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Jeanette Winterson – Art Objects. Essays on Ecstasy and Effrontery

CN dieses Buch: Erwähnung von suizidalen Gedanken und Suizid, Andeutung von sexuellen Handlungen
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Dieses Buch habe ich bei Shakespeare and Sons in Berlin gefunden. Die Kombination der Autorinnenschaft von Jeanette Winterson (ich habe von ihr bereits Why Be Happy When You Could Be Normal? und Frankisstein gelesen) und des Buchtitels hat mich sofort zugreifen lassen. Später musste ich feststellen, dass mich das Lesen dieser Texte ganz schön herausforderte. Insgesamt drei Anläufe hat es gebraucht, bis ich einmal bis zum Ende gekommen bin und einen weiteren Durchgang bis ich auch tatsächlich in der Lage war, etwas darüber zu schreiben.

Im ersten Text leitet sie her, wie sie begonnen hat, sich mit visueller Kunst zu beschäftigen. Als Autorin waren ihr Worte, Sätze und Geschichten nicht fremd, mit Bildern jedoch wusste sie nichts anzufangen. Dieses Fehlen der Auseinandersetzung mit visueller Kunst bildet den Ausgangspunkt für ein Hinterfragen der Kunst an sich, der Gemeinsamkeiten unterschiedlicher Arten von Kunst, dem Unterschied zwischen Kunst und Medien, den Voraussetzungen für das Entstehen von Kunst und vielen anderen Fragen rund um dieses Thema …

Struggling against the limitations we place upon our minds is our own imaginative capacity, a recognition of an inner life often at odds with the external figurings we spend so much energy supporting. When we let ourselves respond to poetry, to music, to pictures, we are clearing a space where new stories can root, in effect we are clearing a space for new stories about ourselves.

Ein Kapitel beschäftigt sich mit dem, was in entsprechenden Kreisen als literarischer Kanon (Kanon der Literatur auf Wikipedia) bezeichnet wird: Werke und Autor:innen, die scheinbar außerhalb jeden Zweifels stehen, deren künstlerischer Wert unbestritten ist; ein edler Kreis, in den nur die scheinbar Besten aufgenommen werden. Selbstverständlich war dies lange ein Kreis, der ausschließlich männlichen Personen vorbehalten war. Virginia Woolf argumentierte dahingehend, dass Frauen ihre Kreativität mehr ausleben könnten, wenn sie zumindest einen Teil der Privilegien genießen würden, die in dieser Epoche männlichen Personen vorbehalten waren:

Hox is a racing word: it means to hamstring a horse not so brutally that she can’t walk but cleverly so that she can’t run. Society hoxes women and pretends that God, Nature or the genepool designed them lame.

Ein Text befasst sich mit Büchern als Sammlerstücke. Signierte Erstausgaben nehmen hier einen besonderen Stellenwert ein, den ich nicht ganz nachvollziehen kann. Die Argumentation, ein antikes Buch kaufen zu wollen, damit es nicht im Glaskasten einer Ausstellung landet, ist mir ebenfalls unverständlich. Mir haben die Glaskästen voller Bücher im abgedunkelten und temperierten Untergeschoss der British Library sehr gefallen.

Blick in den Ausstellungsraum der Sir John Ritblat Gallery, gedämpftes Licht, schwarze Kästen, die mir Glas verkleidet sind, in diesen befinden sich wertvolle alte Bücher
Blick in den Ausstellungsraum der Sir John Ritblat Gallery in der British Library in London

Never lie. Never say that something has moved you if you are still in the same place. You can pick up a book but a book can throw you across the room. A book can move you from a comfortable armchair to a rocky place where the sea is. A book can separate you from your husband, your wife, your children, all that you are. It can heal you out of a lifetime of pain. Books are kinetic, and like all huge forces, need to be handled with care.

Als sich als lesbisch identifizierende Autorin kritisiert Jeanette Winterson auch die Tatsache, dass sexuelle Orientierungen in Bewertungen von künstlerischen Werken herangezogen werden. Sinngemäß schreibt sie: warum werde ich als lesbische Autorin wahr genommen? Warum nicht als Lesbe, die schreibt? Sie kritisiert dabei die Wertigkeit, die dem (zugewiesenen) Geschlecht und der sexuellen Orientierung beigemessen wird. Denn eigentlich sollte die Kunst unabhängig von diesen Attributen gesehen und bewertet werden.

Die wichtigste Aussage für mich in diesem Buch ist folgender Komplex:

Art is the realisation of complex emotion. […] Complex emotion often follows some major event in our lives; sex, falling in love, birth, death, are the commonest and in each of these potencies are strong taboos. The striking loneliness of the individual when confronted with these large happenings that we all share, is a loneliness of displacement. […] Art offers the challenge we desire but also the shape we need when our own world seems most shapeless. The formal beauty of art is threat and relief to the formless neutrality of unrealised life.

Für mich ergibt sich daraus einerseits, dass künstlerische Werke oft aus lebensverändernden Zuständen entstehen. Gleichzeitig kann uns die Rezeption von künstlerischen Werken aber auch helfen, diese lebensverändernden Zustände anzunehmen. Kunst kann uns herausfordern, kann uns Erfahrungen aufzeigen, die wir selbst nicht gemacht haben oder nicht machen können. Sie kann unsere Perspektiven erweitern und uns aber auch Trost spenden in den Momenten, in denen wir uns zutiefst allein fühlen. Sie kann uns zeigen, dass andere Menschen Ähnliches erlebt oder gefühlt haben; sie kann uns aber auch Einblicke ermöglichen in Lebensbereiche, die uns aus dem einen oder anderen Grund immer verschlossen bleiben werden.