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English Erfahrungsbericht Memoir

Juli Berwald – Spineless. The Science of Jellyfish and the Art of Growing a Backbone

CN dieses Buch: Gewalt gegen Tiere
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I’ve left those dreams to others. I turned and walked down the stairs, slipping into the space I’d begun to create for myself.

An diesem einen Abend hat es mich gepackt und ich wollte jetzt und gleich dieses Buch lesen, das irgendwo in der Mitte meiner To-Read-Tabelle seit einiger Zeit herumsteht. Die moderne Technik macht es möglich, tatsächlich ein eBook zu kaufen und sofort loszulesen. Nicht auszudenken, was ich während der aktuellen Situation getan hätte, wenn ich nicht so einfachen digitalen Zugriff auf Unmengen an Büchern hätte. Meistens muss ich sie nicht mal kaufen, weil ich sie digital ausleihen kann. Dankbarkeit für die kleinen Dinge, die uns das Leben erleichtern.

Beim Lesen dieses Buchs musste ich immer wieder im Internet nach Bildern suchen, weil ich mir die beschriebenen Arten von Jellyfish (das Wort ist einfach viel netter als das deutschsprachige Qualle) auf Bildern ansehen wollte. Da gibt es wirklich lustige Exemplare wie zB fried-egg jellyfish, aber auch riesige wie zB barrel jellyfish. Außerdem erinnerte mich die Beschreibung der sehr giftigen box jellys an Shannon Leone Fowler – Travelling with Ghosts, ein Buch, in dem die Autorin ihren Trauer- und Genesungsprozess nach dem Tod ihres Partners aufgrund eines Zusammenstoßes mit dieser Quallenart beschreibt.

Juli Berwalds Buch enthält viele verschiedene Aspekte zum Thema Jellyfish. Sie betrachtet das Thema aus wissenschaftlichen, ökologischen, ökonomischen Perspektiven. Indem sie sich mit Wissenschaftler*innen weltweit zu diesem Thema austauscht, lernt sie über die Bedeutung der Quallen im Ökosystem des Meeres, was ihre Verbreitung begünstigt aber auch was sie gefährdet (in erster Linie die Erwärmung und steigende Säuerung der Meere). Sie beschreibt ihre Reisen zu verschiedenen Orten, an denen sich Quallen beobachten lassen (Japan, Spanien, Israel, Italien – ich hätte gar nicht gedacht, dass es im Mittelmeer Quallen gibt …) und die Menschen, die sie auf diesen Reisen begleitet, was sie antreibt, warum sie sich mit dieser speziellen Tierart befassen und was sie daraus fürs Leben mitnehmen.

Es ist zugleich ein Sachbuch und ein Erfahrungsbericht. Mir hat dieses Format extrem gut gefallen. Ihr persönlicher Zugang hat dieses Thema für mich spannend gemacht, ich wäre sonst sicher nie auf die Idee gekommen, mir Bilder von unterschiedlichen Quallenarten anzusehen. Es gibt da eine unvorstellbare Vielfalt an Meeresbewohnern (sucht doch mal im Internet nach bloody-belly comb jelly …). Ihre Beschreibungen von rauhen Bootsfahrten mit Quallenfischern am untersten Zipfel von Japan oder Schnorcheltrips in Eilat am Golf von Akaba (die Stadt war mir bisher schon bei einem GeoGuessr-Spiel [ein Fernbeziehungsvergnügen] begegnet) haben in mir großes Fernweh entzündet. Ich hoffe wirklich, dass wir bald wieder reisen können, sonst komm ich nie dazu, all diese Orte zu besuchen, die ich bisher nur aus Büchern und Beschreibungen kenne.

As we age, our fire continues to burn, though sometimes the live coals become buried unter the ashes. The jellyfish helped me dig down to a fire inside.

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Roman

Ilija Trojanow – Eistau

Sie wünscht sich, dass wir einfach nur sind, ich suche nach einer Befreiung in einem wahrhaftigeren Schweigen.

Der Protagonist Zeno verzweifelt am Sterben eines Gletschers. In Rückblenden wird parallel zum Geschehen der Jetzt-Zeit auf einem Antarktis-Kreuzfahrtschiff der Verfall seiner Beziehungen geschildert. Zwischen den aus Zenos Sicht erzählten Kapiteln finden sich kurze Sammlungen von Funksprüchen (?), vage aneinandergereihte Satzfragmente, die ein Geschehen andeuten, das sich zeitlich erst nach der aktuellen Kreuzfahrt abspielt.

