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Bildband Reise Sachbuch

Adolf Stiller (Hrsg.) – Bahnhöfe. Stationen in Europa.

CN: –

(Gefahr der Ansteckung mit Reisefieber ;-)


Im Ringturm in Wien war bis vor Kurzem eine Architekturausstellung zum Thema Bahnhöfe zu sehen. Anlass war die Eröffnung der ersten Eisenbahnlinie in England, die vor „ziemlich genau 200 Jahren“ (lt. Klappentext) stattfand (und damit das „Geburtsjahr“ mit dem sponsornden Versicherungsunternehmen teilt). Zur Ausstellung gibt es einen Katalog in Buchform, ich wollte alles nochmal genau nachlesen und konnte nicht widerstehen …

Blick in den Ausstellungsraum, der Eingangsbereich ist von einer Holzkonstruktion überspannt, die wie ein Tunnel wirkt, weiter hinten im Raum hängen Tafeln von der Decke, an einer Wand hängt eine alte Eisenbahnkarte
Eingangsbereich der Ausstellung im Erdgeschoss des Ringturms
Glaskasten mit drei aufgeschlagenen Büchern und einem gelben Buchumschlag, in den Büchern sind großformatige Architekturfotos zu sehen
Schaukasten mit Büchern zum Thema Bahnhöfe

Das Buch zeigt dem Untertitel gemäß „Stationen in Europa“. Ein großer Schwerpunkt widmet sich etwa der Metropole Paris, die gleich mit sechs Bahnhöfen vertreten ist (von denen einer heute als Museum genutzt wird – das Musée d’Orsay). Den Weg zwischen den nahegelegenen Bahnhöfen Gare du Nord (hier fahren etwa die Eurostar-Züge Richtung Norden ab) und Gare de l’Est (wo unter anderem die Nachtzüge von und nach Wien ankommen und abfahren) habe ich selbst schon mehr als einmal zurückgelegt.

im Inneren der Bahnhofshalle des Pariser Bahnhofs Gare de l'Est, die Bogenkonstruktion des Hallendachs dominiert den oberen Teil des Bilds, von der Decke hängen zwei Bilder, darunter sind drei Anzeigetafeln für Ankunft und Abfahrt von Zügen zu sehen
Gare de l’Est: „[Die] große querliegende Halle am Kopfende der Bahnsteige [wurde] weithin als Beispiel für die funktionelle Anlage von Bahnhöfen kopiert.“
die Eingangshalle des Pariser Bahnhofs Gare de l'Est, drei geöffnete Türen zwischen Säulen, hinter dem Bahnhofsgebäude leuchten Wolken im Morgenlicht
Gare de l’Est: Der orangefarbene Riesen-Blumentopf ist auch auf der Abbildung im Buch zu sehen, meine beiden Fotos hier wurden im Mai 2023 aufgenommen.

Aber nicht nur die Pariser Bahnhöfe haben in mir Erinnerungen geweckt. Ich war beim Besuch der Ausstellung überrascht, dass ich einige der erwähnten Bahnhöfe quer durch Europa sofort zuordnen konnte.

Ausstellungsansicht, ein Transparent zeigt drei Fotos des Bahnhofs Gent-Sint-Pieters, oben ragt über einem Glasvordach ein altmodischer Turm auf, auf den beiden unteren Bildern Innenansichten der Bahnhofshalle
Gent-Sint-Pieters: Das historische Bahnhofsgebäude mit dem markanten Turm steht unter Denkmalschutz und wird seit 1996 umfassend renoviert.
Bahnsteig, eine Metallstütze hält das Dach über dem Bahnsteig, die Seitenflächen sind verglast, Teile der Glasflächen sind pink, die Bahnsteigbeschriftung ebenfalls in pink
Gent-Sint-Pieters: Bei meinem Besuch im Mai 2023 waren die Bahnsteige bereits mit modernen, bunten Glaskonstruktionen ausgestattet, die zu den Bahnsteigen führende Halle darunter war eine unübersichtliche Baustelle.
Bahnhof London St. Pancras, durch das verglaste Dach scheint die Abendsonne, am Ende des Kopfbahnhofs hängt eine große Uhr, darunter ein Schrift rosafarbener Neonschriftzug, der für das Musical „Dirty Dancing“ wirbt, Text: „I want the time of my life“
London St. Pancras (Mai 2023): „Mit seiner 74,15 Meter frei gespannten, 210 Meter langen und 31 Meter hohen, in gotisierender Spitzbogenform gestalteten Halle stellt dieser Bahnhof heute noch alle europäischen Bahnhöfe in den Schatten.“
Bahnhofsvorplatz in Venedig, im Vordergrund eine dreiarmige Laterne mit zwei Mülleimern daneben, dahinter die Marmorfassade des Bahnhofs
Venezia Santa Luzia (August 2022): „Die lang gestreckte, weit offene Fassade mit dem charakteristischen Vordach zeichnet sich durch die sensible Verwendung verschiedenfarbiger Marmorarten aus, deren Oberflächen die hohe Kunst der venezianischen Steinbearbeitung zeigen.“

Ein Fokus der Ausstellung (und des Buchs) liegt auf den Bahnhöfen der ehemaligen Donaumonarchie. Es ist auch eine große Übersichtskarte über „Österreich-Ungarn’s Eisenbahnen“ zu sehen. Die Karte stammt aus dem Jahr 1910 und war damals bereits in der 79. Auflage erschienen.

