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Sachbuch

Thomas Birus – Was macht die Tiefkühlpizza knusprig?

CN: Essen aller Art, Industrie, Kapitalismus


Dieses Buch hab ich vor einigen Jahren bei einem sommerlichen Besuch im nordwestlichen Niederösterreich bei einem Flohmarkt aufgegriffen. Der Titel hat mich einfach gepackt (vielleicht war ich auch hungrig …). Der Untertitel „Die wundersamen Zutaten der modernen Küche“ gibt einen deutlichen Hinweis auf die Inhalte des Buchs, was sich jedoch erst Seite für Seite erschließt.

Ernährungsinformationen aus einem 26 Jahre alten Buch (Veröffentlichung der Erstausgabe 1999) sind sowieso nur mit Vorsicht zu genießen.1 Erschwerend kommt für mich hinzu, dass der Autor zwar oft nationale oder internationale Organisationen (zB Deutsche Gesellschaft für Ernährung oder die von WHO und FAO gegründete Codex Alimentarius Commission), Medien (zB Handelsblatt), Gesetzestexte (zB das deutsche Lebensmittel- und Bedarfsgegenständegesetz [LMBG], heute Lebensmittel-, Bedarfsgegenstände- und Futtermittelgesetzbuch) oder Personen aus Handel und Industrie direkt oder indirekt zitiert, nachprüfbare Quellenangaben jedoch weitläufig fehlen. Genau genommen fehlen sie nicht direkt, es gibt ein Quellenverzeichnis im Anhang, nur ist leider nicht nachvollziehbar, welche Informationen welcher Quelle zuzuordnen sind.

Das Buch spart nicht mit Kapitalismuskritik und lässt auch an den regulatorischen Vorschriften der Europäischen Union und den Aktivitäten der Lobbyist:innen kein gutes Haar. Allerdings bleibt unausgesprochen, dass die im Buch gegebenen Ernährungsempfehlungen selbst für Menschen, die in „Wohlstandsländern“ leben, oft gar nicht umsetzbar sind. Das zeigt sich schon daran, dass an einer Stelle empfohlen wird, den Konsum von tierischem Eiweiß auf ein bis zwei Mal die Woche zu beschränken; an anderer Stelle wird angegeben, dass es sinnvoll sei, zwei Mal die Woche Seefisch zu essen, um den Jodbedarf zu decken. Dass Menschen in armen Binnenländern wohl kaum zwei Mal die Woche Seefisch essen können, wird nicht thematisiert.

Herzlich lachen musste ich bei diesem Zitat, wo es darum geht, dass der Import eines Johannisbeerlikörs verboten werden sollte, weil er zu wenig (!) Alkoholgehalt hatte. Es gewann jedoch die Argumentation einer großen Lebensmittelkette, die mit der „Wahlfreiheit des Verbrauchers“ argumentierte (ausführlich bei Wikipedia unter Cassis-de-Dijon-Entscheidung):

Der Europäische Gerichtshof in Den Haag folgte dieser Auffassung und verwies darauf, dass alkoholärmere Spirituosen tendenziell besser für die Volksgesundheit seien. Genießer könnten nun ein Originalprodukt mit weniger Alkoholgehalt zu sich nehmen.

Interessant fand ich etwa die (formulierte) Unterscheidung zwischen natürlichen, naturidentischen und künstlichen Aromen:

Natürliche Aromastoffe werden durch physikalische (Destillation, Extraktion) oder enzymatische bzw. mikrobiologische Verfahren (Fermentation) produziert. Ausgangsstoffe müssen vom Menschen verzehrbare Waren sein.

Naturidentische Aromastoffe hingegen werden durch chemische Verfahren gewonnen. Sie sind von der Formel her identisch mit ihren natürlichen Vorläufern. […]

[Bei künstlichen Aromastoffen] handelt [es] sich um Substanzen, welche eine Geschmacksverbesserung bewirken, die aber nicht Bestandteil von Lebensmitteln sind.

Manche Informationen sind natürlich offensichtlich überholt (das Kapitel über Gentechnik habe ich übersprungen, da habe ich neuere und bessere Informationen aus anderen Quellen), andere zeigen, dass sich die Welt nicht so schnell verändert, wie wir oft denken oder fühlen. Monsanto hat schon in den 1990er-Jahren versprochen angekündigt, durch genmodifiziertes Saatgut den Herbizid-Verbrauch des bis heute umstrittenen Glyphosats zu reduzieren. Ein Verbot innerhalb der EU wurde jedoch bis heute nicht umgesetzt.

Natürlich erscheint uns das vermehrte Auftauchen des Begriffes »natürlich« ein wenig übernatürlich. Aber das liegt natürlicherweise wohl in der Natur der Sache. Die Umschreibung »traditionelles Produkt«, hergestellt »mit modernen Mitteln«, ist jedenfalls ein brillanter dialektischer Kunst- (bzw. Natur-)griff.

Achtung Spoiler: Im nächsten Absatz folgt die Auflösung der Titelfrage.

Also was macht die Tiefkühlpizza knusprig?2

Backmittel sorgen für die jahrein, jahraus gleichmäßige Teigherstellung. Emulgator-Backmittel aus Lecithin, Mono- und Diglyceriden, Glycolipide, Phospholipide oder Diacetylweinsäureester machen die Pizza tiefkühlsicher und mikrowellenbereit. […] Die Pizzasauce erhält ihre kälte- und hitzestabile, sämige Konsistenz durch modifizierte Stärke.

#12in2025: 4/12

  1. Leider kann ich nicht versprechen, mir weitere Plattitüden zu verkneifen. ↩︎
  2. Der Autor gibt übrigens im abschließenden Satz zur Tiefkühlpizza zu, dass sie ihm trotz Kenntnis der vielen Ergänzungsstoffe trotzdem schmeckt. ↩︎