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Sachbuch

Dirk Lenzen – Jeder Hund kann gehorchen lernen

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Der Hund schließt sich dem Zweibeiner an, der ihm als Ranghöchster imponiert. Auf der anderen Seite wird er jedem „rangniedrigeren“ Zweibeiner sofort die Beute streitig machen und sich danach wichtigeren Dingen zuwenden. Das ist seine Natur. Er testet in jedem Moment seine Rudel-Position und nutzt sie für sich.

Vermutlich kann keiner beurteilen, ob er selbst ein guter Rudelführer ist. Der Hund kann es uns ja nicht sagen. Rückblickend nach einem Jahr mit Hund kann ich allerdings etwas darüber reflektieren, wie es bei uns gelaufen ist. Natürlich kann ich nicht sagen, ich wäre fertig mit der Hundeerziehung. Denn mein Hund ist weder gut erzogen, noch bin ich eindeutig ihr Rudelführer. Aber immerhin haben wir uns zusammengelebt. Und ich mich ein Stück damit abgefunden, dass unsere dominante Hündin vermutlich ihr Leben lang versuchen wird, die Rudelführung an sich zu reißen. Und der „rangniedrigere“ Zweibeiner liegt ihr sowieso zu Füßen …

Der Leckerchensegen stachelt den Beutetrieb und das Konkurrenzverhalten derHunde an, sodass es in der Folge zu schweren Beißereien kommen kann. Und zwei streitende Konkurrenten wird man kaum auseinanderbringen, indem man ihnen noch mehr Leckerchen hinwirft.

Am Anfang hab ich mir viele gute Tipps geben lassen, die meisten beinhalteten die Gabe von Belohnung, nachdem der Hund etwas richtig gemacht hatte. Das brachte mich in meinem ungeduldigen Wesen und meiner Naivität schnell zum Ausruf: „Aber wie soll ich ihr denn was geben, wenn sie nie was richtig macht?“ Dass mir damals selbst nicht klar war, was eigentlich richtig und sinnvoll wäre, muss ich heute rückblickend zugeben. Dass die Belohnungsbestechung bei unserem Hund nicht die richtige Erziehungsmethode ist, weiß ich jedoch auch (und nicht nur, weil mir dieses Buch dies bestätigt und erläutert hat).

Der Grund dafür liegt im Sozialverhalten der Menschen: Wir wollen andere durch Liebe und Freundlichkeit überzeugen und an uns binden – und nur wenn es nicht anders geht durch Zurechtweisung. Aber: Der Hund ist kein Mensch und versteht das natürliche Sozialverhalten seiner Art deutlich besser.

Immerhin bekam ich also hier bestätigt, dass Hundeerziehung auch ohne ständiges Füttern und das Herumtragen von Extrawurstwürfeln in allen Jackentaschen möglich sein muss. Inzwischen fühlt sich unser kleines Biest auch so an mich gebunden, dass sie auf Ruf zu mir kommt, ohne das Wissen, gleich gefüttert zu werden. Auch erleichternd: der Hinweis, dass es den perfekt erzogenen Hund nicht gibt:

Entscheidend ist dabei nur, dass Ihr Hund an der locker durchhängenden Leine läuft und nicht zieht. Und dass er beim Freilauf auf „Komm!“ und „Hier!“ hört, und zwar so gut, dass Sie ihn in acht von zehn Situationen (zum Beispiel Kaninchen, andere Hunde, gefährliche Straße) abrufen können. 100 Prozent schafft kaum ein Hund.

Dass es auf den Tonfall ankommt, war mir schnell klar. Unsere kleine Herzensbrecherin weiß genau, welche Menschen ihr wohlgesonnen sind und erkennt den „Ja, so ein lieber Hund“-Tonfall sofort und mit 100% Zuverlässigkeit. Sie reagiert gut auf Pfiffe, um ihre Aufmerksamkeit zu bekommen, und nimmt Befehle nur dann wahr, wenn sie auch im Befehlston ausgesprochen werden.

