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English Erfahrungsbericht Memoir

Anna Marie Tendler – Men Have Called Her Crazy

CN: Misogynie, Sexismus, psychische Krankheit, Selbstverletzung, Anxiety, Gaslighting

Das Buch beschreibt die realen Erfahrungen einer Frau, die mit psychischen Erkrankungen kämpft. Dazu gehört auch die traumatische Erfahrung, von einer Betreuungsperson verletzt zu werden. Bitte entscheidet selbst, ob ihr euch dieses Buch (und diesen Post) gerade zumuten wollt und könnt.


Der Griff zu diesem eBook war wieder mal ein spontaner Entschluss nach unerwartetem Abschluss eines anderen Buchs (damit ist nicht der letzte Post gemeint). Hätte ich mir mehr Zeit genommen, um vorher herauszufinden, wovon dieses Buch handelt, hätte ich es vielleicht bleiben lassen. Dann hätte ich aber nicht nur auf die vielen Tiefpunkte der Autorin verzichtet, sondern auch auf die Hoffnung, die zwischen den Zeilen durchschimmert.

Die Autorin beschreibt ihren kurzen Aufenthalt in einer psychiatrischen Klinik und reflektiert in Rückblenden, wie es dazu gekommen ist. Sie erzählt von quälender Angst, Selbstverletzung und der Schwierigkeit, andere Personen davon zu überzeugen, dass es ihr wirklich schlecht geht.

I’m forcing the outside world to confront a more honest – and probably scary – version of my mental state. Now, today, I no longer have to convince anyhone how bad I feel.

Von den Eltern wird sie lange nicht ernst genommen, ihre männlichen Partnerpersonen nutzen ihre Schwäche(n) aus. Sie fühlt sich gezwungen, ihre Partnerpersonen von ihrem Wert zu überzeugen und gibt ihre eigene Persönlichkeit auf, um geliebt zu werden. An manchen Stellen fand ich mich selbst in den Rückblenden wieder, andere Muster habe ich bei mir nahestehenden Personen beobachtet.

Während ihres Aufenthalts in der Klinik kommt es zum Bruch mit der bisherigen Therapeutin. Das letzte Gespräch zwischen Autorin und Therapeutin habe ich zwei Mal lesen müssen, weil ich einfach nicht glauben konnte, dass eine Person, deren Beruf es ist, psychisch kranke Personen zu betreuen, so etwas sagen würde. Es hat mir bewusst gemacht, dass natürlich gerade eine Person, bei der ein Mensch für lange Zeit sein Innerstes nach Außen gekehrt hat, auch genau weiß, wo die verletzlichen Punkte liegen. Genau das hat diese Therapeutin ausgenutzt. Ein Übergriff, ein Missbrauch, anders kann ich dieses Verhalten einfach nicht einsortieren.

Immer wieder kommt die Autorin auf ihre komplizierten Gefühle gegenüber männlichen Personen zu sprechen. Sie fühlt sich nicht wohl mit männlichen Ärzten, sie kämpft mit den Klischees, die Frauen mit psychischen Erkrankungen in der Medizin nach wie vor entgegen gebracht werden.

Centuries of conditioning has taught them, and us as a society, that when a woman expresses anger, paranoia, fear, anxiety, depression, or even intuition, they might be crazy.

Der Aufenthalt in der Klinik scheint ein entscheidender Wendepunkt in ihrem Leben gewesen zu sein. Neben einer neuen Perspektive auf sich selbst durch die Zusammenarbeit mit Ärzt:innen und anderen Betreuungspersonen erlebt sie die Kameradschaft mit den anderen Frauen in ihrer Betreuungseinheit als wichtiges solidarisches Element. Sie erkennt, dass es ein (besseres) Weiterleben geben kann, egal welch schlimme Dinge eine Frau auch erlebt haben mag.

Wäre dies ein Roman, würde ihn ein (eindeutig) hoffnungsvoller Ausblick abschließen. Die Autorin bleibt sich aber selbst treu und lässt durchblicken, dass es für die Selbstreflexion kein Ende gibt. Es bleibt ein Prozess, sich mit den Erfahrungen der Vergangenheit auseinander zu setzen und diese in ein anderes Licht zu rücken. Nur so können wir aus den Fehlern der Vergangenheit lernen und Schritt für Schritt mehr zu uns selbst finden.

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English Erfahrungsbericht

Matt Haig – Reasons to Stay Alive

CN dieses Buch: psychische Erkrankungen, Depression, Suizid, Selbstverletzung
CN dieser Post: psychische Erkrankungen, Depression, Suizid


In diesem Buch erzählt der Autor von seiner eigenen Zeit der Krankheit. Scheinbar von einem Tag auf den anderen plagen ihn Panikattacken und eine massive Depression, die ihm Stück für Stück allen Lebenswillen nimmt. Dass dieses Buch existiert, ist schon mal ein ausreichender Beweis dafür, dass eine solche Krankheit auch überwunden bzw. überlebt werden kann. Vorausgesetzt, sie wird ernst genommen. Unterstützung durch nahestehende Menschen ist natürlich ebenfalls essentiell.

Aus seiner eigenen Erfahrung berichtet der Autor von typischen Reaktionen, Gedanken, Erlebnissen, in denen sich vermutlich viele Menschen, die von ähnlichen Krankheiten betroffen sind oder waren, wiederfinden. Ich möchte ein paar Beispiele herausgreifen, von denen ich denke, dass sie für Menschen, die nicht in dieser Situation sind oder waren, schwer nachvollziehbar sind. Für das Verständnis der Krankheit sind sie jedoch extrem wichtig:

But with depression and anxiety the pain isn’t something you think about because it is thought. You are not your back but you are your thoughts. 

