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Angela Lehner – Vater unser

CN dieses Buch: Suizid, Körperfunktionen und -flüssigkeiten, Essstörung, sexueller Missbrauch von Kindern, sexuelle Handlungen
CN dieser Post: Erwähnung eines Mahnmals über Missbrauch, Folter und Ermordung von Kindern und Jugendlichen (in der Realität, nicht im Roman)


Vor dem Mahnmal steht eine Tafel, die über ein Ereignis informiert, von dem in Österreich alle wissen, an das wir uns aber nicht gern erinnern. Wir Opfer haben eben ein schlechtes Gedächtnis, wir können nichts dafür.

Dieses Buch habe ich wie so viele in letzter Zeit aus den literarischen Geocaches heraus gefischt. Es ist ein sehr interessanter Roman, der eine Protagonistin zeigt, die als Ich-Erzählerin zu Anfang und auch später immer wieder sehr glaubhaft und kompetent wirkt. Stück für Stück stellt sich jedoch heraus, dass wir Leser:innen ihr nicht wirklich vertrauen können. Ich fühlte mich an ein Buch erinnert, das ich kürzlich gelesen habe, das auch eine Protagonistin zeigt, deren Verwirrung sich erst im Verlauf der Geschichte enthüllt.

Schauplatz ist zu einem großen Teil das Wiener Otto-Wagner-Spital, das auf eine wechselhafte Geschichte zurück blickt. Das obige Zitat bezieht sich auf die Zeit des Nationalsozialismus, in der auf dem Gelände die Jugendfürsorgeanstalt »Am Spiegelgrund« eingerichtet war. Unter dem Deckmantel der Nervenheilanstalt wurden „kranke, behinderte und „nicht erziehbare“ Kinder und Jugendliche medizinischen Versuchen ausgesetzt“, gequält und auch ermordet. Daran erinnern die 772 Licht-Stelen des Mahnmals für die Opfer vom Spiegelgrund.

Ein Mensch, der weiß, dass weniger okay wäre, aber mehr macht, wurde an irgendeinem Punkt im Leben zum Optimum erzogen. Da hat jemand von diesem Menschen das maximal Richtige verlangt. Das Richtigste sozusagen. Daran hat sich der Mensch gewöhnt.

Das Buch hat mich sehr nachdenklich gemacht, da die Protagonistin teilweise sehr gezielt die Tiefen der menschlichen Persönlichkeit auslotet. Viele ihrer „Diagnosen“ klingen schlüssig und erwecken erfolgreich den Eindruck, dass sie eigentlich ihrer Umwelt geistig voraus ist. Wie sich dieser Eindruck mehr und mehr auflöst, und doch immer wieder Zweifel aufkommen an der Wahrheit ihrer Wahrnehmungen der Aussagen und Handlungen anderer, fand ich mitreißend und sehr gelungen.