Hunde können sich zwar einfache Wörter merken und sie mit etwas verknüpfen, aber sie achten zugleich sehr genau darauf, wie man sie ausspricht. So würde der Hund ein tiefes, scharfes, knappes und lautes „Fein!“ vollkommen entgegengesetzt auffassen, während ein erfreutes, sanftes und lang gezogenes „Aus!“ oder „Pfui!“ eher positiv ankäme. Will sagen: Wer richtig betont, erzieht besser und schneller.

Lenzens alternative Hundeerziehungsmethode per Leinenruck klingt verlockend, konnte ich jedoch mit unserer Hündin, die an Geschirr und Flexileine bereits gewöhnt ist, bisher nicht erfolgreich praktizieren. Ein kurzer Versuch mit beiden Leinen im Gepäck und Wechsel erwies sich als äußerst umpraktikabel. Im Stadtverkehr geht sie inzwischen ziemlich brav an der kurzen Leine, doch sie ist gewohnt, bei jeder Grünfläche etwas mehr Auslauf zu bekommen und ich wüsste nicht, warum sie den nicht kriegen sollte. Wir wollen unseren Hund ja beschäftigt halten und ihr Gelegenheit geben, die Welt zu erkunden. Das geht mit der Flexileine natürlich besser.

Sie klopfen Ihrem Hund per Leinenruck „auf die Schulter“, holen ihn von der Ablenkung weg und gewinnen seine Aufmerksamkeit. Das funktioniert nur dann optimal, wenn die Leine mit einem Halsband verbunden ist. Ist sie dagegen in ein Geschirr eingehakt, kommt das durch die Bewegung im Handgelenk ausgelöste Leinensignal beim Hund nur sehr abgeschwächt bzw. überhaupt nicht an. Er ist somit nur bedingt erziehbar und wird sich oft noch stärker in das Geschirr hängen.

Auch wenn mir nahestehende Menschen immer wieder sagen, dass der Hund nach einem Jahr total geprägt ist auf seine Hauptbezugsperson und man sich natürlich sehr geschmeichelt fühlt von diesem Gedanken, finde ich es angenehmer, zu wissen, dass der Hund auch mal eine Woche Urlaub bei anderen Bezugspersonen versteht ohne dass die Hund-Halter-Beziehung Schaden nimmt oder der Hund „beleidigt“ ist. Natürlich erwische ich mich aber auch immer noch dabei, dem Hund menschliche Gefühle und Regungen anzudichten. Ausgeprägte Mimik und Körpersprache des Tiers verleiten einfach zur Interpretation.

Natürlich ist es wichtig, dass wir ein inniges und von Vertrauen geprägtes Verhältnis zu unserem Hund haben. Aber so wichtig, dass unser Hund nicht mal ein paar Tage oder Wochen ohne uns auskommen kann, sind wir nicht – auch wenn uns dieser Glaube ein wohliges Gefühl gibt. Dieses Gefühl ist aber zugleich eitel und egoistisch, weil dahinter der Gedanke steht: „Ich bin für meinen Hund unersetzlich.“

Inzwischen beobachte ich meinen Hund intensiv im Kontakt mit anderen Hunden. Mir war lange nicht klar, warum sie sich bei manchen komplett entspannt und bei anderen total durchgeknallt benommen hat. Bald konnte ich beobachten, dass sie mit übermütigen Welpen nicht klarkommt, das Herumgespringe und Geprassel taugt ihr nicht. Dass sie aber auch andere Hunde, die sie zuerst neugierig und freundlich beschnuppert, dann plötzlich anknurrt, konnte ich nicht so schnell zuordnen. Auch dafür hat Lenzen eine passende Erklärung:

