eines, das gestillt werden kann, so betörend, dass du es wieder tun willst und wieder und immer wieder. … Wenn du zum Helfen berufen oder eben ermächtigt bist, ist es tröstlich und herausfordernd, jemandem zu begegnen, dem es schlechter geht als dir selbst, am besten viel schlechter.

Die Autorin Katja Lange-Müller untersucht in diesem Buch das sogenannte Helfersyndrom. Ihre Protagonistin Asta wurde aus ihrem Helferjob zwangsbeurlaubt, steht nun am Flughafen außerhalb der Drehtür und weiß nicht weiter. Sie beobachtet die Menschen am Flughafen, bis sie einen findet, der sie an jemanden aus ihrer Vergangenheit erinnert. Asta selbst scheint keine Bedürfnisse zu haben. Sie hätte in diesem Moment alle Möglichkeiten, ihr Leben neu zu beginnen, aber sie schafft es nicht, ihren Fokus von anderen Menschen zu lösen und auf sich selbst zu richten.

Immerhin, die Kranken, zur Not auch die Überlebenskranken, bieten dir, Schwester, Pfleger, Arzt, das Größte und Großartigste, meinetwegen Geilste von allem: die Macht, zu helfen, die Hilfsmacht also, und eine noch mächtigere, mitunter sogar übermächtige Macht, die, Respekt zu erfahren – und Bewunderung, rückhaltlose Bewunderung, von allen Seiten.

Anderen Menschen zu helfen, ist niemals völlig altruistisch. Es beinhaltet immer auch das gute Gefühl, etwas Wertvolles für die Gesellschaft oder zumindest für einen einzelnen Menschen geleistet zu haben und damit eine Legitmation der eigenen Person. Auf der einen Seite wäre es fatal, wenn dieses Bedürfnis, Selbstlegitimation aus der Hilfe für andere zu gewinnen, von einem Tag auf den anderen versiegen würde. Wo wäre unsere Gesellschaft ohne Menschen, die helfen, die auf den eigenen Vorteil vergessen, die ihre eigenen Bedürfnisse für einen Zeitraum zurückstellen, um anderen einen Fortschritt oder in manchen Fällen auch das simple Überleben zu ermöglichen? Gleichzeitig darf das Helfen nicht zum Selbstzweck werden. Wer sich selbst in der Unterstützung anderer Menschen verliert, wird eines Tages zusammenbrechen. Eine schwierige Balance, die die Autorin in diesem Roman auf geschickte und literarisch ansprechende Weise analysiert.