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Sachbuch

Carol De Giere – Defying Gravity

Sibelius Monument Helsinki

“The problem with musicals”, Stephen Schwartz suggests, “is that you are only as strong as your weakest element. You can have a good show that gets sunk by one performance or an intrusive design element.“ Every artist faces form issues: a painter laments when a painting is poorly framed; an author worries that an unsuitable cover will misrepresent his or her book. For musicals, any number of things can obscure what the writers were trying to communicate: bad casting, distasteful costumes or sets, in appropriate orchestrations, or unappealing choreography.

Schon oft habe ich erlebt, dass Musicals nicht so richtig berühren, wenn man sie nicht auf der Bühne sieht, sondern nur (oder zuerst) auf CD erlebt. Manchmal berühren sie nicht mal von der Bühne aus (wie es mir beispielsweise bei The Woman in White erging). Bei Wicked aber war es für mich Liebe auf den ersten Ton, wenn man so will. Es war das erste Musical, dessen Aufnahme ich aus dem iTunes Store kaufte, wenn ich mich richtig erinnere, hatte ich zuvor Defying Gravity bei einem Soloabend von Maya Hakvoort gehört. So richtig erfassen konnte ich Wicked dann erst im Londoner Apollo Victoria Theatre, ein herrlicher Nachmittag (es war eine 14:30 Vorstellung).

Carol de Gieres Biographie beschäftigt sich nicht nur, aber schwerpunktmäßig mit der Entstehung von Wicked, gleichzeitig ein positiver wie negativer Effekt des Buches. Einerseits freut sich der Wicked-Fan, die verschiedenen Entwicklungsstadien des Musicals nachvollziehen zu können, andererseits kann man von einer ausgewogenen Berichterstattung eben nicht sprechen. Es fasziniert, wo Stephen Schwartz noch überall mitgewirkt hat, ich wusste beispielsweise nicht, dass unterem anderem die Songs zu The Prince of Egypt inklusive dem großartigen When You Believe auch von Stephen Schwartz stammen.

Beim Lesen stellt man fest, dass hier eine großartige Kombination aus Fan-Tum und dokumentarischen Fähigkeiten der Autorin vorliegt. Dass sie Stephen Schwartz offensichtlich zugeneigt ist, tut der Biographie keinen Abbruch, eine kritische Auseinandersetzung will der Wicked-Fan ohnehin nicht lesen und wer sollte sonst zu diesem Buch greifen? Es gelingt der Autorin, zu vermitteln, wie tief Stephen Schwartz im kreativen Arbeiten verwurzelt ist, sie zeigt manche Tricks seiner Arbeit auf, sie hat extra das Element Creativity Notes entwickelt, um seinen Arbeitsprozess zu erläutern und anderen Kreativschaffenden seine Tipps zu übermitteln.

Das Buch bietet einen guten Überblick über das Musicalschaffen von Stephen Schwartz, seine Beiträge auf dem Gebiet der Filmmusik werden ebenfalls erwähnt, allerdings im Vergleich zur detaillierten Analyse der Musicals eher nur gestreift. Gerade die Entwicklung von Wicked, dessen scheinbar endlose Folge von Revisionen wird detailliert erläutert. Ein (ent-)spannend zu lesendes Werk, von dem andere Kreativschaffende zweifellos ebenfalls profitieren können.

There were things that I knew right away. I knew how it was going to begin, I knew how it was going to end, I knew who Elphaba was, and I knew why – on some strange level – this was autobiographical even though it was about a green girl in Oz. Stephen Schwartz

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Roman

T. C. Boyle – Drop City

21 Kahlenberg Straßenbahnmuseum Wien / made with Cam+

There was a murmur from the crowd. All her senses were alive. She didn’t feel faint or nervous or sag, but just eager – eager and vigorous, ready to get on with the rest of her life. She’d waited twenty-seven years and there was no going back now.

Auf den ersten Blick entfaltet sich hier ein Kontrastprogramm. In Kalifornien im Drop City Camp praktiziert eine Hippie-Gruppe freie Liebe, distanziert sich von den Autoritäten, sucht Freiheit durch ein „Zurück zur Natur“. Im Gegensatz dazu sucht Pamela in Alaska einen Mann, mit dem sie abseits von der Zivilisation leben will. In ihren Augen geht die Gesellschaft in die falsche Richtung, sie macht sich Sorgen, um die sittenlose Gesellschaft in den Städten und sieht einen Untergang der Zivilisation in der Zukunft. Star in ihrer Hippie-Einstellung und Pamela in ihrer Suche nach Natur und Einsamkeit – ihre Denkmuster ähneln sich, aber sie leben ihre Vorstellungen vollkommen unterschiedlich aus.