Irrtum Nr. 21: „Meine Hündin ist eine Zicke.“
Falsch! Die Eigenschaften, die wir Menschen einer „Zicke“ zuschreiben (launisch, selbstverliebt, arrogant etc.) lassen sich unmöglich auf die Hundewelt übertragen. „Zickiges“ Verhalten bei Hündinnen ist vielmehr als Dominanz- oder Abwehrreaktion auf einen anderen Hund zu erklären, der bei Geruchskontrolle und Co. zu forsch und zu schnell Kontakt aufnimmt.
Dabei können Hündinnen genauso wenig „zickig“ sein wie trotzig oder eifersüchtig. Was bei Begegnungen mit vierbeinigen „Zicken“ tatsächlich passiert, ist Folgendes: Wenn sich ein Hund einer dominanten Hündin nach dem Motto „Hallo, hier bin ich! Wer bist du denn?“ forsch nähert und sie beschnüffeln will, kann es sein, dass ihr das zu weit geht. Also zeigt sie Zähne, um zu signalisieren: „Lass das, ich will das nicht, du kommst mir zu schnell zu nahe!“ Und wenn der oder die andere daraufhin nicht ablässt, schnappt die dominante Hündin eben kurz zu, um sich (artgerecht) Respekt zu verschaffen. Die gleiche Reaktion könnte auch eine Hündin zeigen, die eher unterwürfig ist. In diesem Fall wäre das Zähnezeigen und Schnappe allerdings keine Dominanzgeste, sondern eine Abwehrhaltung, weil die Hündin vielleicht selten andere Hunde trifft und deshalb etwas mehr Zeit braucht, um Kontakt aufzunehmen.

Mit dem Jagdtrieb müssen wir uns wohl offiziell abfinden:

In meiner Hundeschule erlebe ich immer wieder, dass Halter ihre Weimaraner und Co. ins Training bringen, um ihnen „den Jagdtrieb abzugewöhnen“. Doch das ist ein Ding der Unmöglichkeit, denn „Jagdtrieb abgewöhnen“ funktioniert nicht. Wenn diese rassespezifischen Eigenschaften nicht artgerecht „genutzt“ werden, geht der Hund – je nachdem, wie stark der Trieb ausfällt – eben allein jagen.

Einzige Erlaubnis für Belohnungstraining (ich wehre mich gegen den Begriff „Leckerchen“): wenn der Hund Kunststücke machen soll:

Wenn ein Hund sich unterordnen soll, ist die gleichzeitige Gabe eines Leckerchens (=das Überlassen von „Beute“) kontraproduktiv. Andererseits werden Hunde, die sich gerade unterordnen bzw. unterwerfen, niemals durch einen Ring springen oder ein anderes Kunststück vorführen. Kunststücke macht ein Hund nur, wenn wir ihn begeistern können. Leckerchen sind in solchen Fällen als notwendiger Motivationskick erlaubt. Lediglich die gewünschte Aktion wird durch Gabe eines Leckerchens plus lobende Stimmlage positiv bestärkt.

Für mich ein großer (aber wichtiger) Rückschlag: die von unserem Hund heiß geliebten Zerrspiele um das Fetzi verstärken ihr dominantes Verhalten. Machen wir nach wie vor. Aber die Beute gehört am Ende nicht dem Hund …

Ganz wichtig: Auch wenn das Zerrspiel für Filmhund Gysmo in diesem Fall Sinn macht, sollte es im normalen Alltag für einen Familienhund tabu sein. Ein Hund, der an etwas zerrt – sei es ein Apportierseil oder Herrchens Schal – baut automatisch Aggressionen auf. Und wenn der Hund gar ein Zerrspiel mit Herrchen oder Frauchen gewinnt, wird er sich im Alltag verstärkt dominant verhalten.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass wir sicher Glück haben mit unserer alltagskompatiblen Hündin. Viele Probleme, die ich von anderen Hundehaltern im Laufe der Zeit erzählt bekommen habe, traten bei uns gar nicht auf. Unser Hund liebt das Auto und steigt in jede Straßenbahn und jeden Aufzug ein. Sie bleibt problemlos allein zu Hause und hält es auch im Büro mal einige Stunden aus. Sie kommt mit größeren Kindern problemlos klar (auch da hört sie schließlich „so ein lieber Hund!“ und nimmt sofort die Wedel-Streichel-Haltung ein) und scheint nach wiederholtem Kontakt mit dem Krabbelkind einer Freundin auch langsam zu kapieren, dass sie der Kleinen lieber aus dem Weg gehen sollte. Da ich mich selbst ständig zwischen Selbstbeherrschung und Lockerlassen entscheide, trifft das auch auf meinen Umgang mit dem Hund zu. Komplett und streng durchorganisiert wird unser Leben nie sein (wer will das schon?). Aber hoffentlich weiter so, dass auch die dominante Hündin ihren Platz kennt.