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English Roman Science Fiction

Adrian Tchaikovsky – Alien Clay

CN: autoritäres Regime, Dystopie, Folter, Gewalt, Tod, Arbeitslager


Das zweite Buch unseres Minibuchclubs aus der Reihe der Hugo Award Nominees (das erste war Calypso).

Sometimes in order to escape the bad place you’re in, you have to go through trauma and hardship. Sometimes letting go of the barbed wire means tearing your skin some more, before you’re free.

Das Buch beginnt mit der Landung des Protagonisten Arton Daghdev auf dem Planeten Kiln, auf dem er als politischer Gefangener in einem Arbeitslager sein Dasein fristen soll. Schnell wird klar, dass die menschliche Welt von einem autoritären Regime beherrscht wird, dass nur The Mandate genannt wird. Als Akademiker war Daghdev auf der Erde Teil einer Widerstandsgruppe, die sich dem Regime entgegenstellte. Dabei störte ihn hauptsächlich die intellektuelle Unehrlichkeit des Regimes, das von der Wissenschaft einfache Antworten auf komplexe Fragen verlangt und Forschungsergebnisse, die nicht in ihr Weltbild passen, gnadenlos unterdrückt.

[…], but it was the intellectual dishonesty of the whole orthodox thing that galled me into action. 

Der Autor zeigt an verschiedensten Beispielen, wie ein oppresives Regime die Menschen unterdrückt. Kontinuierliche Überwachung, Manipulation von Geschehen und Geschichte, niemand kann dem anderen noch trauen, jede:r fragt sich ständig, wer ihn oder sie an das Regime verraten hat. Auch für treue Diener:innen des Systems bietet es keine Sicherheit. Ein bürokratischer Fehler kann genauso zur Verbannung ins Arbeitslager führen wie tatsächliche Revolutionsaktivitäten. Auch der Bias in Algorithmen und künstlichen Intelligenzen, der aktuell so häufig thematisiert wird, wird angesprochen: Wenn du einen Computer so programmierst, dass er etwas Bestimmtes erwartet, dann wird er es auch finden (selbst, wenn es nicht existiert). Dieser Faktor erscheint mir als zentral in der Debatte um Überwachung, die alle paar Jahre immer wieder aufflammt: Selbst wenn du dir nichts zuschulden kommen lässt, kann die Auswertung von Überwachungsdaten etwas finden, das dir dann zum Vorwurf gemacht wird. Anlasslose Massenüberwachung macht die Welt nicht sicherer. Es gibt keine Person, die nichts zu verbergen hat.

A blameless cog in the Mandate’s machine, until a bureaucratic error pointed the wrong finger at him. […] If you program your computers to expect wrongdoing, then they’ll most certainly find it.

Ein weiterer Schwerpunkt liegt auf der speziellen Beschaffenheit der Flora und Fauna auf dem Planeten Kiln. Ziel ist die Erforschung der Ruinen, die eine schriftliche Dokumente enthalten, die jedoch noch nicht entziffert werden konnten. Das Regime erwartet die Lüftung des Geheimnisses der Entstehung dieser Ruinen, es wird nach den Erbauer:innen geforscht. Gefunden wurde bisher jedoch nur eine sehr angriffslustige Biosphäre, von der aufgrund bisheriger Präzedenzfälle angenommen wird, dass sie Menschen in kürzester Zeit tötet oder verrückt macht. Mit den ausführlichen Beschreibungen von Pflanzen und Tieren konnte ich nicht so viel anfangen, irgendwie konnte ich mir die beschriebene Natur nicht bildlich vorstellen.

Bei ungefähr 70 Prozent des Buchs war ich mir vollkommen unsicher, wo die Geschichte noch hinführen könnte. Die Situation von Arton und den anderen Gefangenen wurde ständig hoffnungsloser, ein weiterer Revolutionsversuch scheitert aufgrund von Verrat, Artons Exkursionsgruppe verliert ihr Fluggerät und wird im Dschungel zurückgelassen. Ohne zu spoilern möchte ich sagen, dass mich das Ende sehr überrascht hat. Der Weg dorthin war vielleicht etwas länger als nötig, aber die Auflösung war sehr überraschend.

Weitere Erkenntnisse aus unserer Buchclub-Besprechung trage ich demnächst nach.

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Musical Roman

Manuel Puig – Der Kuss der Spinnenfrau

Seit Jahren hatte ich diesem Roman im Regal stehen, irgendwann gekauft, weil ich ja immer gerne die Basis lese, aus der ein Musical gemacht wurde. Tatsächlich habe ich Der Kuss der Spinnenfrau aber nie auf der Bühne gesehen. Das Stück wurde im Oktober 1992 in London uraufgeführt und schon Ende 1993 fand die deutschsprachige Erstaufführung in Wien statt. Meine Musical-Erfahrung begann jedoch erst 1995 mit Elisabeth.

Die dramatische Geschichte macht dieses Musical eher unattraktiv für Intendanten im deutschsprachigen Raum. Viele Verantwortliche gehen leider nach wie vor davon aus, dass ein Musical unterhalten muss und wenn es schon ein dramatisches Thema sein darf, dann hält man sich an die erfolgreichen Klassiker wie West Side Story oder Anatevka.

Wenn man sich die Zusammenfassung der Spinnenfrau durchliest, fragt man sich unwillkürlich, wie überhaupt jemand darauf kommen kann, dass sich dieses Buch als Basis für ein Musical eignet. Texter Fred Ebb beschreibt es in The Art of the American Musical folgendermaßen:

The fact is there was something about that material that inspired me. I felt that it was really interesting; it was very daring, it was bold, it was essentially terrifically romantic, and it offered a great contrast between the harsh reality of prison and the wonderful fantasy of a man’s imagination.

Fred Ebb, The Art of the American Musical

Zwischen der harschen Gefängniswelt und den farbenfrohen Filmwelten, die Molina in seinen Erzählungen auferstehen lässt entsteht ein scharfer Kontrast, der wiederum auf der Bühne eine Aufteilung in Charaktersongs und große Musicalnummern ermöglicht.

Interessant ist jedoch, dass die Spinnenfrau Aurora, die im Musical das prägende Element ist, im Buch gar nicht vorkommt. Zu Beginn erzählt Molina Valentin einen Film über eine Pantherfrau und erst in einem Dialog gegen Ende des Buches, kurz vor Molinas Entlassung, bezeichnet Valentin Molina selbst als Spinnenfrau. Im Wikipedia-Artikel heißt es, die Handlung weiche nur in wenigen Details von der Romanvorlage ab. Diese Details erscheinen mir jedoch als wesentlich, gerade der unterschiedliche Schluss macht eine ganz andere Geschichte daraus. Molinas Entscheidung, sich Valentins revolutionärer Gruppe anzuschließen (oder eben nicht), prägt die komplette Beziehung der beiden. Von einem Happy End kann man so oder so nicht sprechen. Hoffentlich ergibt sich eine Gelegenheit, das Musical irgendwo in Europa zu sehen, das Buch weckt großes Interesse an der theatralischen Umsetzung.