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Roman

Linda Stift – Kein einziger Tag

Kirnu Linnanmaki Helsinki

Irgendetwas tauchte in meinem Gedächtnis auf wie ein altes Wrackteil, das sich plötzlich aus dem Meer erhebt. Eine Leerstelle. Etwas, das nicht stattgefunden hatte, etwas, das versäumt worden war. Jenny! … Das hatte ich nicht getan. Ich hatte sie praktisch versetzt. Ich hatte sie noch nie versetzt. Mir lief es kalt über den Rücken.

Linda Stift hat nicht davor zurückgescheut, tief in die Psyche ihrer Protagonisten einzutauchen. Jede Menge Konfliktstoff bietet die Beziehung zwischen den Brüdern Paco und Paul. Als siamesische Zwillinge geboren würden sie erst nach mehreren gemeinsamen Lebensjahren getrennt. Zur Freude von Paul, zum Ärger von Paco. Genau wie die Eltern empfinden auch die beiden Buben komplett konträr über die Trennung. Für Paul ist die körperliche Trennung von seinem Bruder die Befreiung und der wichtige Schritt in ein eigenes Leben. Paco hingegen sucht sein Leben lang Bestätigung und die Nähe zu seinem Bruder.

Paco schleicht sich in Pauls Leben ein. Da die Geschichte aus Pauls Sicht erzählt wird, empfindet der Leser den dominanten Paco als Eindringling, jeder würde sich wohl gestört und genervt fühlen, wenn ein Familienmitglied von einem Tag auf den anderen in die eigene Wohnung eindringt und den Lebensraum Stück für Stück annektiert. Und auch Pauls Freundin Jenny scheint in Paco schließlich den besseren Bruder zu sehen, wenn auch der Schein der intakten Beziehung stets gewahrt bleibt.

Als Nebenschauplatz existiert das „Tier“, das Paul im Keller seines Geschäfts hält. Ein verzweifelter Versuch, da er sein eigenes Leben nicht unter Kontrolle hat, irgendetwas zu kontrollieren. Seine Überlegungen, was dem „Tier“ geschehen könnte, sollte ihm etwas zustoßen und er nicht mehr in den Keller gehen können, zeigen einerseits eine gewisse Verbundenheit, andererseits muss der Leser zusehends an Pauls geistiger Gesundheit zweifeln. Vielleicht ist nicht Paco der gestörte Bruder?

Der abschließende Knalleffekt kommt überraschend und ist so undenkbar, dass einem die Vorstellung kalte Schauer über den Rücken jagt und man beim Zuklappen des Buches einen verstörten Gesichtsausdruck trägt. Empfehlung.