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Roman

Jostein Gaarder – Die Frau mit dem roten Tuch

Die alleeeinfachste Erklärung dafür, dass wir zur selben Zeit wieder an dem Ort aufgetaucht sind, der damals zum schönsten und bittersten in unserem Leben geworden war, ist meiner Ansicht nach die Telepathie. Deine Erklärungen oder Ausflüchte sind viel komplizierter, und deine Berechnungen sind ein einziger verzweifelter Krampf.

Es ist schwer, die Faszination und Genialität dieses Buchs zu beschreiben, ohne zuviel zu verraten. Es handelt sich um einen Briefroman. Solrun und Steinn haben sich nach jahrelanger Trennung zufällig an einem Ort wieder getroffen, der für die Beziehung der beiden schicksalhaft wurde. Nach diesem Anlass schreiben sie sich E-Mails und arbeiten somit auf, was seit Jahren zwischen ihnen steht.

Natürlich habe ich im Zug geweint. Ich habe mich nach Hause geweint, nach Bergen. Ich verstand gar nichts mehr. Ich wusste, dass wir mit einem Schlag vollkommen unterschiedlich dachten, aber ich konnte nicht begreifen, warum wir damit nicht leben können sollten. Wir waren doch nicht das erste Paar auf der Welt, das in Glaubensdingen unterschiedlicher Meinung war.

Erst Stück für Stück wird enthüllt, was diese Glaubensdifferenzen ausgelöst hat. Ein einschneidendes Erlebnis verändert die Beziehung zwischen den beiden. Während Solrun mit einem gestärkten Glauben an ein Leben nach dem Tod weiter durchs Leben geht, hängt Steinn sich an die Wissenschaft. Aber was wirklich passiert ist, lässt sich nicht eindeutig beschreiben, denn nicht beide haben dasselbe gesehen und gehört.

So denke ich. Es ist eine lineare, aber auch logisch klare Gedankenreihe, die ich hier konstruiere. Vielleicht bin ich an diesem Vormittag der Einzige auf unserem Planeten, der sich Gedanken über die Entstehung seines eigenen Bewusstseins macht. Oder wer weiß, vielleicht bin ich in dieser Sekunde sogar der Einzige im ganzen Universum. Dann säße ich unauffällig in meinem gelben Zugabteil und erfreute mich eines großen Privilegs.

Der Klimaforscher Stein erklärt sich das Universum durch Wissenschaft und kann nicht verstehen, wie Solrun an übernatürlich Phänomene glauben kann. Viele Argumente wechseln die Seiten, man fühlt sich an Gareres Einführung in die Philosophie Sofies Welt erinnert. Mit Zeit und Geduld nimmt sich der Autor dieses schwierigen Themas an und lässt durch seine beiden Protagonisten die unterschiedlichen Standpunkte aufeinander wirken, ohne sich für eine Seite zu entscheiden.

Ich glaube das genaue Gegenteil! Unsere Seelen werden den materiellen Schlamm überleben, ganz sicher. Denn in einer Hinsicht sind wir uns ja wohl einig, nämlich dass alle Natur irgendwann in Auflösung übergehen wird.

Und auch das Ende hält Überraschungen bereit, das möchte ich nun wirklich nicht verraten, um das Lesevergnügen nicht zu stören. Ein Glückstreffer für mich, zufällig aus der Onlinebibliothek der Büchereien Wien gefischt. Wobei Jostein Gaarder eigentlich wie Anna Gavalda immer für ein sinnbringendes Lesevergnügen steht. Empfehlung.

Für mich war der Weg zum Glauben an die Unsterblichkeit der Seele jedenfalls sehr kurz.