Zenos verzweifelte Konfrontation mit einem chilenischen Soldaten, der sich inmitten einer Pinguingruppe eine Zigarette anzündet, seine Abneigung gegenüber den Touristen, seine Sehnsucht nach einem tieferen Alleinsein; all diese einzelnen Situationen sind Haarrisse, die schließlich zu einem Zusammenbruch führen müssen. Unvermeidlich wie das Sterben des Gletschers.

Der Augenblick, in dem Kunst zu Wahrheit wird. Die Vorstellung läßt mich nicht los. Auch das leichtfertig Dahingesagte kann ernst genommen werden. Es beginnt als Haarriss, setzt sich als Sprung fest, endet als zersplittertes Glas.

Das (vorläufige) Ende der Isolation

Die Ausgangsbeschränkungen sind (vorerst) aufgehoben, Treffen in kleinerem Kreis wieder erlaubt.

Seit einiger Zeit beschäftige ich mich mit dem bewussteren Wahrnehmen von Gefühlen und Stimmungen. Wenn ich mich gestresst oder genervt fühle, versuche ich, zu ergründen, was genau dieses Gefühl gerade bedeutet, es zu benennen und es anzunehmen. Dabei wurde mir heute klar, dass wir Gefühle und die Situationen, in denen sie entstehen, in der Reflexion mit etwas Abstand meistens anders interpretieren, als sie sich zu dem Zeitpunkt angefühlt haben (das klingt wie eine Binsenweisheit, ist aber in meinen Augen ein Phänomen, das im Alltag nicht so bewusst ist).

Jetzt, wo die Isolation etwas gelockert ist, wird mir klar, dass ich es eigentlich ganz angenehm gefunden habe, mal eine Zeitlang nirgendwo sein zu müssen und Zeit zur Verfügung zu haben, die ich nach meinen eigenen Regeln gestalten kann. Es ist bei Weitem nicht so, dass ich diese Zeit oder die damit verbundene Gestaltungsfreiheit besonders sinnvoll genutzt hätte. Wie ich am 12. April schrieb, ist es mir kaum gelungen, mit der Zeit etwas Sinnvolles anzufangen.

Möglichst schnelle Rückkehr zur Normalität ist nicht zwingend der richtige Weg. Es wäre wünschenswert, wenn wir aus dieser Erfahrung etwas lernen und für die Zukunft mitnehmen könnten. Was das konkret sein könnte, hat sich mir bisher leider nicht enthüllt.

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Roman

Claire Vaye Watkins – Gold Fame Citrus

Kürzlich wurde auf Lithub ein Liste mit Romanen zum Thema Klimawandel veröffentlicht. Da mich solche Zukunftsgeschichten immer wieder mal interessieren, habe ich mir die Bücher, die ich in der Overdrive Library finden konnte, zum Lesen markiert. Auch auf der Liste zu finden ist South Pole Station von Ashley Shelby, das ich zu Anfang dieses Jahres gelesen habe. In meinen Augen würde auch das schon etwas ältere Werk Ein Jahr voller Wunder von Karen Thompson Walker auf diese Liste passen.

In Gold Fame Citrus leben AmerikanerInnen in einer Welt, die zunehmend von Wassermangel geprägt ist. Große Teile der USA bestehen nur noch aus einer Wüstenlandschaft. Evakuierung in die kühleren nördlichen Teile des Landes ist für viele Menschen die einzige Möglichkeit, um zu überleben.

Luz und Ray haben bisher in Kalifornien ausgehalten. Mit rationiertem Wasser schlagen sie sich schlecht und recht durch. In der verlassenen Villa eines Filmstars in einem Canyon setzen sie sich gegen Tiere zur Wehr, die mit der Hitze und dem Wassermangel besser zurecht kommen als Menschen. Sie haben Geld und können sich daher auch auf dem Schwarzmarkt Raritäten wie Blaubeeren kaufen.

Die vermeintliche Idylle zerbricht im Rahmen eines Festes, bei dem Luz mit einem kleinen Mädchen Kontakt aufnimmt. Das Alter des Kindes wird niemals genau genannt, sie kann schon alleine laufen und einige Sätze sprechen, wird aber im weiteren Verlauf der Geschichte immer wieder als Baby bezeichnet. Das Kind scheint von seiner Familie vernachlässigt zu werden. Die Entscheidung wird schnell getroffen: Luz und Ray entführen das Kind.