Psychische Erkrankungen sind unsichtbar. Der Vergleich mit einem gebrochenen Bein drängt sich auf. Jede:r kann sehen, dass da ein Gips am Bein hängt, dass die Person in ihrer Beweglichkeit eingeschränkt ist, möglicherweise Schmerzen hat, dass diese Person Hilfe braucht. Depression ist von außen nicht sichtbar. Und der betroffene Mensch kann sich davon auch nicht lossagen. Das gebrochene Bein kann ich für die notwendige Zeit schonen, Krücken benutzen, meine Gedanken und meinen Geist anderweitig beschäftigen. Bei psychischen Erkrankungen geht das kaum. Die Krankheit ist in den Gedanken, sie betrifft die eigene Persönlichkeit viel direkter als zum Beispiel ein gebrochenes Bein. (Ich hatte noch nie ein gebrochenes Bein, ich bitte um Verzeihung, falls dieser Vergleich die Realität eines gebrochenen Beins verharmlost.)

Actually, depression can be exacerbated by things being all right externally, because the gulf between what you are feeling and what you are expected to feel becomes larger.

Von außen betrachtet, scheint der psychisch erkrankten Person nichts zu fehlen. Gerade wenn es aber keinen sichtbaren Auslöser gibt (wie zum Beispiel ein Verlust in der Familie oder eine andere Art von Krise), kann sich die betroffene Person erst recht in eine Abwärts-Spirale begeben. „Es geht mir doch eigentlich gut. Mein Leben ist ausgezeichnet. Warum bin ich trotzdem nicht glücklich?“

In einem späteren Absatz kommt in diesem Zusammenhang auch der Begriff meta-worry ins Spiel: Wir sorgen uns oft um irgend etwas, um die Zukunft, um unsere Familie, um die möglichen Nebenwirkungen einer Impfung (um mal ein aktuelles Beispiel heranzuziehen). Was bei Menschen mit Angststörungen und/oder Depressionen jedoch auch noch dazu kommen kann, ist die Sorge aufgrund der Sorge. „Jetzt mache ich mir schon wieder Sorgen, ich sollte mir keine Sorgen machen, …“, also Sorge aufgrund der Sorge ergibt Meta-Sorge.

Das Ende des Buchs fokussiert dann auf die Erkenntnisse, die der Autor durch die Bewältigung seiner Krankheit gewinnen konnte. Manche davon können möglicherweise hilfreich sein für Menschen, die selbst gerade unter einer psychischen Erkrankung leiden. Die folgenden drei Zitate möchte ich für sich selbst sprechen lassen:

[Depression] is not you. It is simply something that happens to you. And something that can often be eased by talking. Words. Comfort. Support.

Don’t worry about the time you lose to despair. The time you will have afterwards has just doubled its value. 

[Depression] may be a dark cloud passing across the sky, but – if that is the metaphor – you are the sky. You were there before it. And the cloud can’t exist without the sky, but the sky can exist without the cloud.

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Roman

Linda Stift – Kein einziger Tag

Kirnu Linnanmaki Helsinki

Irgendetwas tauchte in meinem Gedächtnis auf wie ein altes Wrackteil, das sich plötzlich aus dem Meer erhebt. Eine Leerstelle. Etwas, das nicht stattgefunden hatte, etwas, das versäumt worden war. Jenny! … Das hatte ich nicht getan. Ich hatte sie praktisch versetzt. Ich hatte sie noch nie versetzt. Mir lief es kalt über den Rücken.

Linda Stift hat nicht davor zurückgescheut, tief in die Psyche ihrer Protagonisten einzutauchen. Jede Menge Konfliktstoff bietet die Beziehung zwischen den Brüdern Paco und Paul. Als siamesische Zwillinge geboren würden sie erst nach mehreren gemeinsamen Lebensjahren getrennt. Zur Freude von Paul, zum Ärger von Paco. Genau wie die Eltern empfinden auch die beiden Buben komplett konträr über die Trennung. Für Paul ist die körperliche Trennung von seinem Bruder die Befreiung und der wichtige Schritt in ein eigenes Leben. Paco hingegen sucht sein Leben lang Bestätigung und die Nähe zu seinem Bruder.

Paco schleicht sich in Pauls Leben ein. Da die Geschichte aus Pauls Sicht erzählt wird, empfindet der Leser den dominanten Paco als Eindringling, jeder würde sich wohl gestört und genervt fühlen, wenn ein Familienmitglied von einem Tag auf den anderen in die eigene Wohnung eindringt und den Lebensraum Stück für Stück annektiert. Und auch Pauls Freundin Jenny scheint in Paco schließlich den besseren Bruder zu sehen, wenn auch der Schein der intakten Beziehung stets gewahrt bleibt.

Als Nebenschauplatz existiert das „Tier“, das Paul im Keller seines Geschäfts hält. Ein verzweifelter Versuch, da er sein eigenes Leben nicht unter Kontrolle hat, irgendetwas zu kontrollieren. Seine Überlegungen, was dem „Tier“ geschehen könnte, sollte ihm etwas zustoßen und er nicht mehr in den Keller gehen können, zeigen einerseits eine gewisse Verbundenheit, andererseits muss der Leser zusehends an Pauls geistiger Gesundheit zweifeln. Vielleicht ist nicht Paco der gestörte Bruder?

Der abschließende Knalleffekt kommt überraschend und ist so undenkbar, dass einem die Vorstellung kalte Schauer über den Rücken jagt und man beim Zuklappen des Buches einen verstörten Gesichtsausdruck trägt. Empfehlung.