Jaron Lanier gilt laut Wikipedia als Vater des Begriffs Virtuelle Realität. Von 1984 bis 1990 betrieb er das Unternehmen VPL Research und beschäftigte sich intensiv mit den damaligen Möglichkeiten der Virtual Reality. In diesem Sammelband sind Texte und Interviews von damals bis zur Verleihung des Friedenspreis des Deutschen Buchhandels im Oktober 2014 an ihn vereint. Als Einleitung dient seine Dankesrede zu diesem Anlass, in der er unterschiedliche Punkte anspricht und auch versucht, eine Lanze für das Buch zu brechen (man muss sich nach seinem Publikum richten):
Im Internet gibt es ebenso viele Kommentare über das Internet wie Pornografie und Katzenfotos, aber in Wirklichkeit können nur Medien außerhalb des Internets – insbesondere Bücher – Perspektiven und Synthesen aufzeigen. Das ist einer der Gründe, warum das Internet nicht zur einzigen Plattform der Kommunikation werden darf.
In meinen Augen zeigt sich hier ein Widerspruch: warum sollte das Internet nicht geeignet sein, um Perspektiven und Synthesen aufzuzeigen? Wenn wir zurückgehen in die Zeit vor der weltweiten Verbreitung des Internets und denselben Schluss auf den Buchmarkt anwenden, kommen wir wohl kaum zum selben Ergebnis. Nur Medien außerhalb des Buchs können Perspektiven und Synthesen für das Buch aufzeigen? Wohl kaum. In der Hauptbücherei Wien habe ich zwei Regale gefunden, die nur mit Büchern über Bücher oder Büchern über das Lesen gefüllt sind. Seinem daraus gezogenen Schluss stimme ich wiederum zu: Das Internet sollte nicht die einzige Plattform der Kommunikation werden. Es zeigt sich bereits jetzt, dass Menschen, die nicht auf Facebook sind, den Anschluss an Freundeskreise verlieren, weil Einladungen nur mehr dort ausgesprochen werden und auf Abweichler einfach vergessen wird. Das ist nur ein Anfang der Auswirkungen dieser unberechenbaren gesellschaftlichen Entwicklungen.
Ich glaube, wir wissen heute einfach noch nicht genug, um Lösungen für das langfristige Puzzle Frieden zu finden. Das mag negativ klingen, aber eigentlich ist es eine ganz klar optimistische Aussage, denn ich glaube, dass wir immer mehr über den Frieden lernen.
In derselben Rede kommt Lanier über einige weit geschwungene rhetorische Bögen auch auf das Thema Frieden zu sprechen (Friedenspreis, siehe oben). Er kritisiert das Rudelgefühl, den Frieden unter Clans, da diese Rudel stets in Konkurrenz zueinander stehen und so niemals ein langfristiger Frieden für alle entstehen kann.
In einem Interview aus dem Jahr 1987 hat Lanier gewissermaßen Pokémon Go vorhergesagt, obwohl er sich als Kommunikationsgerät eine Art Sonnenbrille vorstellte. Das Konzept der Datenbrille konnte sich bekanntlich bisher nicht durchsetzen.
In den frühen Versionen wird man die virtuelle Realität nur sehen können, wenn man sich darin befindet. Später wird es raffiniertere Versionen geben, bei denen man virtuelle und reale Objekte miteinander verbinden kann. Man könnte dann eine Zeit lang in einer gemischten Realität leben und würde seine reale Umgebung wahrnehmen, als ob man eine Sonnenbrille tragen würde, hätte aber auch virtuelle Elemente, die in die reale Welt hineingemischt würden.