Die Autorin schafft es auf bemerkenswerte Weise, die beiden Kindesentführer so darzustellen, dass sie dem Leser trotzdem sympathisch bleiben. Sie handeln (scheinbar) aus Sorge um das Kind, obwohl sie die Umstände gar nicht genau kennen. Sie nehmen sich nicht die Zeit, Gründe der Familiensituation zu hinterfragen, sie sind sich sicher, das einzig Richtige zu tun. Indem sie ein Kind entführen.

Die Realität, für ein Kleinkind zu sorgen, holt die beiden schnell ein. Die Reise in die kühleren Landesteile wird schließlich zur einzigen Option für Luz und Ray. Auf dem Weg landen sie (um Spoiler zu vermeiden hier etwas verkürzt dargestellt) in einer Kolonie von Menschen, die sich der Evakuierung widersetzen. Sie leben am Rand der sich immer weiter ausbreitenden Wüste und haben aus mysteriösen Quellen, die ihr Anführer Levi findet, ausreichend Wasser und Nahrungsmittel zum Überleben. An dieser Stelle wird eine weitere Prognose enthüllt: in schwierigen Zeiten neigen Menschen dazu, einem starken Mann zu folgen, der sie führt und ihnen den Weg zeigt. Wenn die gesellschaftlichen Normen und der bekannte Alltag als Richtlinie für moralisches Handeln nicht mehr ausreichen, wenden sich Menschen einem (mehr oder weniger religiösen) Führer zu, um nicht selbst für ihre Fehler verantwortlich zu sein. Wie von einem Dystopie-Roman nicht anders zu erwarten, endet das Buch in einer dramatischen Wetter-Katastrophe. Und lässt trotzdem die Möglichkeit einer Fortsetzung mit der weiteren Geschichte des Babys offen.

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Roman

Ashley Shelby – South Pole Station

Who needed a mirror when the only thing reflected was loss after loss?

Die Protagonistin Cooper kämpft mit dem Selbstmord ihres Bruders und ihrem Leben allgemein. Sie bewirbt sich für ein Kunststipendium für einen Aufenthalt auf der Wissenschaftsstation am Südpol. Dort findet sie ein interessantes Soziotop aus Ingenieuren, Wissenschaftlern und anderen Künstlern vor. Es entspinnt sich eine Entwicklung auf unterschiedlichen Ebenen, in Rückblenden werden auch die Geschichten erzählt, die andere Bewohner auf die Forschungsstation gebracht haben. Darin enthüllen sich die verschiedenen Motive, die Menschen haben können, um sich für ein Leben in einer derart unwirtlichen Umgebung zu entscheiden.

Der Roman ist deshalb so spannend, weil es der Autorin gelungen ist, nicht nur auf die emotionalen Entwicklungen zu fokussieren, sondern auch zu erklären, warum viele gesellschaftliche Prozesse so funktionieren, wie sie es tun. Ein Klimawandel-Skeptiker kommt ebenfalls auf die Forschungsstation und wird von allen „ernsthaften“ Wissenschaftlern gemobbt. In seiner Vorgeschichte werden dann auch die politischen Hintergründe aufgedeckt, die ihn zu dem gemacht haben, was er geworden ist: ein Wissenschaftler, der sich kaufen lässt, weil ihm keine andere Wahl mehr geblieben ist.

Die Autorin erklärt auch viele Bezüge, die nicht auf der Hand liegen, ohne dabei überheblich zu wirken. Ein Wissenschaftler beschreibt Kunst als einfach: man müsse nur ein Subjekt präsentieren und dann ein Statement dazu machen. Viele selbst ernannte Künstler handhaben das vermutlich tatsächlich so und die Frage bleibt offen, woran sich dann „echte“ Kunst überhaupt noch erkennen lässt. Sie untersucht aber auch die Motive eines weiteren Forschers, der sich auf eine Theorie konzentriert, die von seinen Kollegen angezweifelt wird, jedoch auf wissenschaftliche Art und nicht auf der persönlichen Ebene, auf der dem Klimawandelskeptiker begegnet wird. Hier lässt sich auch der Unterschied zwischen Glauben und Wissen analysieren. So lange eine wissenschaftliche Theorie unbewiesen ist (also entweder bewiesen oder widerlegt), stellt sie kein Wissen dar. Kann sie deshalb wie eine religiöse Glaubensfrage behandelt werden?

„I don’t believe it“, he said. „That’s not how science works. But I find it compelling enough to devote my life to it.

Nachtrag: Eine aktuelle Podcast-Folge zum Thema Klimawandel hat Tim Pritlove beim Forschergeist veröffentlicht.