Detailaufnahme der Ecke einer Übersichtskarte, links oben steht: 1910, Prochaska's Neue Ausgabe, Österreich-Ungarn's Eisenbahnen, Neunundsiebzigste Auflage“, darunter eine Legende, die die Zeichen für unterschiedliche Bahngleise und verschieden große Ortschaften erklärt. Der Maßstab der Karte ist mit 1:1.250.000 angegeben.

von der Decke hängende Transparente zeigen die kommunistisch anmutenden Bahnhöfe in der heutigen Republik Tschechien
Tafel mit Informationen und Bildern zu den Bahnhöfen Pardubice, Cheb, Teplice und Klatovy
langgezogenes Bahnhofsgebäude aus rotbraunem Material mit hohen Fensterfronten, links an der Wand hängt eine dekorative Bahnhofsuhr, im Vordergrund die Metallstatue eines Mannes in Militäruniform mit vor der Brust verschränkten Armen
Bahnhof Pardubice mit der Statue von Jan Perner, Juli 2024
zwischen zwei Bahnsteigen sind zwei Gleise zu sehen, auf einem steht ein blauer Zug, zwischen den Bahnsteigdächern blauer, leicht bewölkter Himmel, die Gleise ziehen von rechts unten nach links oben durchs Bild, das Bild wirkt so dynamisch, obwohl nichts wirklich in Bewegung ist
Brno hlavní nádraží, Juni 2023

Spannend fand ich die verschiedenen „Bauformen“, die für die porträtierten Bahnhöfe angegeben wurden. Leider ist die Klassifikation nicht ordentlich abgerenzt. Wikipedia unterscheidet Bahnhöfe nach verschiedenen Kriterien, die im Buch unter dem Überbegriff „Bauform“ miteinander vermischt werden. Die Unterscheidung nach Grundrissform ist vermutlich vielen Leser:innen bekannt:

  • Kopfbahnhof (alle hereinführenden Gleise enden im Bahnhof, die Züge können nur mit einem Fahrtrichtungswechsel den Bahnhof wieder verlassen)
  • Durchgangsbahnhof (die Hauptgleise verlaufen durch den Bahnhof, der Bahnhof kann von beiden Seiten angefahren und wieder verlassen werden)

Im Buch werden unter dem Label „Bauform“ noch folgende andere Begrifflichkeiten verwendet:

Durch die Weitung der Gleisanlagen kommt es gleichsam zu einer Insel, in deren Mitte das Bahnhofsgebäude steht.

Leider sind die Ungenauigkeiten bei den Klassifikationen nicht der einzige Kritikpunkt. Die Bilder sind im Buch durchgehend zu dunkel abgedruckt (in der Fachsprache: die Bilder saufen ab). Auf nahezu allen Bildern, wo Bahnhöfe von innen zu sehen sind, sind  auch bei genauerem Hinsehen keine Details zu erkennen.

Auf der positiven Seite möchte ich die schöne Gestaltung des Umschlags erwähnen, der Titel ist in Goldschrift aufgeprägt, darunter ist die schematische Ansicht einer Bahnhofshalle in dunkler Farbe auf dem anthrazitfarbenen Buchdeckel aufgeprägt. Die unterschiedlichen Materialien geben dem Buch ein sehr wertiges Gefühl.

In den Texten, die hauptsächlich sachlich die architektonischen Highlights oder die historischen Hintergründe der Bahnhöfe erläutern, verstecken sich hier und da augenzwinkernde Bemerkungen wie diese zu fehlenden Einkaufsmöglichkeiten im Bahnhof Ostrava-Vitkovice:

Entsprechend des in den damaligen kommunistischen Ländern gültigen Wirtschaftskonzeptes der 5-Jahrespläne, die privatem Konsum keinen Stellenwert einräumten, waren auch keine Geschäftsflächen vorgesehen, was eine Nüchternheit erzeugte, nach der man sich heute vielerorts sehnt.

Zum Abschluss habe ich auch noch einige architektonische Fachbegriffe mitgenommen:

Da die Ausstellung neben den Tafeln mit den Informationen zu den Bahnhöfen nur wenige Elemente (Schaukästen mit Büchern und Ansichtskarten, einen kurzen Film zu Stuttgart 21) enthielt, stellt das Buch eine ausführliche Dokumentation der Ausstellung dar. Ich fand darin außerdem reichlich Inspiration für zukünftige Reisepläne!