He wasn’t thinking of the meat or even the hide as he eased back on the throttle and reached for the rifle. It was the claws he wanted.

Die Autoritäten holen Drop City ein, Leader Norm Sender entwirft für seine Schäfchen eine traumhafte Zukunft im fernen Alaska, wo ihm sein Onkel eine Hütte vermacht hat. Zufällig die Hütte in direkter Nachbarschaft von Pamela und ihrem frisch gebackenen Ehemann Sess. Während die beiden ihr Eheleben zelebrieren, machen sich die hartgesottenen Drop-City-Anhänger auf den Weg ins ferne Alaska. Ihre Naivität droht ihnen zum Verhängnis zu werden, für den harten Winter sind die sonnenverwöhnten Hippies nicht gerüstet. Stars Freund Ronnie – die beiden kennen sich seit ihrer Jugend und sind gemeinsam in Drop City eingetroffen, doch Star hat mittlerweile in Marco ihre verwandte Seele gefunden – entdeckt nicht nur seinen Jagdinstinkt. Er kann auch dem Kommunenleben zunehmend wenig abgewinnen. Als er erstmals auf einen Bären schießt, diesen aber nur am Ohr streift, sieht man ihn bereits wie Anthony Hopkins in Legenden der Leidenschaft im tiefsten Alaska-Winter in den Armen des Grizzly-Bärs sterben. Doch es kommt anders …

And then she was going to say, And what kind are you? but in that moment it dawned on her that Pamela was just like them. She wasn’t buying into the plastic society, she wasn’t going to live the nine-to-five life in a little pink house in the suburbs and find her meat all wrapped up in plastic for her at the supermarket. She’d done that – worked in an office in downtown Anchorage – and she’d dropped out just as surely as anybody at Drop City had.

In der unwirtlichen Kälte des Alaska-Winters muss die Hippie-Kommune eine neue Art von Zusammenhalt lernen, wohingegen Pamela es schätzen lernt, mit ihrem Mann nicht völlig allein in der Wildnis zu leben und eine Freundin in Kanunähe zu wissen.

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Roman

Salvatore Niffoi – Die barfüßige Witwe

Endstation made with Cam+

„Aber wenn wir alt sind, haben wir uns dann immer noch so lieb wie jetzt?“
„Wir haben uns auch noch lieb, wenn wir gestorben sind, Mintò!“

Es erscheint als bemerkenswerte Ironie, dass es Salvatore Niffoi einerseits gelingt, dieses Versprechen sterben zu lassen und andererseits in der Erfüllung dieses Versprechens andere sterben zu lassen. Es entspinnt sich eine Liebesgeschichte zwischen Mintonia und Micheddu, der im trostlosen Sardinien der Zwischenkriegszeit vom Kleinkriminellen schließlich zum gesuchten Banditen wird. Gegen die Widerstände der Familien heiraten die beiden, versuchen sich in der kargen Landschaft ein Leben aufzubauen. Doch eine Intrige reißt sie auseinander: das Buch beginnt mit dem Tod Micheddus, er wurde ermordet, angeblich in Notwehr. Seine Frau will dies natürlich nicht glauben. In ihrer Lebensbeichte erzählt sie die Entstehung dieser unmöglich scheinenden Liebe, angefangen von ihrer Kindheit über die Heirat und die trostlose Zeit ihrer Ehe, die sie zumeist getrennt verbringen, Micheddus schließlich unleugbar werdende Affären, bis zur Zeit nach Micheddus Tod. Sein zweites Kind trägt Mintonia noch im Bauch.

Nur Blut sag ich in meinen Augen, bitteres Blut, das mir glühend in den Kopf stieg. Tziu Imbeces Ratschläge, das Beispiel von Mannai Gantina, die in ihrem Leben keine einzige Fliege getötet hatte, die Bücher, die ich wie Brot unter den Eichen konsumiert hatte, der Unterricht bei Mastru Ramiro liefen an mir herunter wie Wasser auf den wächsernen Blättern der Steineiche. In mir kochte ein ursprünglicher Hass, der sich von nichts und niemandem bändigen ließ.

Letztendlich lässt sich der Hass nur durch Rache beruhigen. Auge um Auge, so hält es die Familienjustiz in diesen dunklen Tagen in einsamen Dörfern, wo es kaum eine Zukunft gibt, schon gar nicht für Mintonia, die Frau des ermordeten Banditen Micheddu. Ihre Rache erschüttert und berührt zugleich. Eine einfühlsame Geschichte über eine unmögliche Liebe.

