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Roman

Serhij Zhadan – Mesopotamien

Wir alle leben in dieser seltsamen Stadt, wir alle sind hier geblieben, wir alle kehren früher oder später hierher zurück. Wir leben und tragen die Liebe in uns wie eine Schuld, wie eine Erinnerung, sie vereint all unsere Erfahrungen und all unser Wissen.

Die Entscheidung, welches Buch ich denn nun als Nächstes hernehme, hängt sehr von der Tagesverfassung, der Tageszeit und diversen anderen Faktoren ab. In diesem Fall hatte ich dieses Buch aufgrund einer Liste, die überraschenderweise erst vier Jahre alt ist (gefühlt hätte ich eher mit 14 Jahren gerechnet …), auf meiner Wishlist in der Onleihe. Den Ausschlag gab jedoch die 5-Sterne-Bewertung. Irgendwie bin ich eben auch nicht immun gegenüber der Meinung anderer Menschen.

Von oben konnten wir die ganze Stadt sehen, in den Höfen konnten wir spüren, dass unter uns die Steine lagen, auf denen alles gebaut war. Im Sommer erhitzten sie sich, und uns wurde warm, im Winter waren sie durch und durch gefroren, und wir erkälteten uns.

Der erste Teil ist überschrieben mit dem Titel Geschichten und Biographien. Erst beim vierten Kapitel wurde mir klar, dass es sich um eine Art Episodenroman handelt.

Exkurs: Beim Korrekturlesen stelle ich fest, dass Wikipedia unter einem Episodenroman etwas ganz anderes versteht als ich. Hier wird von einem Roman gesprochen, der für die Haupthandlung verzichtbare und leicht aus dem Zusammenhang lösbare Intrigen oder Episoden enthält. Ich hatte den Begriff eher verwendet für sich teilweise überschneidende Geschichten, die im gleichen Umfeld spielen, wo es teilweise unklar ist, ob es sich um Kurzgeschichten mit Verbindungen zwischen den einzelnen Protagonist*innen handelt oder doch um einen Roman mit wechselnden Protagonist*innen. Im Zweifel entscheidet wohl die Selbstbetitelung durch die Autorin*den Autor oder den Verlag. In diesem Fall steht Roman auf dem Umschlag. Andere Beispiele, die mir einfallen, sind etwa Julia Phillips – Disappearing Earth oder Lilian Faschinger – Wiener Passion.

Alles beginnt mit einem Begräbnis und endet mit einer Geburtstagsfeier. Bei beiden Events werden die Verbindungen der einzelnen Personen zueinander erläutert, ich musste jedoch einmal zurücklesen, weil ich mir nicht alle einzelnen Geschichten gemerkt hatte.

Uns bringt die Schwäche um, die wir in uns tragen und deren wir uns nicht entledigen wollen. Sie frisst uns von innen auf wie ein Virus, sie hindert uns daran, die richtigen Entscheidungen zu treffen, die uns vertrauten Menschen festzuhalten, sie macht uns zu Verdammten, obwohl wir in Wirklichkeit nicht verdammt sind.

Die einzelnen Geschichten kreisen um Verwandtschaften, Lebenspläne bzw. die Abwesenheit von Lebensplänen, Unsicherheiten, Ausbrüche und Weggabelungen. Entscheidungen für oder gegen Beziehungen wechseln sich ab mit Fragen nach dem Sinn des Lebens an sich und der Frage, ob es irgendwo noch etwas anderes gibt.

Die Sonne geht morgens im Osten auf, hinter dem Markt,
jeder Verlust hat seinen Grund.
Nirgends solche Stille wie über deinem Haus,
nirgends solch ein Mond wie in deinem Rücken.

Im zweiten Teil, der mit dem Titel Erläuterungen und Verallgemeinerungen überschrieben ist, reihen sich unzusammenhängende Absätze aneinander, die den poetischen Schreibstil, der sich schon in den Geschichten und Biographien abzeichnete, noch steigern. Während ich dem Ende entgegenlese, frage ich mich, wo das nun hinführen soll, und werde angenehm positiv überrascht. Die letzten Sätze passen zu dem übergreifenden Thema, das sich in all diesen Geschichten abzeichnet: das Warten und die Sehnsucht. Nach etwas anderem, nach einer Person, nach einem besseren Leben.