Categories
Roman

Mitch Albom – Der Stundenzähler

Seit Anbeginn der Zeit sind Menschen auf eine Weise miteinander verknüpft, die sie nicht verstehen können – nicht einmal in Träumen.

Wenn man als Book Nerd in Salzburg herumkommt, muss man natürlich Österreichs älteste Bücherei besichtigen. Kaufen wollte ich eigentlich nichts, weil ich eh schon so unnötig viel Zeug mit mir herumschleppte. Wer braucht schon was zu lesen, wenn er sowieso die meiste Zeit grübelnd in die Luft starrt? Da muss man wirklich nicht auch noch ein extra Buch herumtragen. Außerdem ist es ja mit einem meist nicht getan … doch als ich schon gehen wollte, fiel mir ein neues Mitch Albom-Buch ins Auge. Und sogar schon als Taschenbuch … das müsste doch gegen das Grübeln ein bißchen helfen … dachte ich.

„Du hast die Minuten gemessen“, sagte der Alte. „Aber hast du sie weise genutzt? Um zu ruhen? Zu genießen? Dankbar zu sein? Andere heiter zu stimmen und selbst heiteren Gemüts zu sein?“

Man mag kritisieren, dass das Thema nicht besonders originell ist, der Aufbau der Geschichte macht es aber doch spannend. Wir begleiten das Schicksal von Dor, der über die Zeit gebieten will, weil seine Frau im Sterben liegt, und deshalb dazu verurteilt wird, in einer Höhle auszuharren, ohne zu altern. Nach mehreren 1.000 Jahren darf er schließlich zurück auf die Erde. Er muss zwei Menschen finden und deren Leben verändern.

„Verstehst du jetzt?“, fragte er. „Wenn man endlos viel Zeit hat, gibt es keine Intensität mehr. Ohne Verlust, ohne Opfer, wird alles, was wir haben, wertlos.“

Die Botschaft ist simpel und doch staunt man, wenn sie dann letztendlich schwarz auf weiß auf den Seiten steht: Jeder Tag, jeder Augenblick ist kostbar. Ich hadere noch mit dieser simplen Weisheit. Gerade, wenn man versucht, Geduld zu haben und man doch alle Zeit der Welt haben will, hilft es nicht besonders, wenn einem aus dem Buch entgegen schlägt, dass man jeden Augenblick leben muss, als wäre es der Letzte. Da habe ich mich monatelang damit beschäftigt, alles entspannter anzugehen und jetzt das. Obwohl es so wahrscheinlich nicht gemeint ist. Hetzen bringt ja für den Augenblick auch nichts. Aber wie kann man warten, wenn man weiß, was man will und wenn es morgen nicht mehr da sein könnte? Oder wenn es so schön ist, dass man es morgen wieder haben will?

„Es gibt einen Grund, warum Gott uns nur eine begrenzte Anzahl von Tagen zugesteht.“ – „Und warum ist das so?“ – „Damit jeder einzelne Tag kostbar ist.“

Es ist ein ewiges Dilemma. Man soll glücklich sein, mit dem, was man hat, man soll nach Höherem streben, man braucht progress, um glücklich zu sein, Entwicklung macht glücklich, etwas zu schaffen, macht glücklich. Die kleinen Dinge soll man genießen, sich an einem Sonnenuntergang erfreuen oder an einem erfrischenden Getränk oder einem guten Essen. An einer Umarmung, am Lächeln eines geliebten Menschen. Man soll aber dem Glück auch nicht hektisch nachrennen, hörte ich kürzlich den Autor/Regisseur David Schalko im Radio sagen (sinngemäß, die genauen Worte hab ich mir nicht gemerkt):

Es ist absurd, ständig nach Glück zu streben. Wenn man manisch dem Glück nachrennt, das ist ja genau das, was einen dann unglücklich macht.

Wer das alles auf die Reihe kriegt, muss ein wahrhaft glücklicher Mensch sein …

Categories
Roman

Thomas Glavinic – Das Leben der Wünsche

Vielleicht lag es an ihm. Vielleicht war er zu oberflächlich, um die essenziellen Komponenten der Dinge zu erfassen, die über die philosophischen Seiten der Liebe hinausgingen. Aber dann war es eben so. Sein Intellekt bescherte ihm weder Sinn noch Antworten. In der Liebe zu Frauen lag Sinn und lag das Gefühl einer Antwort. An manchen Tagen, in mancher Minute fühlte er eine Antwort. In Marie zu sein war eine Antwort. In einer Frau, in die er verliebt war, hörte er leise das Universum. In einer Kirche nicht.

Jonas wird auf der Straße von einem Mann angesprochen, der ihm drei Wünsche offeriert. Jonas will ihm nicht glauben, fühlt sich gepflanzt. Schließlich wünscht er sich, zu verstehen. Was er zuerst als harmlose Episode abtut, erweist sich bald als alles verändernder Schnitt in seinem Leben. Jonas stürzt ihn eine Zeit, die ihm alle möglichen menschlichen Emotionen auftischt. Doch versteht er?

Er hob ab. Es ging leicht. Raum, Zeit, Materie waren nichts und eins, und in der Sekunde darauf war er die Zimmerdecke.
Er war Mauer, Fugen, Staub. Obwohl er alles sah, was sich unter ihm befand, hatte er das Gefühl, seine Augen seien geschlossen, ja, in Wahrheit hatte er das Gefühl, keine Augen zu haben. Statt Hitze oder Kälte fühlte er eine Verbindung mit dem Haus und mit den Dingen. Er roch nichts außer sich selbst, den freundlichen Geruch von Stein. Unter ihm das leere Bett. Der Schrank. Der Teppich. Der Nachttisch. Das Fenster. Die Tür. Elemente einer Ordnung, die ihm nun wohlgesinnt war.

Jonas verliert seine Frau. Jonas verliert schließlich auch seine Geliebte. Und bekommt sie zurück.

Nicht Problem, ich finde es schade. Schade, dass nicht die ganze Welt, alle sechs oder sieben Milliarden Menschen, eine Sekunde zugleich bewusst erleben kann. Sagen wir, jedes Jahr am neunten April um zwölf Uhr mittags mitteleuropäischer Zeit besinnen sich alle auf das, was sie gerade tun, verbringen diese Sekunde ohne Ablenkung, denken sich: Das ist hier und jetzt. So ist es, so wird es gewesen sein.

Diese Passage erinnert leicht an Flash Forward (warum diese Fernsehserie nicht weiter produziert wurde, ist mir nach wie vor nicht klar). Irgendwie lässt sich bestimmt auch eine Parallele zu 9/11 drehen. Weil ja jeder weiß, wo er war, als er gehört hat, dass ein Flugzeug ins World Trade Center gerast ist. Auch wenn es nicht in einer Sekunde passiert ist.

Aus dem Nichts, auf schnurgerader Landstraße brach wieder das kurze Gefühl von Entfremdung über ihn herein, das dem Weltverlust voranging. Im Moment darauf schwebte er in haltlosem Nichts.

Das Tempo wird schneller. Seit er mit Marie unterwegs ist, brechen die Erkenntnisse nur so über ihn herein. Und er wird auch langsam misstrauisch und wünscht sich die Gesundung seiner Freundin Anne, die an Krebs im Endstadium leidet. Wird er am Ende selbst sterben müssen? Gibt es am Ende nur mehr das eine, was man verstehen kann?