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Klassiker Roman

Nikolaj Gogol – Die toten Seelen

Verschiebebahnhof Wien made with CAM+

Überall kreuzt die strahlende Freude lustig all die Leiden, aus denen sich unser Leben zusammenflicht, so wie manchmal eine glänzende Equipage mit goldenem Geschirr, bildschönen Pferden und blitzendem Fensterglas plötzlich unerwartet an einem entlegenen armen Dörfchen vorüberjagt, das nichts kennt außer dem Bauernwagen: lange noch stehen die Bauern mit offenen Mündern da, die Mützen in den Händen, obwohl die wunderbare Equipage längst davongefahren und den Blicken entschwunden ist.

Ein russischer Klassiker. Meine Begegnung mit Anna Karenina ist schon ein paar Jahre her und fand auch unter denkbar ungünstigen Bedingungen statt (aber immerhin weiß ich jetzt, dass ich zwei Wochen herumliegen an einem Strand nichtmal mit Anna Karenina ertrage), aber der Gogol kann da so ganz und gar nicht mithalten. Epische Breite haben sie durchaus gemeinsam und wenn man nach dem Punkt sucht, muss man ganz schön lange suchen.

„Was heißt hier Unschuld! Ich habe sie solche Dinge reden hören, dass ich es, ehrlich gesagt, nicht einmal über mich bringe, sie zu wiederholen.“

Ganz am Ende, wenn man den Punkt gefunden hat, dann ist es natürlich eine klare Kritik am Kapitalismus und am Streben nach Reichtum, der „Held“ Tschitschikow muss erkennen, dass all sein eisernes Sparen, seine dunklen Machenschaften ihm nicht das erhoffte Ergebnis bringen. In epischer Breite beschreibt Gogol auch die herrschende Korruption im russischen Beamtenstaat, man kann bloß den Kopf schütteln, wenn man sich die Beamtenschaft an ihren Schreibtischen vorstellt, wie sie auf das Flattern von Geldscheinen lauschen.

Wie aus einem Rausch erwachten sie und sahen voller Entsetzen, was sie angerichtet hatten. Der Staatsrat ergab sich nach russischer Gewohnheit aus Verzweiflung dem Trunk, der Kollegienrat aber ließ sich nicht unterkriegen.

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Roman

Linda Stift – Kein einziger Tag

Kirnu Linnanmaki Helsinki

Irgendetwas tauchte in meinem Gedächtnis auf wie ein altes Wrackteil, das sich plötzlich aus dem Meer erhebt. Eine Leerstelle. Etwas, das nicht stattgefunden hatte, etwas, das versäumt worden war. Jenny! … Das hatte ich nicht getan. Ich hatte sie praktisch versetzt. Ich hatte sie noch nie versetzt. Mir lief es kalt über den Rücken.

Linda Stift hat nicht davor zurückgescheut, tief in die Psyche ihrer Protagonisten einzutauchen. Jede Menge Konfliktstoff bietet die Beziehung zwischen den Brüdern Paco und Paul. Als siamesische Zwillinge geboren würden sie erst nach mehreren gemeinsamen Lebensjahren getrennt. Zur Freude von Paul, zum Ärger von Paco. Genau wie die Eltern empfinden auch die beiden Buben komplett konträr über die Trennung. Für Paul ist die körperliche Trennung von seinem Bruder die Befreiung und der wichtige Schritt in ein eigenes Leben. Paco hingegen sucht sein Leben lang Bestätigung und die Nähe zu seinem Bruder.

Paco schleicht sich in Pauls Leben ein. Da die Geschichte aus Pauls Sicht erzählt wird, empfindet der Leser den dominanten Paco als Eindringling, jeder würde sich wohl gestört und genervt fühlen, wenn ein Familienmitglied von einem Tag auf den anderen in die eigene Wohnung eindringt und den Lebensraum Stück für Stück annektiert. Und auch Pauls Freundin Jenny scheint in Paco schließlich den besseren Bruder zu sehen, wenn auch der Schein der intakten Beziehung stets gewahrt bleibt.

Als Nebenschauplatz existiert das „Tier“, das Paul im Keller seines Geschäfts hält. Ein verzweifelter Versuch, da er sein eigenes Leben nicht unter Kontrolle hat, irgendetwas zu kontrollieren. Seine Überlegungen, was dem „Tier“ geschehen könnte, sollte ihm etwas zustoßen und er nicht mehr in den Keller gehen können, zeigen einerseits eine gewisse Verbundenheit, andererseits muss der Leser zusehends an Pauls geistiger Gesundheit zweifeln. Vielleicht ist nicht Paco der gestörte Bruder?

Der abschließende Knalleffekt kommt überraschend und ist so undenkbar, dass einem die Vorstellung kalte Schauer über den Rücken jagt und man beim Zuklappen des Buches einen verstörten Gesichtsausdruck trägt. Empfehlung.