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Kurzgeschichten

Martin Peichl – In einer komplizierten Beziehung mit Österreich

CN: sexueller Missbrauch, Suizidgedanken, sexuelle Handlungen, Alkoholmissbrauch


Vergangenheit ist wie ein Wasserschaden, ein Fleck an der Decke, den man im besten Fall irgendwann nicht mehr wahrnimmt.

Im Rahmen meiner persönlichen diesjährigen Geocaching-Challenge #52in2025 hatte ich mir ja vorgenommen, keine neuen Rätsel zu lösen, damit sich die Liste der gelösten Mystery-Caches auch tatsächlich mal reduzieren lässt. Von den Literatur-Caches kann ich jedoch trotzdem nicht lassen. Zum Glück kann ich vermelden, dass ich in drei Tagen die 52 geknackt haben werde! (Für in die Vergangenheit geschriebene Blog Posts wie diesen wurde übrigens das Futurum exactum erfunden …) Als erstes Stretch-Goal lege ich ein Vierteljahr drauf, es ist ja erst September. Also schauen wir mal ob wir auf 65 in 2025 kommen werden. Eventuell trägt ja dieser Literatur-Cache auch dazu bei (wenn ich ihn auch bis dato nicht abschließend lösen konnte).

Das Buch hat in mehrerer Hinsicht ein interessantes Format. Das Hardcover ist quadratisch, innen im Umschlag klebt tatsächlich ein echter Bierdeckel, auf dem nochmal der Titel steht. Inhaltlich besteht das Buch aus unzusammenhängenden Geschichten, die aber dann doch Überschneidungen der Protagonist:innen aufweisen. Prosatexte wechseln sich ab mit ungewöhnlichen Formaten wie Staffelbeschreibungen einer fiktiven TV-Krimi-Serie namens Schalko und Pichler. Besonders gelungen fand ich den Teil, der sich mit den Spielen unserer Kindheit und Jugend befasst und was wir im jeweiligen Alter daraus über die Gesellschaft lernen.

Meine Familie, denke ich beim Betrachten der Fotos, ist zusammengeschüttet aus Getränken, die man besser nicht mischen sollte, aber wir trinken alles, was uns in die Hand gedrückt wird.

Eine Grundmelancholie tränkt alle Geschichten, manche gehen jedoch tiefer als andere. Das obige Zitat stammt aus einem Text, der sich mit der komplizierten Beziehung zum eigenen Vater beschäftigt. Die auf schwarz-weiß reduzierten Fotos lassen die abgebildeten Personen nur noch erahnen. Das dient nicht nur der Anonymisierung der abgebildeten Personen, es symbolisiert auch die Undurchschaubarkeit der Vaterfigur.

Auch bricht das herkömmliche Empfinden von Zeit auseinander: in der Sperrzone sammelt sich diese scheinbar endlos an. Gleichzeitig ist Tschernobyl eine überdimensionale Zeitkapsel, in der sich nichts verändert, das Jahr 1986 in Endlosschleife.

Für den Autor und/oder seine Figuren ist Tschernobyl in gewisser Weise ein Sehnsuchtsort. In der Geisterstadt Prypjat ist die Zeit stehen geblieben, es ist ein Ort mitten in Europa, an dem sich die Natur ihren Platz zurückholt. Die Strahlung ist unsichtbar, sie rückt angesichts der besonderen Stimmung dieses Orts in den Hintergrund. Ich kann die Faszination für diesen Ort nachvollziehen, auch wenn ich niemals hinfahren würde.

[…] dass meine Vorstellung von Romantik vielleicht immer schon ein Autounfall war, will ich ihr sagen, sage ich ihr nicht.

Natürlich geht es in vielen Texten um zwischenmenschliche Beziehungen und die daraus entstehenden Komplikationen. Dazu fallen dem Autor auch unzählige Metaphern ein. Die Begegnungszone zwischen zwei Menschen vergleicht er mit einem Chemiebaukasten, der Ich-Erzähler einer Geschichte bezeichnet sich als der blinde Passagier in deinem Leben. Mir persönlich haben die weniger sentimentalen Texte besser gefallen, an originellen Sprachbildern mangelt es jedenfalls nicht, wie auch das folgende Beispiel zeigt:

[…] unsere alten Ichs, die wir wie Bücher in die Regale stellen.

Ein interessantes Werk, zu dem ich ohne den Literatur-Cache vermutlich nicht gefunden hätte.

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Roman

Kurto Wendt – Sie sprechen mit Jean Améry, was kann ich für Sie tun?

CN dieses Buch: Vandalismus
CN dieser Post: –


Auf eben dieses Mittelstück war auch die städtische Hauptbücherei gesetzt worden. Wie ein großes Schlachtschiff der Intellektualität, an der Grenze zwischen bürgerlicher Innenstadt und proletarischer Vorstadt, nicht als Ausschluss, sondern als Vermittlung, so wurde sie wahrgenommen. Auch wenn der sinnliche Eindruck der Ecke klarmachte, dass das Bücherschiff von beiden Seiten nur geduldet war, weil es die Verkehrshölle nicht behinderte.

Der rebellische Frank schlägt sich von einem Gelegenheitsjob zum nächsten durch, hat ein freundschaftliches Verhältnis zu seiner AMS-Beraterin, eine Vorliebe für selbst organisierten Vandalismus verbunden mit einem ausgeprägten moralischen Gewissen. Seine Abneigung gegenüber dem aktuellen aufgebrummten Job im Callcenter eines österreichischen Netzbetreibers legt er um in einen kreativen Umgang mit den Kund:innen, der ihm schließlich zum Sprung in die Platin-Abteilung verhilft. Seine Konversation mit der verehrten Frau Kammersängerin ist ein absolutes Highlight. Dass in der Geschichte eigentlich nicht viel passiert, ist dabei absolute Nebensache. Wie im obigen Zitat angedeutet, beschreibt der Autor mit viel Detailverliebtheit verschiedene Orte in Wien. Auf das im Buch oft besuchte Lokal in Ottakring bin ich schon sehr gespannt.

Randnotiz: Beim Lesen dieses Buchs musste ich sehr an eine bestimmte Person aus meiner Vergangenheit denken. Aus Gründen sind wir nicht mehr in Kontakt, daher kann ich das Buch nicht weiter reichen.

Randnotiz 2: Erst nach dem Posten habe ich bemerkt, dass dies der 900. veröffentlichte Post in diesem Blog ist! 900 Bücher in nicht ganz 15 Jahren.