In einem der Essays macht sich der Autor Gedanken darüber, wie man als Besucher einer virtuellen Welt mit dieser interagieren kann. Er formuliert dabei sehr schön, warum Sprache dafür ungeeignet ist:
Sprache ist sehr beschränkt. Sprache ist ein sehr enger Strom durch die Ebene der Realität. Sie lässt vieles aus. Oder eigentlich lässt sie gar nichts aus, aber sie ist ein Strom aus kleinen, eigenständigen Symbolen, und die Welt besteht aus Kontinuität und Gesten. Sprache kann Dinge über die Welt andeuten, aber kein Gemälde ließe sich je nur mit Worten beschreiben, und so verhält es sich auch mit der Realität.
Dies lässt sich in bemerkenswerter Weise darauf ummünzen, warum unsere heutigen Sprachassistenten wie Siri oder Cortana nur in sehr eingeschränktem Rahmen nützlich sind. Von den Datenschutz- und Überwachungsbedenken möchte ich an dieser Stelle gar nicht erst anfangen. Diese Bedenken vertrat Lanier zwar auch schon im letzten Jahrtausend, allerdings zeigt er sich in vielen Texten davon überzeugt, dass Daten (zum Beispiel über Gewohnheiten von Personen, wie Facebook sie sammelt) zwar verfügbar sein sollten, aber die einzelnen Personen dafür einen Preis festlegen sollen können. Zum Thema Privatsphäre hält er in einem späteren Text fest:
Das Problem mit Gesetzen zum Schutz der Privatsphäre ist, dass sie höchstwahrscheinlich nicht befolgt werden. Die Statistik mit großen Datenmengen ist wie eine Sucht, und Vorschriften zum Schutz der Privatsphäre sind so wirkungsvoll wie Alkohol- oder Drogenverbote.
Diese Behauptung hat sich leider in den vergangenen Jahren immer wieder bestätigt. Das Thema Privatsphäre wird in Wien übrigens im Rahmen der Privacy Week des Chaos Computer Club Wien vom 24. bis 30. Oktober 2016 in vielen Veranstaltungen an unterschiedlichen Standorten von allen Seiten beleuchtet.
Bereits 2003 spricht Lanier in einem Interview darüber, was die Entstehung eines Massenmediums mit der jüngeren Generation anstellt. Die Folgen daraus zeigten sich etwa im Arabischen Frühling 2011 in Ägypten sowie in der türkischen Revolution um den Gezi-Park und den Taksim-Platz 2013.
Wenn sich in einer Gesellschaft zum ersten Mal ein Massenmedium entwickelt, dreht die Propaganda durch. Europa, Japan und Amerika haben diese Entwicklung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vollzogen und dabei zwei Weltkriege ausgetragen. China machte diesen Prozess während der Kulturrevolution durch. Die muslimische und die afrikanische Welt sind gerade mittendrin. Sie erleben derzeit die volle Wucht moderner Propaganda. Die Leute drehen einfach durch, und es dauert eine Generation, bis sie sich daran gewöhnt haben, bis sie desensibilisiert sind. … Darauf kann man nur mit Technologie reagieren. Das ist die einzig erdenkliche Möglichkeit, mehrere Millionen Menschen rasch einzubeziehen und ihnen Bildung zu vermitteln.
Einen interessanten Beitrag zur chinesischen Kulturrevolution gab es kürzlich bei WRINT.
Wenn man Lanier Texte im Zeitverlauf liest, spürt man deutlich, wie auf die hoffnungsfrohen Jahre der Technologieüberzeugung im Ende des letzten Jahrhunderts eine Ernüchterung folgt. Einerseits konnten durch Computer auf einmal viele Menschen neue Dinge tun, allerdings fielen unzählige Arbeitsplätze weg. Speziell die Musikindustrie hat einen deutlichen Umbruch erlebt, die Buchindustrie befindet sich jetzt noch darin. Großkonzerne kontrollieren unsere Daten und generieren daraus Milliardengewinne. Und doch hat uns die künstliche Intelligenz noch lange nicht unterworfen und jeden Tag geht die Sonne auf. Das digitale Zeitalter wird uns auch weiterhin mit Veränderungen und Herausforderungen konfrontieren, die jede Entwicklung mit sich bringt.